Kristallpalast in 170 Tagen: Forscher lösen Rätsel seines rasanten Baus
Am 1. Mai 1851 sollte in London, England, die erste Weltausstellung eröffnet werden. Doch um 14.000 Aussteller aus aller Welt zu empfangen, ihnen Raum zur Präsentation ihrer Erfindungen zu geben und Gästen einen trockenen Besuch zu ermöglichen, brauchte man ein großes und ansehnliches Gebäude. Ein Gebäude, das es so nicht gab.
233 Entwürfe von Architekten aus den Niederlanden, Belgien, Deutschland, der Schweiz, Frankreich und sogar aus Australien gingen ein. Keiner davon konnte die hohen, teils außergewöhnlichen Anforderungen des Komitees erfüllen: günstig, binnen eines Jahres zu errichten, wieder abbaubar und ohne Bäume zu fällen.
Erst ein Botaniker aus Bedfordshire konnte das nahezu Unmögliche tatsächlich wahr werden lassen. Was als grobes Gekritzel auf einem rosafarbenen Löschpapier begann, wurde zum größten gläsernen Gebäude, das jemals existierte.
Vom Gärtner zum Ritter
Mann der Stunde war Joseph Paxton (1803–1865), der Chefgärtner des Herzogs von Devonshire. Mit seinen fast 50 Jahren hatte er sich bereits einen Namen als Gartengestalter und Konstrukteur von Gewächshäusern gemacht. Für Henry Cole, Mitglied des Weltausstellungskomitees, war Paxton die einzige und letzte Chance, dass die Ausstellung in elf Monaten stattfinden konnte.
Bei einem gemeinsamen Treffen konnte Cole den Botaniker schließlich für das Projekt begeistern. Noch während einer Vorstandssitzung fertigte Paxton seine erste Skizze auf einem Löschpapier an, das heute noch im Victoria and Albert Museum in London zu sehen ist.
Binnen zwei Wochen hatte Paxton detaillierte Baupläne, statische Berechnungen und Kostenvoranschläge ausgearbeitet und reichte sie beim Komitee ein. Der Entwurf versetzte die Mitglieder ins Staunen: So erfüllte er nicht nur alle Anforderungen, sondern unterschritt sogar das Budget von 100.000 Pfund (heute mehr als 100 Millionen Euro).
Als Joseph Paxton den Auftrag erhielt, hatte er nur noch acht Monate Zeit, bis das Gebäude im Hyde Park fertig sein musste. Und er schaffte es: Die erste Weltausstellung fand in einem 563 mal 139 Meter großen und 41 Meter hohen Glasgebäude – dem sogenannten Kristallpalast – statt. Zum Dank wurde er von der britischen Königin Victoria zum Ritter geschlagen.
Kristallpalast a lá Lego
Der Bau und die schnelle Fertigstellung des Gebäudes in 39 Wochen war dank der Industriellen Revolution und ihrer zahlreichen technischen Neuerungen – unter anderem in der Eisenproduktion – möglich. Hinzu kommt die von Paxton entwickelte Modulbauweise, bei der vorgefertigte und genormte Bauteile einfach, praktisch und schnell verbaut werden konnten – ähnlich wie bei Lego.
Statt Bausteinchen aus Plastik verbauten mehr als 5.000 Seemänner rund 4.000 Tonnen Eisen, 17.000 Kubikmeter Holz und 83.600 Quadratmeter Glas. Diese bildeten 3.300 gusseiserne Säulen, 330 Kilometer Rahmenkonstruktion mit 60.000 Glasscheiben, knapp 50 Kilometer Dachrinnen und die gesamte Dachkonstruktion. Mauerwerk aus Ziegeln oder Beton war nicht notwendig.
Alle Module hatten eine bestimmte Größe, waren vollständig vorgefertigt, selbsttragend und so stabil, dass sie übereinandergestapelt werden konnten. Dies reduzierte nicht nur die Baukosten, sondern auch die benötigte Zeit für ihren Einbau. Die Teile konnten so schnell verbaut werden, wie sie auf der Baustelle eintrafen, sodass 80 Männer in einer Woche mehr als 18.000 Glasscheiben montierten. Außerdem erfüllten Teile mitunter mehrere Funktionen, was die Anzahl der unterschiedlichen Teile überschaubarer und die Kosten niedriger machte.
Kürzlich entdeckten Forscher um Professor John Gardner von der Anglia Ruskin University, dass sogar die Schrauben genormt waren. Genauer gesagt wurde hier das Whitworth-Gewinde verwendet, das sich später als „British Standard Whitworth“ etablierte – die erste Gewindenorm der Welt.
Was heute selbstverständlich ist, war für die damalige Bauwelt ein Meilenstein. Wo früher eine Schraube keiner zweiten glich, waren im Kristallpalast insgesamt 30.000 identische Schrauben und Muttern verbaut. Für die Forscher ist dies die Lösung zum Geheimnis, wie der Kristallpalast in nur 190 Tagen errichtet werden konnte.
Damenröcke ersetzen Kehrmaschine
Um dem Millionenpublikum den Besuch so angenehm wie möglich zu bereiten, kamen auch im Kristallpalast einige technische Raffinessen und Neuheiten zum Einsatz. Um zu verhindern, dass sich der Kristallpalast in ein tropisches Gewächshaus verwandelte, spendeten außenliegende Segeltücher Schatten. Zudem ermöglichten Klappen mit Getriebesteuerung, dass verbrauchte Luft entweichen und frische Luft einströmen konnte.
Der hölzerne Fußboden war zudem wie ein Gitter angelegt und wies kleine Lücken auf. Auf diese Weise konnte Schmutz im Laufe des Tages durchfallen und später vom Reinigungspersonal entfernt werden.
Weiterhin entwarf Joseph Paxton im Vorfeld auch Kehrmaschinen zur Säuberung. In der Praxis stellte sich jedoch bald heraus, dass die Röcke der Besucherinnen diese Arbeit bereits übernahmen. Ebenfalls eine Neuheit war die erste große öffentliche Toilette mit Wasserspülung.
Da der Kristallpalast vollständig aus Glas war – sowohl seine Wände als auch sein Dach –, brauchte man tagsüber keine künstliche Beleuchtung, was zusätzlich Geld sparte. Die Besucher konnten die Exponate, darunter Diamanten, Porzellan, Musikorgeln, eine riesige hydraulische Presse und ein Feuerwehrauto, bei Tageslicht bewundern.
Wer im Glaspalast sitzt, sollte nicht auf Spatzen schießen
Während der größte Teil des Gebäudes ein Flachdach besaß, war das zentrale Querschiff dagegen mit einem 22 Meter breiten Tonnengewölbe bedeckt, das eine Innenhöhe von 51 Metern ermöglichte. In diesem Bereich standen neben einem acht Meter hohen Kristallbrunnen auch echte Bäume. Die Ulmen waren bereits vor dem Bau Teil des Parks und wurden von Joseph Paxton einfach in die Planung integriert, sodass sie nicht gefällt werden mussten.
Die Bäume brachten aber auch ungeladene Gäste mit sich: So waren die Ulmen das Zuhause unzähliger Spatzen und ihr Kot nicht gern gesehen. Doch wie wurde man diese Vögel los? Schießen kam in einem Glasgebäude nicht infrage. Völlig ratlos soll sich Victoria von England an den Herzog von Wellington gewandt haben, der seiner Königlichen Hoheit eine einfache Lösung anbot: „Sperber, Ma’am“. Ob der Greifvogel erfolgreich war, ist nicht bekannt.
Dagegen war die erste Weltausstellung in London sicher ein Erfolg. Nach ihrem Ende wurde der Palast abgebaut und an einer neuen Stelle – Sydenham Hill im Süden Londons – und in anderer Form wieder aufgebaut. Der neue Kristallpalast hatte schließlich eine Länge von 490 Metern und eine Breite von 117 Metern.
In der Folgezeit war der Kristallpalast nicht nur ein Museum, sondern auch Schauplatz zahlreicher Konzerte und Sportereignisse. So spielten hier große Orchester mit knapp 4.000 Musikern, die um eine große Orgel mit 4.500 Pfeifen herum aufgebaut waren. Außerdem gab es einen Konzertsaal mit über 4.000 Plätzen, in dem viele Jahre lang die Händel-Festspiele stattfanden.
Auch der umliegende Park des Palastes war mit Springbrunnen, einem großen Labyrinth, einem Englischen Garten, Statuen und 33 lebensgroßen Modellen von neu entdeckten Dinosauriern und anderen ausgestorbenen Tieren ausgestattet.
Scherbenhaufen statt Kristallpalast
Ab den 1890er-Jahren verlor das Gebäude jedoch an Beliebtheit – niemand wollte mehr den abgenutzten Kristallpalast sehen. Geld für Instandhaltung gab es nicht. An diesem Punkt kam der Earl of Plymouth ins Spiel, der den Bau kaufte und vor der Zerstörung bewahrte.
Zusammen mit Sir Henry Buckland bemühte er sich in den 1920er-Jahren um eine Restaurierung, damit das verkommene Gebäude etwas von seinem alten Glanz zurückbekam. Mit Erfolg: Das aufpolierte Antlitz des Kristallpalastes fiel auch den Engländern ins Auge und zog wieder zahlreiche Besucher an.
Im November 1936 erlosch der Glanz jedoch für immer, nachdem eine Explosion – vermutlich in der Damentoilette – einen Großbrand verursacht hatte. 89 Löschfahrzeuge und mehr als 400 Feuerwehrleute konnten den Kristallpalast nicht retten. Ein Wiederaufbau war unmöglich, da es keine Versicherung gab, die die enormen Kosten hätte decken können.
„In wenigen Stunden haben wir das Ende des Kristallpalastes erlebt. Dennoch wird er nicht nur den Engländern, sondern der ganzen Welt in Erinnerung bleiben“, war sich Buckland sicher.
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