Studie: Auch Meereswürmer haben ein Zeitgefühl – aber nur manche nutzen es
Es gibt weitaus schillerndere „tierische Persönlichkeiten“ als Platynereis dumerilii, einen nur wenige Zentimeter langen Borstenwurm. Doch ein beeindruckendes Äußeres war nicht das vorrangige Ziel. Vielmehr interessierten die inneren Werte der weltweit in gemäßigten bis tropischen Küstengewässern verbreiteten Meereswürmer.
Konkret ging es den Forschern um Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible und Dr. Sören Häfker vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), um die inneren Uhren, die den Tagesrhythmus vieler Organismen steuern. Gemeinsam mit Kollegen der Max Perutz Labs in Wien, der Universitäten in Wien und Oldenburg sowie Leuven, Belgien, veröffentlichten sie ihre Ergebnisse am 11. April in der Fachzeitschrift „PLOS Biology“. Ihr Fazit:
Selbst einfache Meeresbewohner führen ihr tägliches Leben nach ihrem ganz individuellen Rhythmus. Diese Vielfalt sei nicht nur für die Zukunft von Arten und Populationen in einer sich verändernden Umwelt interessant, sondern auch für die Medizin.
Lebensbedrohliche Zeitumstellung
„Biologisches Timing ist auf verschiedenen Ebenen wichtig“, erklärt Kristin Tessmar-Raible, Biologin am AWI. „Die ökologischen Beziehungen zwischen Arten hängen ebenso davon ab wie die biochemischen Prozesse in den Zellen.“ Wie aber reagieren die inneren Taktgeber auf Veränderungen der Umwelt, beispielsweise wenn durch künstliche Beleuchtung die Nacht zum Tag wird? Sören Häfker, Hauptautor der Studie, ergänzte:
Bei Meeresbewohnern weiß man darüber bisher nur sehr wenig.“
Dabei spielen Rhythmen gerade in deren Leben eine besonders wichtige Rolle: Temperaturen, Lichtverhältnisse, Nährstoffangebot und eine Vielzahl weiterer Faktoren verändern sich im Laufe des Tages und die Tiere müssen darauf entsprechend reagieren. Sie passen ihr Verhalten, ihren Stoffwechsel und ihre Genaktivitäten an diese äußeren Rhythmen an.
Wenn die innere Uhr nicht mit der Umwelt in Einklang steht, kann das für Menschen gesundheitliche Auswirkungen haben. Für Meeresbewohner kann es indes zu einem Überlebensproblem werden. „Wir müssten deshalb viel besser verstehen, wie sich die Rhythmen des Meeres verändern und was das für die einzelnen Organismen und ihre Populationen bedeutet“, betont Häfker.
Das allein sei Grund genug, das tägliche Verhalten von Platynereis dumerilii genauer unter die Lupe zu nehmen. Für die Chronobiologie, die sich mit den inneren Uhren von Lebewesen beschäftigt, ist der entfernte Verwandte der Regenwürmer jedoch auch zu einem wichtigen Modelltier geworden.
Rebellische Jugend der Meereswürmer
Schon bei früheren Untersuchungen war den Forschern aufgefallen, dass junge Meereswürmer ganz unterschiedlichen Tagesrhythmen folgen. Bei Menschen ist das ein bekanntes Phänomen: Aus einer früh aufstehenden „Lerche“ wird meist keine nachtaktive „Eule“ und umgekehrt.
Wie aber ist das bei den Meereswürmern? Handelt es sich bei den Unterschieden in ihrem Verhalten nur um eine zufällige Schwankung oder haben auch sie ihren persönlichen Takt? Um das herauszufinden, hat die Gruppe systematisch die täglichen Aktivitäten der Tiere bei Neumond beobachtet. Dabei hat sich herausgestellt, dass manche Individuen jede Nacht sehr pünktlich zur gleichen Zeit herumkrabbeln. Andere dagegen sind arrhythmische „Couch-Potatoes“, die nur unregelmäßige Ausflüge machen.
Neben diesen Extremfällen gibt es noch allerlei Zwischenformen. Wenn man die gleichen Würmer Wochen später noch einmal analysiert, zeigen sie jedoch wieder sehr ähnliche Verhaltensweisen: „Couch-Potato“ bleibt „Couch-Potato“, so die Forscher.
Diese Reproduzierbarkeit von individuellen Verhaltensrhythmen hat uns sehr überrascht“, sagt Kristin Tessmar-Raible. „Selbst Würmer sind also sozusagen kleine rhythmische Persönlichkeiten.“
Zu faul, um pünktlich zu sein?
Um mehr über die Verhaltensunterschiede herauszufinden, hat die Gruppe systematisch die Genaktivität in den Köpfen von Würmern mit besonders rhythmischem und arrhythmischem Verhalten verglichen. Überraschenderweise funktionierte die innere tägliche Uhr selbst bei arrhythmischen „Couch-Potatos“ einwandfrei und die Zahl der Gene mit rhythmischer Aktivität war praktisch genauso hoch wie bei den „pünktlichen“ Würmern.
Die Vielfalt an unterschiedlichen Strategien könnte für die Tiere indes ein Vorteil sein, vermuten die Forscher. Schließlich leben die Küstenbewohner in einer Umgebung mit sehr abwechslungsreichen Lebensbedingungen. Da könne an einer Stelle der eine und nicht weit davon ein anderer Lebensstil erfolgreich sein. Im größeren Kontext erhöhe die Vielfalt auch die Chance, dass zumindest einige Würmer mit Veränderungen ihre Umwelt zurechtkommen.
Doch nicht nur über die Rhythmen im Meer liefert die Studie neue Erkenntnisse. Sie zeigt auch, dass die innere Uhr eines Lebewesens sich nicht unbedingt in seinem Verhalten widerspiegelt.
Auch bei den Couch-Potato-Würmern folge die Genaktivitäten durchaus einem täglichen Rhythmus, der von außen nicht erkennbar ist. Das aber gilt wahrscheinlich nicht nur für Würmer, sondern auch für Menschen. „Spannend sind solche Erkenntnisse deshalb auch für die sogenannte Chronomedizin“, sagt Kristin Tessmar-Raible. Wenn Würmer schon solche Individualisten seien, dürfte unsere eigene Art kaum zurückstehen.
(Mit Material des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung)
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