Am 3. Juni 2022 – rund 100 Tage nach Beginn der Invasion russischer Truppen in die Ukraine – zog Moskau ein
positives Zwischenfazit: Bestimmte Ziele seien erreicht worden. FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte die Bundesregierung kurz danach auf, nun auch die
Lieferung spanischer „Leopard“-Panzer aus deutscher Produktion sehr schnell zu genehmigen.
Am 11. Juni kündigt die Luftwaffe an, bis 2026 nun 35 moderne Kampfflugzeuge nahe der Mosel
stationieren zu wollen. Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine könne sich wegen massiver Probleme
noch Monate hinziehen: Lediglich 30 Gepard-Luftabwehrpanzer und Panzerhaubitzen könnten Kiew im Sommer zur Verfügung stehen.
Scholz: „Kein Diktatfrieden nach Putins Gnaden“
Am 13. Juni versicherte Ursula von der Leyen der Ukraine ihre
Unterstützung beim EU-Beitritt. Mitte Juni erklärte auch Kanzler Scholz bei einem Kiew-Besuch, dass die Ukraine zur
„europäischen Familie“ gehöre. Er werde die Ukraine unterstützen, solange es nötig sei. Es werde „keinen Diktatfrieden geben können nach Putins Gnaden“,
versprach Scholz.
Die Kosten für die bisherigen Waffenlieferungen beliefen sich inzwischen auf
350 Millionen Euro. Kremlsprecher
Dmitri Peskow erklärte in einem MSNBC-Interview, dem Westen „nie wieder vertrauen“ zu können.
Am 22. Juni warnte die SPD-Abgeordnete Nina Scheer davor, dass das von Deutschland, Frankreich und Spanien getragene
FCAS-Projekt für einen modernen Kampfjet „sicherheitstechnisch verfehlt und damit ein Milliardengrab“ werden könnte. Einen Tag später forderte Kanzler Scholz ein
Wiederaufbauprogramm für die Ukraine nach dem Krieg.
NATO stellt sich neu auf
15.000 Soldaten, 65 Flugzeuge, 20 Schiffe: Laut NATO-Gipfel vom 29. Juni soll die Bundeswehr eilig und in großer Zahl kampfbereite Truppen für die NATO stellen – zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Für Verteidigungsministerin Lambrecht große
Herausforderungen. Polen sollte nach dem Willen der USA das ständige
Armeehauptquartier beherbergen. Wladimir Putin warnte vor
neuen Spannungen und warf der NATO „imperiale Ambitionen“ vor. Anfang Juli forderten deutsche Prominente, Publizisten und Wissenschaftler den Westen auf, sich um eine
Verhandlungslösung zum Waffenstillstand zu bemühen.
Am 9. Juli kündigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selinskyj die
Abberufung seines Botschafters Andrij Melnyk aus Berlin an – keine Überraschung nach all den Angriffen gegen den Verbündeten Deutschland. Tags darauf verkündete die Bundesregierung einen
Erfolg in Sachen Material: Norwegen wäre in der Lage, dringend benötigte Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard zu produzieren.
Am 28. Juli genehmigte die Bundesregierung den Verkauf von weiteren
100 Panzerhaubitzen an die Ukraine. Die ersten gelieferten Exemplare wiesen nach vier Wochen im Gebrauch bereits deutliche
Verschleißerscheinungen auf. Mitte August waren offenbar nur noch fünf von 15 Panzerhaubitzen
einsatzbereit.
Ampel-Umfragewerte im Keller
Kurz darauf fuhr die Ampel-Regierung die schlechtesten
Beliebtheitswerte seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2021 ein.
Manche Koalitionspolitiker waren bereit, für die Ukraine eine
Schwächung der Bundeswehr in Kauf zu nehmen. Das lehnte das Bundesverteidigungsministerium jedoch ab. Inzwischen hatten eine
knappe Million Ukrainer den Weg nach Deutschland gefunden. Am 24. August sicherte Kanzler Olaf Scholz der Ukraine anlässlich ihres
Nationalfeiertages die unbefristete finanzielle, militärische und politische Hilfe Deutschlands zu. Außenministerin Baerbock unterstrich das Versprechen
„mit allem, was wir haben“. Kurz darauf forderte eine Gruppe von SPD-Politikern eine
diplomatische Offensive für ein rasches Ende des Krieges in der Ukraine.
In einer
Grundsatzrede in Prag warb Bundeskanzler Scholz Ende August für weitreichende Reformen innerhalb der EU: Neben einer Strategie „Made in Europe 2030“ solle es auch ein neues Luftverteidigungssystem in Europa geben.
Am 31. August zog sich Annalena Baerbock den
Unmut großer Teile der deutschen Bevölkerung zu: Sie hatte der Ukraine unbegrenzte Hilfe zugesagt, „ganz egal, was meine deutschen Wähler denken“.
Die Regierung stürzte weiter ab, was die Zufriedenheit in der Bevölkerung anbelangte.
Mitte September versprach Verteidigungsministerin
Lambrecht neue Mehrfach-Raketenwerfer inklusive 200 Raketen, außerdem 50 Allschutz-Transport-Fahrzeuge des Typs Dingo. Auch der seit Monaten vorbereitete Ringtausch mit Griechenland sei „auf der Zielgeraden“. Die Ampel blieb im
Stimmungstief. Kanzler Scholz versprach, die Bundeswehr „zur
am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“ zu machen und die strengen deutschen Regeln für Waffenexporte zu überprüfen.
Sabotage gegen Nord Stream-Pipeline
Am 26. September wurden drei von vier Röhren der beiden Unter-Wasser-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2
gesprengt. Damit wurde eine der wichtigsten Infrastrukturbauten Deutschlands unbrauchbar. Schnell wurde klar: Es konnte sich nur um einen absichtlichen
Sabotageakt handeln. Der Verdacht fiel zunächst auf Russland. Doch bald ließ sich die Vermutung nicht mehr halten. Wer also steckte dahinter?
Verteidigungsministerin Lambrecht
widersprach am 2. Oktober ihrem Parteikollegen Karl Lauterbach: „Wir werden keine Kriegspartei“. Sie
besuchte erstmals seit Kriegsbeginn die Ukraine, um mit ihrem ukrainischen Kollegen Oleksij Resnikow zu sprechen.
Im Osten Deutschlands demonstrierten
über 100.000 Menschen gegen die deutsche Kriegs- und Energiepolitik. Auch Ungarns Ministerpräsident
Viktor Orbán forderte bei seinem Besuch in Deutschland den sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen – und zwar zwischen Russland und Amerika. Dafür sei Donald Trump der richtige Mann.
Einen Tag später lieferte Rheinmetall im Zuge eines sogenannten
„Ringtauschs“ zur Unterstützung der Ukraine Kampf- und Bergepanzer an Tschechien. Prag leitet seinerseits militärische Ausrüstung an die Ukraine weiter.
Am 12. Oktober erhielt die Ukraine das erste von Deutschland bereitgestellte hochmoderne Luftverteidigungssystem
Iris-T. Am nächsten Tag beschloss Deutschland gemeinsam mit 14 weiteren NATO-Ländern den
Aufbau einer gemeinsamen Luftverteidigung. Kanzler Scholz stellte der Ukraine beim fünften Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforum am 24. Oktober in Berlin eine
Wirtschaftspartnerschaft in Aussicht.
Immer mehr Unterstützung aus Deutschland
Dreifaches deutsches Kriegshilfe-Budget im Jahr 2023, zusätzliche 500 Millionen Unterstützung monatlich für Kiew und ein dicker Extra-Finanztopf als Entwicklungshilfe für die Ukraine: Anfang November sagte die Regierung
noch mehr Hilfe für die Ukraine zu. Zudem solle die Bundeswehr ab Mitte November ukrainische Truppen im Rahmen der sogenannten
EUMAM-Mission ausbilden.
Am 18. November bestätigten der
schwedische Sicherheitsdienst und die Staatsanwaltschaft, dass es sich bei der Zerstörung der Nord Stream-Gaspipelines um Sabotage gehandelt hatte. Die Bundesregierung verweigerte „weitere Auskünfte aus Gründen des Staatswohls“. Zwei Tage darauf einigten sich Deutschland, Frankreich und Spanien auf die
Fortführung des größten europäischen Luftwaffenprojekt FCAS.
Weitere Pannen bei Lambrecht
Mitte Dezember wurde bekannt, dass
Rheinmetall ein neues Munitionswerk bauen wollte. Bei einer Bundeswehr-Schießübung fielen 18 von 18 Schützenpanzern
des Typs „Puma“ aus. Ministerin
Lambrecht erklärte, vorerst auf weitere Ankäufe zu verzichten. Dass die im März bestellten 35 F35-Kampfjets eine Menge
Probleme mit sich bringen würden, kam erst zu Weihnachten auf den Tisch.
Kurz vor Weihnachten 2022 hatte eine
Studie den deutschen Medien Einseitigkeit und Eskalationsdrang bei der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg bescheinigt. Pünktlich zu Heiligabend erklärte Wladimir Putin erneut seine Bereitschaft, die Kampfhandlungen durch
Diplomatie zu beenden. Auch Alt-US-Außenminister Henry Kissinger warnte vor Eskalation.
Kurz vor Silvester antwortete NATO-Generalsekretär Stoltenberg mit einer Forderung nach noch mehr Waffen und Hilfsanstrengungen für die Ukraine. Allmählich wurde klar, dass die Bundeswehr einen Punkt erreicht hatte, an dem sie Deutschland
nicht mehr aus eigener Kraft würde verteidigen können.
Das neue Jahr 2023 begann für Verteidigungsministerin Lambrecht mit viel Kritik – diesmal wegen ihrer verunglückten
Silvesterrede. Mitte Januar musste sie nach einer Reihe von Pannen und Skandälchen
ihren Hut nehmen.
Scholz gibt Widerstand gegen Kampfpanzer-Forderungen endgültig auf
Am 6. Januar 2023 gab Kanzler Scholz erneut einen Teil seines Widerstands auf: Zusammen mit den USA sei er bereit, der Ukraine nun erstmals westliche
Marder-Schützenpanzer und ein Patriot-Flugabwehrsystem zu liefern. Polen und Finnland – kurz darauf auch
Litauen – drängten weiter auf die
Freigabe von Leopard-2-Kampfpanzern durch Berlin.
Am 24. Januar sorgte Außenministerin Baerbock international für Aufregung: Nach ihrer
Rede vor der parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg sagte sie: „We are fighting a war against Russia and not against each other“ („Wir führen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“). Noch am selben Tag gab
Bundeskanzler Olaf Scholz seinen tagelangen Widerstand auf und genehmigte die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern aus Bundeswehrbeständen und von anderen NATO-Ländern. Am
25. Januar sagte Pistorius 14 Leo-2-Systeme für die Ukraine zu. Prompt wurde er mit neuen Wünschen aus Kiew nach
Streumunition und Raketen konfrontiert.
Scholz: Kampfjet-Lieferungen ausgeschlossen
Bundeskanzler Scholz versprach Ende Januar, sein
Nein zur Abgabe von Kampfjets oder Bodentruppen an die Ukraine zu verteidigen. Polens Ministerpräsident
Mateusz Morawiecki ließ sich in seiner Forderung nach F16-Kampfjets davon allerdings nicht beeindrucken: Falls Kanzler Scholz nicht mitziehen wolle, sei er dafür verantwortlich, dass das Misstrauen gegenüber Deutschland wachse. Kurz darauf erhöhte der polnische Botschafter den Druck, indem er Polens Ansprüche auf
1,3 Billionen Euro an Kriegsreparationen aufs Tapet brachte.
Nach Ansicht des Außenministeriums, der Bundeswehr und verschiedener Experten galt Deutschland im Sinne des Völkerrechts noch immer
nicht als Kriegspartei im Ukraine-Krieg. Auch die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschem Boden oder Waffenlieferungen änderten daran angeblich nichts.
Pistorius legt nach
Seit Februar war die
Wehrpflicht-Debatte erneut aufgeflammt. Verteidigungsminister Pistorius heizte die Diskussion an, indem er es als einen
Fehler bezeichnete, die Wehrpflicht überhaupt ausgesetzt zu haben. Doch nur eine
Minderheit war dafür.
Der Niedersachse ging auch davon aus, dass der Ukraine-Krieg
noch Jahre dauern werde: Pistorius kündigte am 7. Februar an, zusammen mit europäischen Partnern auch noch bis zu 178 Kampfpanzer der älteren Baureihe Leopard 1 an die Ukraine abzugeben. Bis Ende März 2024 sollen mindestens 100 Stück vor Ort sein.
Die Zerstörung der Nord-Stream-Gaspipelines sollte nach Recherchen des US-Starjournalisten Seymor Hersh
auf das Konto der USA und Norwegens gehen. Noch Ende März hatte US-Präsident Biden die Entschlossenheit der USA beschworen, den NATO-Partnern im Falle eines Angriffs stets
militärisch zur Seite zu stehen. Die Bundesregierung wich entsprechenden Fragen erneut aus.
Knapp ein Jahr nach der russischen Invasion auf die Ukraine erntete Olaf Scholz ein gemischtes
Zwischenfazit zu seiner Kanzlerschaft. Am 17. Februar kündigte er auf der Münchener Sicherheitskonferenz einen
neuen Umgang mit der Rüstungsindustrie an. Außenministerin Baerbock sorgte kurz darauf an gleicher Stelle für internationale Verwunderung, als sie sagte, dass die Ukraine nicht sicher sei, bevor Putin sich nicht „um 360 Grad“ gedreht habe (Video auf
YouTube).