Bulgarien: Jeder Dritte lebt im Ausland

Sehr viele Bulgaren leben im Ausland. Unter den 20- bis 45-Jährigen ist es sogar jeder Zweite. In Deutschland sind es offiziell fast eine halbe Million. Doch es gibt auch den Trend, zurückzukehren und sich in den Dörfern niederzulassen.
Titelbild
„BULGARIA WANTS YOU“ wirbt mit großen Werbetafeln für die Rückkehr nach Bulgarien, unter anderem im Stadtbezirk „Studentski Grad“ in Sofia (März 2022).Foto: Rumen Milow
Von 6. November 2022

Bulgarien ist das Land mit der am schnellsten schrumpfenden Bevölkerung weltweit, ohne dass ein Krieg erklärt worden wäre oder gar stattgefunden hätte. Eine UN-Prognose ergab Anfang 2020, dass die bulgarische Bevölkerung bis zum Jahre 2050 um 22,5 Prozent von 6,9 auf 5,4 Millionen schrumpfen wird

Unter den 20 „führenden“ Ländern dieser Entwicklung befinden sich neben Bulgarien drei weitere Staaten des früheren Ostblocks – und zwar Polen (Platz 15), Ungarn (14) und Rumänien (11). Darunter sind zudem nahezu alle Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens: Nordmazedonien (18), Kroatien (7), Bosnien und Herzegowina (6) und Serbien (5) sowie ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien (16), Estland (13), die Ukraine (4), Lettland (3) und Litauen (2). Nur drei Staaten des ehemaligen „Westen“ Europas sind darunter: Italien (20), Portugal (17) und Griechenland (12). Spanien ist nicht gelistet. Lediglich zwei nichteuropäische Länder finden sich in der UN-Prognose – nämlich Kuba (19) und Japan (9).

Hyperinflation und Kopplung an die D-Mark

Dass Bulgarien diese Negativliste anführt, dürfte auch mit daran liegen, dass es als das geschlossenste unter den sozialistischen Ländern galt, weswegen der Drang, es zu verlassen, wohl am größten war. Hinzu kommt der Umstand, dass es Ende der Neunziger eine Hyperinflation in Bulgarien gab, die im Westen weitgehend unbekannt geblieben ist.

Praktisch über Nacht waren 1.000 Lewa nur noch einen Lew wert; später eine D-Mark. Die bulgarische Währung wurde bald darauf 1:1 an die Deutsche Mark gekoppelt. Bis heute hat der bulgarische Lew den Wert der D-Mark, für einen Euro bekommt man stabil 1,95 Lewa. Bulgarien ist das ärmste Land der EU – Löhne und Gehälter sind niedrig. Die Preise betragen (verglichen mit Deutschland) oft nur die Hälfte der Kosten in Berlin.

Ein Busfahrer in der bulgarischen Hauptstadt verdient im Schnitt 1.000 Euro, die Miete für eine Zweiraumwohnung beträgt etwa 500 Euro im Monat. Nebenkosten wie Strom, Heizung, Wasser und Müll für eine 80 Quadratmeter große Wohnung schlagen derzeit mit mindestens 100 Euro zu Buche – Tendenz steigend. Das Gleiche gilt für Lebensmittel: Ein Brot kostet im Moment einen Euro, ein Ei 20 Cent, ein Liter Milch 1,30 Euro, ein Stück Butter 4 Euro und der Liter Benzin 1,50 Euro. Eine einfache Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kostet in Sofia 80 Cent und einmal essen gehen in einem preiswerten Restaurant knapp 10 Euro.

Ende Oktober hat das bulgarische Parlament allerdings den Ministerrat des Landes verpflichtet, die Verhandlungen mit den Institutionen der Eurozone zu beschleunigen – um die Umstellung von Lew auf Euro ab Januar 2024 sicherzustellen. Die bulgarische Nationalbank ist in die Verhandlungen einbezogen.

Jeder dritte Bulgare lebt im Ausland

All dies führte dazu, dass jetzt jeder dritte Bulgare im Ausland lebt. In Deutschland sind es offiziell knapp eine halbe Million. Unter den 20- bis 45-Jährigen lebt jeder Zweite im Ausland, darunter viele gut ausgebildete junge Menschen wie Informatiker oder Ärzte – ein Brain Drain, wie die Abwanderung kluger Köpfe auf Englisch genannt wird. Ein unvorstellbares Ausmaß – gemessen an der Gesamtbevölkerung.

Im Juni 2020 startete die Online-Plattform „Bulgaria Wants You“ – eine private Initiative. Sie möchte Bulgaren, die ins Ausland ausgewandert sind, zu einer Rückkehr in ihre Heimat bewegen. Der Internetauftritt ist auch für Ausländer interessant, die sich in Bulgarien niederlassen möchten. Die Autoren zeigen, dass sich Bulgarien in den vergangenen 30 Jahren grundlegend verändert hat. Über einen Rechner können die Lebenshaltungskosten in einer konkreten bulgarischen Stadt ausgerechnet werden. Am 9. Oktober hat sich die Initiative mit seiner ersten Auslandsveranstaltung „München: Leben und Karriere – warum in Bulgarien?“ in der bayerischen Landeshauptstadt vorgestellt. Der nächste Auftritt ist für April 2023 in London geplant.

Rückkehrer ins Steuerparadies

Seit Corona kehren verstärkt Bulgaren in ihre Heimat zurück. Ein Teil fand keine Arbeit mehr, ein anderer – möglicherweise größerer Teil – kehrte aus Unverständnis und Kritik an den Corona-Maßnahmen zurück, die es in dieser Form in Bulgarien nicht gab. Für viele war es nicht nur eine Rückkehr in ihre alte Heimat, sondern auch in den Schoß der Familie, die traditionell eine große Rolle spielt.

Bereits zuvor hatte ein Umzug von Bulgaren aus den Städten in die Dörfer eingesetzt. Zwischen 2010 und 2020 zogen insgesamt 367.000 Menschen von der Stadt aufs Land. Dies bedeutet, dass mehr als fünf Prozent der Menschen in Bulgarien eine solche Lebensentscheidung getroffen haben. Alleine im Jahr 2020 verließen 95.000 Bulgaren die Städte, um sich in den Dörfern anzusiedeln.

Natürlich gibt es auch den gegenläufigen Trend: Bis heute verlassen Bulgaren ihre Dörfer, um sich in den Städten niederzulassen. Gründe dafür können Arbeitssuche, Ausbildung der Kinder und die Behandlung von Krankheiten sein. Es bleibt ein Saldo von knapp 100.000 Menschen, die nach 2010 von einer Stadt in ein Dorf gezogen sind.

Gleichzeitig gibt es im Land knapp 600 verlassene Dörfer, Geisterdörfer, mit nur noch wenigen oder gar keinem Einwohner mehr. Die meisten von ihnen befinden sich in Zentralbulgarien rund um die Stadt Gabrowo sowie im Nordwesten, der ärmsten Region des Landes. Man kann sich in diesen Geisterdörfern immer noch neu ansiedeln – auch Ausländer sind willkommen. Diese dürfen seit Jahren in Bulgarien Immobilien erwerben.

Bulgarien ist nicht nur für Rentner interessant, sondern auch für Menschen, die in einem Land mit wenig Industrie in der Natur leben möchten, gleichzeitig aber nicht auf eine gute Internetverbindung verzichten und darüber hinaus vielleicht noch Steuern sparen wollen.

Das Balkanland ist mit seinen niedrigen Direktsteuern zudem ein im Westen weitgehend unbekanntes Steuerparadies. Die Körperschafts- und Einkommensteuer haben einen Steuersatz (Flat-Tax oder auch „Pauschalsteuer“) von 10 Prozent, auf Dividenden und Liquidationserlöse werden sogar nur fünf Prozent fällig. Eine Gewerbesteuer existiert nicht.

Zum Autor

Rumen Milkow ist freier Journalist und Autor. Geboren und aufgewachsen in Ostdeutschland, lebt er seit Mai 2021 wieder permanent in Bulgarien. Der examinierte Krankenpfleger und Berliner Taxifahrer ist Autor bei „Rubikon“ und „Multipolar“, Radiomoderator a. D., Blogger, „Eselflüsterer“ sowie Herausgeber von Büchern („Nach Chicago und zurück“ und „Bai Ganju, der Rosenölhändler“ des bulgarischen Klassikers Aleko Konstantinow).



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