Bulgarien: Die Wahl vor der Wahl

Am 2. Oktober wird in Bulgarien erneut gewählt. Es ist die vierte Wahl in eineinhalb Jahren.
Titelbild
Hochhäuser im Geschäftsviertel von Sofia, der Hauptstadt Bulgariens.Foto: iStock
Von 30. September 2022

Die vorgezogenen Neuwahlen in Bulgarien wurden notwendig, weil der amtierenden Regierung unter Kiril Petkow im Juni nach nur einem halben Jahr das Vertrauen entzogen wurde. Bei einem Misstrauensvotum im Parlament erhielt sie nicht die notwendige Mehrheit. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang in einer Demokratie, trotzdem war in westlichen Medien von einem „Sturz“ die Rede und auch von „pro-westlicher“ Regierung – wobei unklar blieb, was das Gegenteil davon ist.

Anfang Mai hatte Petkow noch eine Abstimmung über „militärtechnische Hilfe“ für die Ukraine gewonnen, von der bis heute niemand sagen kann, worin diese genau bestehen soll. Ein Militärexperte meinte im staatlichen Nationalradio, dass sie unrealistisch sei, weil Bulgarien seine eigene russische Ausrüstung kaum reparieren kann. Ein Politikpsychologe sagte danach den Rücktritt der Regierung noch im Mai voraus.

Anlass des Misstrauensvotums war Uneinigkeit innerhalb der Regierung über die Mazedonien-Frage. Die eigentliche Ursache für das verlorene Misstrauensvotum dürfte aber in der Ukraine-Politik zu suchen sein.

Wie bereits in der Corona-Politik, so hatte die Regierung Petkow auch in ihrer Ukraine-Politik keine Mehrheit im Land hinter sich – die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 40 Prozent. (Zum Vergleich: In Deutschland erreichte sie 2021 76,6 Prozent, in Italien liegt sie aktuell bei 64 Prozent.) Seine Koalition aus vier Parteien hatte zusammen gerade einmal etwas mehr als 20 Prozent aller zur Wahl berechtigten Stimmen erhalten. Trotzdem wurde die Frage nach ihrer Legitimation nie gestellt.

Proteste in Vorbereitung

Die größte Sorge der Bulgaren ist zurzeit die Inflation, die bei fast 20 Prozent liegt. Kürzlich haben Bauern demonstriert, weil durch die von der Regierung aufgehobenen Zölle für ukrainisches Getreide dieses nun billiger ist als bulgarisches.

Für den 19. Oktober ist ein Protest gegen die steigenden Energiepreise in Sofia geplant, zu der unter anderem die bulgarische Industrie- und Handelskammer und der Verband Unabhängiger Gewerkschaften aufgerufen haben.

Man befürchtet, dass viele Betriebe wegen der hohen Strompreise schließen müssen. Eine Umfrage des Meinungsforschungszentrums „Trend“ ergab, dass 77 Prozent der Bulgaren von der neuen Regierung fordern, für bezahlbare Gas-, Strom- und Kraftstoffpreise zu sorgen. 75 Prozent erwarten Maßnahmen gegen die Verarmung.

Das Vertrauen in Wahlen ist traditionell wenig ausgeprägt. Bis heute wird die Wende in Bulgarien „Demokratisierung“ genannt – ganz bewusst mit Anführungszeichen. Wahlberechtigt sind 6,6 Millionen Bulgaren, was in etwa der Einwohnerzahl im Land entspricht. Gut ein Drittel der Wahlberechtigten lebt im Ausland. Eine Briefwahl gibt es nicht, was die geringe Wahlbeteiligung zumindest zum Teil erklärt.

Das Interesse an den bevorstehenden Wahlen ist nur gering. Es gab weniger Plakate und Informationsstände als in der Vergangenheit. Eine gewisse Wahlmüdigkeit ist spürbar. Vieles deutet darauf hin, dass die Wahlbeteiligung diesmal noch niedriger ausfallen könnte. Dementsprechend gibt es – genauso wie in der Vergangenheit – kaum Erwartungen, dass sich nach den Wahlen etwas ändern wird.

Moderne Wahlautomaten neben verfallenen Häusern

Auch bei dieser Wahl werden wieder Wahlautomaten zum Einsatz kommen. Sie sehen aus wie Bankautomaten, zahlen zwar kein Geld aus, dafür aber immerhin eine Wahlquittung. Oft ist es ein surreales Bild, insbesondere auf den Dörfern: Nagelneue Wahlautomaten während gleichzeitig wegen der hohen Auswandererquote viele Häuser verfallen oder schon in sich zusammengefallen sind.

Aktuelle Umfragen der Agentur „Exakta“ zum Ausgang der Wahl ergaben, dass die Partei GERB des ehemaligen Ministerpräsidenten Bojko Borissow mit über 26 Prozent die meisten Stimmen erhalten könnte. Mit 18,1 Prozent an zweiter Stelle liegt die Partei „Wir setzen den Wandel fort“ des letzten bulgarischen Premierministers Kiril Petkow, gefolgt von der Bulgarischen Sozialistischen Partei (12,5 Prozent), der Partei der türkischen Minderheit DPS (10,3 Prozent) und der Partei „Wiedergeburt“ (9,5 Prozent).

Da die GERB wegen der Korruptionsvorwürfe politisch isoliert und es unklar ist, ob die Partei „Wir setzen den Wandel fort“ noch einmal eine Regierung bilden kann, sind erneute Wahlen Anfang nächsten Jahres wahrscheinlich. So lange würde Bulgarien von der vom Präsidenten Rumen Radev ernannten Übergangsregierung regiert werden, die kürzlich darauf verzichtet hat, einen neuen, langfristigen Vertrag mit Gazprom abzuschließen.

Zum Autor

Rumen Milkow ist freier Journalist und Autor, er lebt seit Mai 2021 permanent in Bulgarien. Geboren und aufgewachsen in Ostdeutschland, examinierter Krankenpfleger und Berliner Taxifahrer sowie Autor bei „Rubikon“ und „Multipolar“, Radiomoderator a.D. („Hier spricht TaxiBerlin“ auf Pi-Radio); Blogger, „Eselflüsterer“ und Herausgeber („Nach Chicago und zurück“ und „Bai Ganju, der Rosenölhändler“ des bulgarischen Klassikers Aleko Konstantinow).

Der Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung der Epoch Times, Ausgabe 64 am 1. Oktober 2022.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion