Schäuble wird zu Merkel-Gegenspieler in der Corona-Politik: „Bundestag endlich einbinden“
Die Exekutive, speziell Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, erfährt seit der Bund-Länder-Konferenz zur Corona-Krise in der Vorwoche einen Gegenwind, der in dieser Heftigkeit seit Beginn der Pandemie noch nicht da gewesen ist. Wie die „Ärzte-Zeitung“ berichtet, hat sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble persönlich in die Debatte um eine stärkere Einbindung des Parlaments in die Verrechtlichung der Pandemie-Maßnahmen eingeschaltet.
Zweiseitiges Papier des WD mit Begleitschreiben Schäubles
Schäuble versandte ein am Montag (19.10.) publiziertes zweiseitiges Papier des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) des Deutschen Bundestages an alle Fraktionen, das den Titel „Empfehlenswerte Maßnahmen zur Stärkung des Bundestages gegenüber der Exekutive bei der Bewältigung der Corona-Pandemie“ trägt.
In einem Begleitschreiben machte Schäuble deutlich, dass der Bundestag seine Rechte als gesetzgeberisches Verfassungsorgan geltend machen müsse und die Pandemiebekämpfung nicht ausschließlich der Exekutive und der Judikative vorbehalten sei. Er selbst bot sich in diesem Zusammenhang auch als Vermittler an.
In dem Papier des WD werden explizit Zweifel daran geäußert, dass die Generalklausel in § 28 des im März des Jahres novellierten Infektionsschutzgesetzes dauerhaft als Grundlage für die Exekutive ausreiche, um ohne Einbindung des Parlaments im Zuge von Verordnungen Pandemie-Maßnahmen zu verhängen. Diese Zweifel werden insbesondere durch den Umstand verstärkt, dass es sich bei den Corona-Maßnahmen regelmäßig um Rechtsnormen handelt, die auch Grundrechte berühren.
Vier zentrale Forderungen an Merkel bezüglich der Corona-Befugnisse
Das Papier nennt im Wesentlichen vier Themenbereiche, um gegenzusteuern.
Zum einen soll es eine Konkretisierung der Ermächtigungsgrundlagen für „besonders eingriffsintensive und streuweite Maßnahmen“ geben. Das bedeutet, es sollen klar definierte Voraussetzungen festgelegt werden, wann Corona-Maßnahmen in Grundrechte eingreifen dürfen. Die Eingriffsbefugnisse sollen beschränkt und standardisiert werden. Es soll gesetzlich festgeschrieben werden, dass diese nur Ausnahmecharakter haben.
Dadurch soll berechenbarer werden, wann, in welchem Ausmaß und wie lange der Allgemeinheit Beschränkungen – wie Ausgangssperren oder Kontaktverbote – auferlegt werden darf. Gleichzeitig wird so die Reichweite der Verordnungs-Befugnisse von Landesregierungen beschränkt.
Bundestag will Verordnungen prüfen können
Als zweiten Punkt nennt das Papier die grundsätzliche Befristung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. So sollen die in § 28 des Infektionsschutzgesetzes aufgeführten Einzelmaßnahmen nur noch auf einen Zeitraum, etwa einen von zwei Wochen, angeordnet werden können.
Jede neuerliche Verordnung soll daran geknüpft sein, im Vorfeld die Sachlage zu überprüfen. Die an die Landesregierung gerichtete Verordnungsermächtigung des § 31 Abs. 1 S. 1 des IfSG solle ebenfalls begrenzt werden, sofern sie Verordnungen zur Corona-Bekämpfung enthält. Als möglichen vorläufigen Endpunkt schlägt der WD das Ende des Jahres 2020 vor.
Als dritten Punkt spricht das Papier die Beteiligung des Bundestages beim Erlass von Rechtsverordnungen an. Entweder soll es einen Zustimmungsvorbehalt geben oder der Bundestag soll bestehende Verordnungen sogar aufheben können. Im Außenwirtschaftsrecht gibt es diese Option bereits.
Zuletzt fordert der Wissenschaftliche Dienst noch eine Pflicht zur regelmäßigen Unterrichtung des Bundestages durch die Bundesregierung über die Pandemiesituation, die in Kraft befindlichen Maßnahmen und deren Wirksamkeit.
Derzeitige Ermächtigung gilt bis 31. März 2021
Die Umsetzung der genannten Punkte würde, so der WD, das Regelwerk zur Corona-Bekämpfung gerichtsfester machen. Eine weitreichende und transparente Standardisierung und Konkretisierung von Maßnahmen würde den Spielraum der Landesregierungen beschränken. Damit würde mehr Einheitlichkeit bewirkt, ohne dass das Föderalismus-Prinzip des Grundgesetzes grundsätzlich infrage gestellt oder aufgehoben wird.
Die derzeit vom Bundestag an den Gesundheitsminister übertragenen Sonderrechte zur Anordnung von Pandemie-Maßnahmen, die unter anderem die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit oder die Unverletzlichkeit der Wohnung einschränken können, gilt noch bis Ende März 2021. Hinzu kommen die in der Verfassung nicht vorgesehenen Bund-Länder-Konferenzen, die ins Leben gerufen wurden, um die getroffenen Maßnahmen so weit als möglich zu koordinieren.
Akzeptanz für Maßnahmen sinkt auch wegen fehlender Rückkopplung
In seinem „Morning Briefing“ schreibt der Publizist Gabor Steingart, dass Schäuble, indem er sich das Anliegen des Wissenschaftlichen Dienstes zu eigen gemacht habe, zu „einem der mächtigsten innenpolitischen Gegner“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel geworden ist.
Schäuble artikuliert im Wesentlichen drei Kritikpunkte an der Corona-Politik, die in der Öffentlichkeit zuletzt immer lauter wurden. Zum einen sei das Prinzip der Gewaltenteilung durch die Übermacht der Exekutive beschädigt, die zu allem Überfluss zuletzt auch einige Niederlagen vor Gericht kassierte – wie im Zusammenhang mit den Beherbergungsverboten.
Dies führt laut Steingart zu einem Rückgang der Akzeptanz für die Corona-Politik in der Bevölkerung. Das wird dadurch verstärkt, dass Grundrechte weiter eingeschränkt werden, ohne überhaupt das gewählte Parlament damit zu befassen.
Steingart sieht in Schäubles Aktivitäten jedoch auch ein Misstrauensvotum gegenüber einer „starren Fixierung auf die virologisch relevanten Parameter“, in die sich Merkel und ihre medizinischen Berater verrannt hätten. Nur eine breite Befassung des Bundestages könne die Vielzahl der Interessen und Stimmungen erfassen und ausbalancieren.
Geheimdiplomatie der Kanzlerin rächt sich – Alle Fraktionen stehen hinter Schäuble
Schäuble artikuliert mit seinem Rundschreiben offenbar Befindlichkeiten, die auch in allen Fraktionen des Bundestages vorhanden sind. Gegenüber Steingart äußerte sich auch Bundestags-Vizepräsident Thomas Oppermann (SPD), der Merkel attestierte, ihre Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten „hinter verschlossenen Türen im Bundeskanzleramt haben keine brauchbaren Lösungen hervorgebracht“. Marco Buschmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, erklärte:
Diese Notstandsphase muss beendet werden. Es müssen wieder die Parlamente im Pilotensessel sitzen.“
Gegenüber dem „Spiegel“ äußerte sich Oppermann zu den jüngst erfolgten Aufhebungen von Corona-Maßnahmen durch Gerichte – etwa dem Aus für die Sperrstundenregelung in Berlin, das elf Gaststätten zumindest vorläufig für sich erkämpft hatten.
Der SPD-Politiker erklärte, er rechne mit weiteren Entscheidungen dieser Art: „Der Aktionismus der Landesregierungen produziert wenig durchdachte Einzelmaßnahmen, die entweder gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit oder den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.“
Auf diese Weise räche sich die Geheimdiplomatie der Bundeskanzlerin, die hinter verschlossenen Türen im Kanzleramt und ohne Einbeziehung des Parlaments Entscheidungen erwirkt habe, die sich als nicht haltbar erwiesen, so der Politiker weiter. Wäre der Bundestag einbezogen worden, hätte es „im Parlament keine Mehrheit für ein unspezifisches Beherbergungsverbot“ gegeben, weil die Abgeordneten eine adäquatere Abwägung der Rechtsgüter erzwungen hätten.
Das Verwaltungsgericht Berlin hatte den Wirten, die gegen die Sperrstundenregelung geklagt hatten, Recht gegeben, weil die Sperrstunde ein „unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit“ sei, der zudem durch die Infektionslage nicht ausreichend begründet sei.
Die jüngsten Neuinfektionen seien vorwiegend auf Privatfeiern oder Corona-Ausbrüche in Pflegeheimen zurückzuführen – nicht auf Gaststätten mit ausgeklügelten Hygienekonzepten. Aufrechterhalten wurde jedoch ein nächtliches Alkoholverbot, das Berlins Senat ebenfalls mit Blick auf bestimmte Lokalitäten verhängt hatte.
„Bundestag darf sich nicht selbst entmachten“
Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post kritisiert im „Cicero“ die führende Rolle der Exekutive in der Pandemiebekämpfung. Die Verfassung billige den Parlamenten in Bund und Ländern die Aufgabe zu, Gesetze zu machen. Die Exekutive bestehe demgegenüber dem Konzept des Grundgesetzes nach aus ausführenden Beamten auf Zeit.
Der Bundestag darf sich entsprechend „nicht selbst entmachten“, schreibt Post. Es sei richtig gewesen, dass angesichts einer Pandemie, die plötzlich über das Land hereingebrochen war und zu deren Verlauf es keine Erfahrungswerte gegeben hatte, die Regierung rasch gehandelt habe. Allerdings hat man mittlerweile bereits ein „Dreivierteljahr der Exekutive“ erlebt, dessen Ende noch nicht abzusehen ist.
Gerüchten zufolge soll der Bundesgesundheitsminister künftig sogar über die Beschränkungen für innerdeutsches (!) Reisen entscheiden dürfen“, warnt der Sozialdemokrat. „Es spricht Bände, dass bis zur Stunde diese entworfenen Regelungen zwar einigen Presseagenturen, aber nicht den Bundestagsabgeordneten vorliegen.“
Es sei nicht hinzunehmen, dass der Bundestag darauf reduziert wird, die erforderlichen Geldmittel für die Pandemie-Maßnahmen der Exekutive zu bewilligen, und darüber hinaus der Bundesgesundheitsminister über die am stärksten in die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger eingreifenden Maßnahmen, die es seit 1945 gegeben habe, per Exekutiv-Verordnung entscheide. Eine weitere Verlängerung dieser Befugnisse über den 31. März 2021 hinaus sei nicht tragbar, so Florian Post.
Darüber hinaus hält er „einen Gewöhnungseffekt an das Regieren per Verordnung für höchst gefährlich“. Der Bundestag darf nicht zum „Abnickgremium“ werden.
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