Kritik an Sondervollmacht der Bundesregierung – SPD: „Unsere Verfassung kennt keine Konferenz der Ministerpräsidenten“

Im Bundestag wächst der Unmut über eine spürbare Zunahme von Vollmachten für die Bundesregierung, im Zuge der Coronakrise mit Erlassen und Verordnungen und ohne Debatten im Parlament zu regieren.
Epoch Times19. Oktober 2020

„Seit nunmehr fast einem Dreivierteljahr erlässt die Regierung in Bund, Ländern und Kommunen Verordnungen, die in einer noch nie dagewesenen Art und Weise im Nachkriegsdeutschland die Freiheiten der Menschen beschränkt, ohne dass auch nur einmal ein gewähltes Parlament darüber abgestimmt hat“, sagte der SPD-Rechtsexperte Florian Post zu „Bild“.

Post kritisierte zudem die Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder:

„Im Übrigen möchte ich in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass unserer Verfassung keine Konferenz der Ministerpräsidenten kennt. Auch die Ergebnisse der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder ist in unserer Verfassung nicht als gesetzgeberisches Organ vorgesehen. Unter diesem Titel wurden uns gewählten Abgeordneten am Mittwoch um 22.43 Uhr ‚huldvollst‘ deren Beschlüsse per Mail mitgeteilt. Ich bin dieses Vorgehen langsam leid und frage mich, wie lange wir uns ein solches Vorgehen noch gefallen lassen wollen.“

Es gehe hier nicht um die „unstrittige Notwendigkeit von Maßnahmen, es geht darum, dass die gewählten Parlamente, also die Legislative, gefragt und eingebunden wird und nicht ein Exekutive-Regime etabliert wird, deren Entscheidungen Niemand mehr infrage stellt.“

Linnemann spricht von „beunruhigender Entwicklung“

„Das ist eine beunruhigende Entwicklung“, sagte Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) der „Bild“. Das Parlament müsse „wieder selbstbewusster seine Rolle als Gesetzgeber einfordern und dann aber auch ausfüllen“.

Die CDU-Wirtschaftspolitikerin Jana Schimke warnte in der „Bild“, Ermächtigungsgrundlagen müssten zurückhaltend eingesetzt und „nur im Ausnahmefall“ verwendet werden. Beim Einsatz medizinischen Personals im Pandemie-Fall sei das nachvollziehbar. „Aber der Bundesregierung jetzt bei regulären Gesetzen immer mehr Macht zu geben, halte ich in einer parlamentarischen Demokratie für problematisch“, sagte Schimke.

Kubicki warnt vor Beschädigung der Demokratie

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) hat vor einer Beschädigung der Demokratie gewarnt, sollten die wesentlichen Entscheidungen bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie künftig statt vom Bundestag weiter von der Bundesregierung beziehungsweise den Landesregierungen getroffen werden. Kubicki sagte am Sonntagabend im „Bild“-Talk „Die richtigen Fragen“: „Wenn wir als Parlament unsere Aufgabe jetzt nicht wahrnehmen, dann hat die Demokratie einen dauerhaften Schaden.“

„Es ist die Aufgabe des Parlaments, wesentliche Entscheidungen zu treffen, und nicht die Aufgabe von Regierungsmitgliedern“, fügte der FDP-Politiker hinzu. Konkret nannte Kubicki die Diskussion über eine Abriegelung von Corona-Hotspots. „Das Grundgesetz gilt auch während einer Pandemie. Das Abriegeln ganzer Ortschaften ist so absurd, dass man es gar nicht diskutieren sollte.“

Hintergrund sind nicht nur Sondervollmachten für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Rahmen der „epidemiologischen Lage“, sondern etwa auch andere Gesetze in denen derzeit „Ermächtigungsvollmachten“ für die Bundesregierung festgeschrieben werden.

Es geht um die Infrastruktur, nicht um die Gesundheit des Einzelnen

Der Rechtswissenschaftler Professor Dr. Thorsten Kingreen kritisierte bereits in seiner Stellungnahme vom 2. September: „Man scheint sich allmählich an die Gesetzgebung durch ministerielle Notverordnungen zu gewöhnen.“ Er hatte im Rahmen einer Anhörung als geladener Einzelsachverständiger gegenüber dem Bundestag Stellung zu der Frage genommen, ob die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ beendet werden könne.

Die Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Deutschen Bundestag nach Paragraph 5 Absatz 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz setze eine systemische Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“, das heißt für die Gesundheitsinfrastrukturen und damit für die Versorgung der Bevölkerung voraus.

Bezugspunkt seien nicht die Gefahren, die dem Einzelnen durch eine Krankheit drohen. „Öffentliche Gesundheit ist also ein kollektives Rechtsgut, das von der individuellen Gesundheit zu unterscheiden ist“, erklärt der Fachmann. Es gehe um die Infrastrukturen des Gesundheitswesens und nicht um den Einzelnen.

Zum Zeitpunkt, als das Gesetz am 25. März 2020 beschlossen wurde, sei die Gefahr für die öffentliche Gesundheit gegeben gewesen. Die Befürchtungen, dass in Deutschland nicht mehr genügend medizinisch geschultes Personal und medizinische Güter zur Verfügung stehen könnten, um die Epidemie zu bewältigen, ohne andere notwendige Gesundheitsleistungen zu vernachlässigen, seien damals real gewesen.

„Es muss zudem nochmals betont werden, dass nach wie vor erhebliche individuelle Gesundheitsgefahren vom Coronavirus ausgehen“, weist Kingreen hin. Aber zum Zeitpunkt seiner Stellungnahme (2. September) gehe auch das Robert Koch-Institut nicht von einer systemischen Gefahr aus, die die Infrastrukturen des Gesundheitswesens überfordern könnten. Daher lautet seine Einschätzung:

Eine ‚epidemische Notlage von nationaler Tragweite‘ im Sinne von Paragraph 5 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz liegt daher derzeit nicht vor.“

Unterschiedliche Handhabe bei Bund und Land

Beachtung fand seine fachkundige Einschätzung in der Bundestagsdebatte am 17. September jedoch nicht. Auch die Anmerkung, dass der Landtag von Nordrhein-Westfalen die Feststellung der epidemischen Lage von landesweiter Trageweite über den 14. Juni 2020 hinaus nicht verlängert habe, fand keine Erwähnung.

„Die dortige Regelung weist einen wichtigen Unterschied zur hier zu beurteilenden Bundesregelung auf. Der Feststellungsbeschluss tritt nämlich nach dem einschlägigen Paragraph 11 Absatz 1 Satz 2 Infektionsschutz- und Befugnisgesetz NRW nach zwei Monaten außer Kraft, wenn er nicht vom Landtag verlängert wird. Der Landtag muss sich hier also in regelmäßigen Zeitabständen mit der Frage befassen, ob die ‚epidemische Lage‘ noch gegeben ist“, erklärte der Rechtswissenschaftler in seiner Stellungnahme mit Hinweis auf die in Nordrhein-Westfalen geltenden Regelungen.

Der Feststellungsbeschluss nach Paragraph 5 Absatz 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz gelte hingegen grundsätzlich so lange wie seine gesetzlichen Grundlagen. Das führe dazu, dass nicht mehr zeitlich engmaschig geprüft werde, ob sich die tatsächlichen Voraussetzungen geändert haben.

Insoweit nimmt Kingreen Bezug auf Artikel 80 Grundgesetz. Darin heißt es im ersten Absatz:

Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. Ist durch Gesetz vorgesehen, dass eine Ermächtigung weiter übertragen werden kann, so bedarf es zur Übertragung der Ermächtigung einer Rechtsverordnung.

Diese Vorschrift stehe  im historischen Kontext der „leidvollen Erfahrungen deutscher Verfassungsentwicklung“ und fungiert als „bereichsspezifische Konkretisierung des Rechtsstaats-, Gewaltenteilungs-[…] und Demokratieprinzips“, zitiert der Rechtsexperte aus dem Handbuch des Staatsrechts sowie einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Keine Blankoermächtigung der Exekutive

Artikel 80 Grundgesetz sollte „der ‚Ermächtigungsgesetzgebung‘ einen Riegel vorschieben und eine geräuschlose Verlagerung der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive sowie die damit verbundene Veränderung des Verfassungssystems verhindern“. Das Parlament dürfe sich aus diesem Grunde, so das Bundesverfassungsgericht, nicht „durch eine Blankoermächtigung an die Exekutive seiner Verantwortung für die Gesetzgebung entledigen und damit selbst entmachten“. Das Bundesverfassungsgericht sei sogar so weit gegangen, dass in einer Rechtsverordnung „niemals originärer politischer Gestaltungswille der Exekutive zum Ausdruck kommen“ dürfe, heißt es in der rechtlichen Expertise weiter.

Schon jetzt gebe es auf der Grundlage von Paragraph 5 Absatz 2 Satz 1 Infektionsschutzgesetz „eine ausschweifende Nebengesetzgebung, die dazu führt, dass man nicht mehr sicher sein kann, ob das im Hauptgesetz Geregelte tatsächlich gilt“.

Diese „Verlagerung (grundrechts-)wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf eine gesetzlich nicht angeleitete Exekutive“ werde nicht nur von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, sondern fast einhellig im rechtswissenschaftlichen Schrifttum für verfassungswidrig gehalten.

Dennoch sei sie in der Öffentlichkeit weitaus weniger wahrgenommen worden als die Grundrechtseingriffe durch Ausgangs- und Kontaktsperren. „Dabei verschieben die Rechtsverordnungsermächtigungen die Achsen der horizontalen Gewaltenbalance, die durch das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip ausgeformt werden, erheblich.“

Sie schwäche vor allem die Opposition im Bundestag, die dadurch von der Krisengesetzgebung ausgeschlossen werde. „Und sie erzeugen den fatalen Eindruck eines Ausnahmezustands, der nicht in den üblichen, von der Verfassung zur Verfügung gestellten Formen und Verfahren bewältigt werden kann.“ (dts/afp/sua)



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