Die heutige Schule hat ein Problem – sie kann zu Mitläufern und überforderten Menschen führen

Die klassischen Lerntechniken wie das Einmaleins, das Auswendiglernen von Gedichten, das Vorlesen von Texten und das kontinuierliche Üben in der Schule gingen weitgehend verloren. Hausaufgaben-machen ist verpönt – doch warum?
Von 16. Januar 2018

Mit den Achtundsechzigern veränderte sich die Schule in Deutschland. Die politisch linksgerichtete Bewegung überprüfte die schulische Bildung, ihre Struktur und ihre Konzeption daraufhin, ob sie die „unteren Klassen“ benachteiligt, wie Hermann Giesecke schreibt. Die Folgen können heutzutage in der Gesellschaft gesehen werden. Der deutsche Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke war von 1967 bis 1997 Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Universitität Göttingen.

Seither „wurde nahezu das ganze Schulsystem darauf ausgerichtet, die leistungsschwächeren Schüler als milieubedingt entschuldbar zu betrachten und mit Hilfe von Gesamtschulen, Orientierungsstufen, Förderstufen, verlängerter Grundschulzeit, Leistungskursen und den Methoden des individualisierenden Unterrichts zu fördern“.

Die PISA-Ergebnisse zeigen jedoch, dass dies weitgehend vergeblich war. Die soziale Ungleichheit im Bildungswesen hat sich über die Jahre kaum verändert.

Hermann Giesecke nannte bereits 2003 eine Ursache dafür:

Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“

Bekannt ist das Schlagwort des „Offenen Unterrichtes“. Im „Offenen Unterricht“ sollen die Kinder lernen, selbstorganisiert und selbstbestimmt zu lernen. Dabei sollen die „individuellen fachlichen und überfachlichen Lerninteressen der Kinder das Lerngeschehen bestimmen“ (Wikipedia), zusätzlich sollen die Kinder das soziale Geschehen und die Interaktionen miteinander selbst regeln.

Doch „Offener Unterricht“ schadet und behindert Kinder der bildungsfernen Schichten beim Lernen, schreibt Giesecke. Damit verbunden ist der Abbau des klassischen, lehrerbezogenen Unterrichts, eine „übertriebene Subjektorientierung“ (fühle selbst was dir wichtig ist und handle danach) konnte beginnen. Die Leistungen, die die Kinder bringen sollten, werden unklarer und relativiert.

Kinder, die von Hause aus den eher bürgerlichen Schichten angehören, schadet diese Art des Unterrichtes ebenfalls, doch sie können noch damit klarkommen. Sie können sich organisieren und konzentriert lernen, sie genießen es auch, frei forschen zu können und ihre Zeit frei einzuteilen. Doch wenn sie immer wieder angehalten werden, auf ihre Mitschüler Rücksicht zu nehmen, tut das mit der Zeit auch nicht mehr gut.

Der Lehrer muss der Regisseur sein – und nicht nur ein Moderator

Manchen Bildungspolitikern, Schulleitern und Lehrern scheint die Meta-Studie von John Hattie (2009, dt. 2013) nicht bekannt zu sein. In der Meta-Studie wurden die Ergebnisse von über 50.000 Einzelstudien aufgearbeitet und der Einfluss vieler Faktoren nach ihrer Wirkung für das schulische Lernen und die Leistungen der Schüler zusammengefasst. In Kurzform (Zitat):

  • „Was schadet? Sitzenbleiben, Fernsehen und Sommerferien.
  • Was hilft nicht und schadet nicht? Offener Unterricht, jahrgangsübergreifender Unterricht, Team Teaching.
  • Was hilft ein wenig? Klassengröße, finanzielle Ausstattung, Hausaufgaben.
  • Was hilft ein wenig mehr? Zusatzangebote für Leistungsstarke, kooperatives Lernen, direkte Instruktion.
  • Was hilft besonders gut? Lernstrategien, Lehrerfeedback, Unterrichtsqualität.“

Demnach sind die Strukturfragen für den Lernerfolg eher wenig bedeutsam, ob dort 20 Computer oder nur einer steht, ist vielen klassischen Lehrern unwichtig.

Entscheidend sind das Feedback des Lehrers, Lernstrategien und die Qualität des Unterrichts, also das Handeln und die Einstellungen des Lehrers.

Für Michael Felten, Gymnasiallehrer und Schulentwickler, steht im Schulwesen eine Revolution an, wie er auf „Bildung aktuell“ schreibt: „Genau dort, bei der Sicht der Lehrperson, steht eine förmliche Revolution für den bislang selbstlern-euphorischen Schulreformdiskurs an.“

Hattie charakterisiert nämlich den lernwirksamen Lehrer als activator (Regisseur) und grenzt ihn damit deutlich ab vom facilitator (Moderator). Eine lernförderliche Lehrperson muss Kapitän der Lerngruppe sein – und nicht nur ihr Lernbegleiter. Quelle

In vielen Artikel kann dies in ähnlicher Form nachgelesen werden. Zum Beispiel in der „FAZ“, 2010: „Pädagogische Zurückhaltung mag Abiturienten beflügeln, Pubertierende aber verlieren so oft wichtige Orientierung. Bei selbständiger Arbeit machen viele Schüler um schwerere Aufgaben öfter als nötig einen Bogen, mit engerer Anleitung hätten sie die vielleicht lösen können. Und beim Stationenlernen sind die Jugendlichen zwar ständig beschäftigt, stellen aber ohne lehrergeleitetes Unterrichtsgespräch nur selten gedankliche Zusammenhänge zwischen den Lernportionen her.“

Wenn ein Lehrer eine Gruppe anführt, kann diese konzentriert lernen. Foto: iStock

Die Leistungsabstände werden größer, je offener der Unterricht ist

Dr. Frank Lipowsky, Professor für Erziehungswissenschaften, sowie Dr. Miriam Lotz von der Universität Kassel stellten in ihrem Buch „Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen?“ (2015) fest, dass Formen der Individualisierung des Unterrichts nicht oder nur wenig geeignet sind, den Abstand zwischen leistungsschwächeren und -stärkeren Schülern zu verringern. Ganz im Gegenteil:

Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern, wenn sich der Unterricht durch wenig Lehrerlenkung und wenig Strukturierung auszeichnet, eher weitet.“

So können insbesondere Schüler mit geringen Vorkenntnissen benachteiligt werden, „da die Komplexität der behandelten Probleme und Aufgaben das Arbeitsgedächtnis der Schüler zu stark belastet und damit das Lernen und Verstehen neuer Inhalte erschwert.“ (siehe Buch, S. 167f).

Die empirische Forschung zeigt, dass „Unterrichtsmethoden, die Schüler beim Lernen zu früh und/oder zu lange sich selbst überlassen, umso unergiebiger und damit erfolgsriskanter sind, je geringer das Lerntempo der Schüler, je prekärer ihr familiärer Bildungshintergrund ist.“

Kooperative Lernformen wie Gruppenarbeit und Freiarbeit „bergen, je nach Sachkomplexität und Selbstständigkeitsgrad, zwei erhebliche Risiken: Überforderung und Mitläufertum“, erklärte die empirische Forschung.

In der Forschung ist dies alles bekannt, doch in den aktuellen Bildungsplänen wird weiterhin der Weg der kindlichen Selbstbestimmung propagiert – schon im Kindergarten: siehe die Kindergärten in Thüringen,

Manieren, geistige Disziplin, Verzicht auf sofortigen Erfolg und Spaß

Lehrer müssten bei Kindern aus bildungsfernen Schichten ganz andere Mängel kompensieren – „das Beibringen von Manieren, von geistiger Disziplin, von Verzicht auf unmittelbare Erfolge und auf Spaß an allen Ecken und Enden“, schreibt Hermann Giesecke.

Die Grundschule wird jedoch oft weiterhin als „Spielschule“ betrachtet. Schon Ende der 60er Jahre wurde entdeckt, dass die Grundschule die Kinder unterfordert. Ein ausführliches, wissenschaftlich fundiertes Reformkonzept wurde zwar entwickelt, doch weder die Schulbehörden, die Lehrer oder die Eltern wollten eine solche Grundschule umsetzen.

Alles sollte dort vielmehr weiterhin ‚spielerisch‘ sein, systematischer Unterricht gilt bis heute als ebenso kinderfeindlich wie das Erteilen von Zensuren – vom Sitzenbleiben ganz zu schweigen.“

Die klassischen Lerntechniken wie das Einmaleins, das Auswendiglernen von Gedichten, das Vorlesen von Texten und das kontinuierliche Üben gingen weitgehend verloren. Hausaufgaben-machen ist verpönt – sie könnten ja die bildungsfernen Schichten diskriminieren. In Wahrheit trägt dies alles dazu bei, dass Kinder bildungsferner Schichten in diesem Status verbleiben.

Die immer weiter sinkenden Ansprüche an die Leistungen ebneten zwar die Chance für Kinder aus bildungsfernen Schichten, das Abitur zu machen und zu studieren – jedoch verlagerte es das Problem in die Hochschulen, Berufsschulen, Firmen und Unternehmen.

So erklärte Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages 2014 in der „Welt“:

Die mangelnde Ausbildungsreife von Schulabgängern ist das Ausbildungshemmnis Nr. 1 für die Betriebe“.

Auch die Hochschulen beklagen sich, wie im „Focus“ beschrieben. So hätten junge Studenten massive Probleme in Rechtschreibung, Grammatik und Satzbau, sie könnten kaum noch einen Gedanken im Kern erfassen oder eine Vorlesung in eigenen Worten angemessen zusammenfassen. Auch hätten sie Probleme, einer 90 minütigen Vorlesung konzentriert zu folgen.

Ein Lernen aus eigener Motivation heraus kann die Schule als solche nicht leisten

Schule begünstigt die mittleren Schichten. Kinder aus diesem Milieu werden zu Hause selbstverständlich im Lernen unterstützt und akzeptiert. Die „intrinsische Motivation“, ein Lernen aus sich selbst heraus, kann man sich in bildungsfernen Schichten gar nicht leisten. Diese Art der Motivation ist jedoch Voraussetzung für eine weitere Karriere.

Kinder aus bildungsfernen Schichten könnten in der Schule ihr Wissen und ihre Manieren verbessern – doch dafür benötigen sie Lehrer, die die Regie übernehmen und nicht nur den Moderator spielen.

Giesecke bemerkt: „Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts. Das gilt erst recht für solche Kinder, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind; vielfach werden sie jedoch einfach in die Grundschulen gesteckt, weil es so für die Administration am bequemsten und vor allem am billigsten ist.“

Ein selbstorganisiertes Lernen kann Kinder überfordern. Foto: iStock

Wo liegt der pädagogische Denkfehler?

Die Definition des „Kindes“ sei der Denkfehler, er zeigte sich bereits in der Weimarer Zeit bei der pädagogischen Begründung einer gemeinsamen Grundschule, erklärt Hermann Giesecke.

Damals sollten die Kinder das Bürgertums mit den anderen Kindern gemeinsam die Grundschule besuchen und man benötigte eine pädagogische Idee, die über den sozialen Klassen stehen könnte,

dafür bot sich die reformpädagogische Vorstellung einer gelungenen Gestaltung der Kindlichkeit des Kindes an.“

Die Grundschule wurde so zu einer Kinderschule, in der die Kindlichkeit gepflegt wird. Eine solide kognitive Bildung wurde für einseitig und kinderfeindlich gehalten. Das „Kind als Solches“ gibt es jedoch nicht, es gibt Kinder in Reichtum und Armut, mit gebildeten oder ungebildeten Eltern.

Sein Fazit: „Ginge es um das Schulschicksal von Mittelschichtkindern, hätten wir längst eine entsprechende Milieuforschung, die nach lernrelevanten milieuspezifischen Prädispositionen und den Möglichkeiten ihrer Korrektur fahnden würde. So aber begnügen wir uns mit meist irrelevanten Schuldzuweisungen und vergießen Krokodilstränen.“



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