Wolfgang Kubin: „Es ist notwendig, die chinesische Tradition wieder zu beleben“

Interview mit dem deutschen Sinologen, Übersetzer und Schriftsteller Wolfgang Kubin
Titelbild
(Matthias Kehrein/The Epoch Times)
Epoch Times6. Dezember 2007

Die Gegenwartsliteratur tauge nichts, die traditionelle Literatur bis 1949 sei aber großartig und Weltklasse. So sieht der Bonner Sinologe und Schriftsteller Wolfgang Kubin die chinesische Literatur heute. Mit seiner Kritik an der Gegenwartsiteratur löste er heftige Diskussionen in China aus. Trotzdem erhielt er für seine Verdienste als Gelehrter, Übersetzer und Kulturvermittler im September den bedeutendsten und mit 8000 Euro höchstdotierten Literaturpreis Chinas, den von der Zhongkun Investment Group gestifteten „Pamir International Poetry Price“, mit dem der Unternehmer und Dichter Huang Nubo die chinesische Dichtkunst vor dem Aussterben bewahren will. Die chinesische Tradition sei zerstört, es sei notwendig sie wieder zu beleben, erklärt Wolfgang Kubin; im Interview mit der Epoch Times sprach er auch über deren sozialen Hintergrund.

ETD: Ihre kritischen Thesen zum Zustand der chinesischen Gegenwartsliteratur haben letztes Jahr eine Diskussion ausgelöst. Was haben Sie beklagt?

Kubin:
An den Erzählern, aber nicht nur an den Erzählern selber sondern auch an den Essayisten und an den Dramatikern habe ich verschiedene Dinge beklagt. Einmal dass sie die chinesische Sprache nicht beherrschen, oder nicht gut beherrschen, oder nicht richtig beherrschen, zum anderen dass ihnen Zivilcourage fehlt und dann, das dritte wichtige Kriterium war der mangelnde Ernst, sich nämlich ganz mit Haut und Haaren der Literatur als der eigentlichen Aufgabe eines Schriftstellers zu widmen. Viele Literaten betrachten Literatur als eine Art Spielerei und wenn es etwas Besseres zu Spielen gibt, zum Beispiel an der Börse, dann hört man eben auf zu schreiben und geht spekulieren. Ein solches Verhalten ist bei uns nicht vorstellbar, entweder man schreibt immer, oder man schreibt nie, aber dazwischen kann es nichts geben. Viele chinesische Erzähler – nicht die Dichter, die Dichter sind in der Regel anders – betreiben eine gewisse Zeit die Literatur als ein Spaßvergnügen und dann machen sie was anderes. Egal wie sehr sie sich eine Leserschaft bilden können, ganz gleich welchen Namen sie sich doch haben machen können, sie verschwinden dann einfach von der Bildfläche.

ETD:
Womit hat diese Entwicklung zu tun?

Kubin:
Diese Entwicklung hat sicherlich etwas zu tun auch mit der Kapitalisierung der chinesischen Gesellschaft seit 1989, vor allem seit 1992. Vor 1992 war das Geldverdienen verpönt oder man redete nicht drüber. Nun ist das Geldverdienen das Wichtigste und die Literaten müssen sich dann natürlich fragen, will ich weiter mein kümmerliches Leben haben, oder will ich auch Anteil haben an dem großen Kuchen. Viele entscheiden sich dann leider für die zweite Variante, dass sie nämlich sagen, auch ich will gut leben, auch ich will gut Geld verdienen.

ETD: Das kann man mit der Literatur nicht?

Kubin: Das kann man, wenn man Trivialautor wird, das haben einige gemacht, einige waren in den achtziger Jahren große Literaten und schreiben heute nur noch, was wir in Deutschland bezeichnen würden als Sex & Crime. Diejenigen, die sich Sex & Crime widmen, beziehungsweise anrüchigen Themen, politisch brisanten Themen, die sind damit international erfolgreich und verdienen sehr viel Geld.

ETD: Welchen Einfluss haben denn die Autoren auf die Menschen?

Kubin: Meine Überraschung war ja, dass nach Internetabstimmungen 90% aller Leser meiner Auffassung sind, dass es mit der chinesischen Gegenwartsliteratur nicht gut steht. Das heißt, die Leserschaft hat immer noch hohe Erwartungen an die chinesischen Autoren und wünscht sich vielleicht von ihnen den Hinweis darauf, wie Leben, ein gutes Leben, in der immer komplizierter werdenden Gesellschaft, möglich ist. Diese Antworten geben anscheinend die Autoren nicht, weil sie selber die Antworten auch nicht wissen.

ETD: In welche Richtung könnte das gehen?

Kubin: Das könnte in die Richtung gehen, dass man eben sagt, die Tradition, die in der Vergangenheit sehr kritisiert worden ist, teilweise immer noch kritisiert wird, hat doch mehr zu bieten, als man allgemein annimmt, und es ist notwendig die Tradition wieder zu beleben.

ETD: Welche Traditionen?

Kubin: Die der Philosophie (Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus), der Malerei, der klassischen Ästhetik, der klassischen Literatur.

ETD: Wie sehen Sie die traditionelle chinesische Literatur?

Kubin: Die ist großartig, Weltklasse. Bis 1949 war China literarisch gesehen weltweit mitführend. Selbst die Literatur der Republikzeit, also zwischen 1912 und 1949, gehört zu den ganz großen Literaturen der Welt. Man darf nicht vergessen, die Chinesen konnten in den 30er, 40er Jahren eine Moderne wahrnehmen, die die Deutschen gar nicht wahrnehmen konnten während des Dritten Reiches. Wir Deutschen mussten nach 1945 an diese Moderne anknüpfen, die ja dann eigentlich schon wieder vorbei war, während die Chinesen diese Moderne vollkommen mitgemacht haben. Deswegen sind in vielfacher Hinsicht Werke der chinesischen Literatur aus den 30er, 40er Jahren viel interessanter als das, was damals in Deutschland geschrieben worden ist.

ETD: Sie haben eben gesagt, die Dichter hätten ein besonders hohes Bewusstsein in gesellschaftlicher und politischer Richtung, inwiefern ist es ein Problem, seine Überzeugung auch zu äußern?

Kubin: Mündlich kann man sagen, was man will. Die Dichter reden untereinander frei und offen, ohne Angst, natürlich können sie diese ihre Meinung nicht immer auch druckfrisch zum Ausdruck bringen, da gibt es noch Probleme.

ETD: Sie bemängeln, dass in den Erzählungen bestimmte Themen gar nicht mehr vorkommen, also Antworten auf die Fragen des Lebens. Welche Fragen sind das zum Beispiel?

Kubin: Die Tradition ist zerstört, auch die chinesischen Erzähler haben oft keine Ahnung mehr von der chinesischen Tradition. Sie können die Werke, wenn sie im klassischen Chinesisch verfasst sind, oft gar nicht mehr lesen, weil sie klassisches Chinesisch nicht beherrschen. Man kann ganz einfach sagen, wenn man einen chinesischen Erzähler lesen möchte, verstehen möchte, bedarf man nicht mehr des traditionellen, klassischen Rüstzeugs, man braucht auch oft gar kein Lexikon. Versuchen Sie mal einen deutschen Gegenwartsautor zu lesen, wie zum Beispiel Durs Grünbein. Da müssen Sie Latein gelernt haben, da müssen sie ständig im Lexikon nachschlagen, weil er ihnen dauernd Dinge auftischt, an die sie sich vielleicht gar nicht mehr erinnern. Man muss also für einen deutschen Gegenwartsautor sehr viel wissen. Für einen chinesischen Gegenwartsautor brauchen sie in der Regel gar nichts zu wissen. Vor 1949 war das völlig anders. Vor 1949 hat es eine ganze Reihe von Autoren gegeben, die die Tradition noch voll drauf hatten. Und wenn man die Tradition nicht kennt, dann kann man deren Werke heute gar nicht mehr verstehen.

ETD: Worüber haben die traditionellen Autoren geschrieben?

Kubin: Die Frage nach dem richtigen Leben. Wie werden wir mit Schicksalsschlägen fertig, was ist das Leben, was ist der Tod, wie leben wir, wie überleben wir. Und vor allen Dingen waren die traditionellen Schriftsteller, man kann das mögen oder nicht, sehr moralisch, moralistisch eingestellt, die Ethik spielte eine große Rolle, während heute bei vielen Literaten die Ethik, die Moral nicht die erste Geige spielt.

ETD: Sie sagten, die chinesische Literatur bis 1949 war Weltklasse. Welche Zeitperiode davon hat Ihnen persönlich am Besten gefallen?

Kubin: Das ist das chinesische Mittelalter, wo eine klassische Dichtung geschrieben wurde, an welche die deutschen Dichter meiner Meinung nach erst mit Rilke, wenn überhaupt, stilistisch, inhaltlich, formal herangekommen ist.
Das ist die Tang-Dynastie, die 618 gegründet worden und 907 untergegangen ist. Und diese Dichter haben dann sehr stark Europa beeinflusst, vor allen Dingen die moderne Dichtung des 20. Jahrhunderts.

ETD: Wie ist diese Beeinflussung passiert?

Kubin: Durch Übersetzungen ins Deutsche und vor allem ins Englische. Diese Übersetzungen fanden vor und nach dem ersten Weltkrieg statt.

ETD: Ich habe gehört, dass Sie viel Sport treiben. Haben Sie es auch schon mal mit einer Art von Sport probiert, die man in China betreibt, zum Beispiel Qi Gong?

Kubin: Nein. Beziehungsweise, ja. Ich habe, als ich ein Jahr lang in der Kulturrevolution in China chinesisch lernte, versucht, auch an den Qi Gong-Kursen teilzunehmen, aber Qi Gong ist nicht meine Bewegungsart. Ich bin Fußballer und ich bin eine Kämpfernatur und beim Qi Gong bewegt man sich nicht so viel wie beim Fußball, man ist da auch keine Kämpfernatur, ich würde sagen, man ist das ganze Gegenteil. Mir liegt Qi Gong als Sportart überhaupt nicht, ich muss mich bewegen, schnell, ich muss manchmal richtig rasen dürfen und ich muss manchmal richtig in den Gegner reingehen dürfen, ich muss also den Gegner spüren können, körperlich spüren. Das gibt es ja bei Qi Gong so gar nicht.

ETD: Ist das ein Gegenpol zu ihrer Arbeit?

Kubin: Kann man so sagen, ja. Das ist das deutsche oder europäische an mir, je nachdem wie man will.

ETD: Besten Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Matthias Kehrein.

Erschienen in The Epoch Times Deutschland, Printausgabe Nr. 16/07.

Lesetipp:

Shanghai. Ohel Moshe Synagoge

Ein Gedicht von Wolfgang Kubin

(Matthias Kehrein/The Epoch Times)
(Matthias Kehrein/The Epoch Times)
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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