„Blackbox“ geht am Problem vorbei – Professor: Menschliches Versagen nicht Hauptgrund für Unfälle

Ab diesem Wochenende ist die sogenannte „Blackbox“ für alle Neuwagen und neu zugelassenen Autos Pflicht. Ob sie tatsächlich Unfälle reduzieren kann, ist fraglich. Denn die erhobenen Daten könnten die Hauptunfallursache nicht abbilden, erklärt ein Professor für Verkehrswesen.
Neuwagen und neu zugelassene Autos müssen ab dem 07.07.2024 eine sogenannte Blackbox aufweisen, die Unfalldaten sammelt.
Neuwagen und neu zugelassene Autos müssen ab dem 07.07.2024 eine sogenannte Blackbox aufweisen, die Unfalldaten sammelt.Foto: vukx/iStock
Von 7. Juli 2024

Neu zugelassene Autos müssen ab dem 7. Juli 2024 mit einem sogenannten Event Data Recorder (EDR) ausgestattet sein. Dies hat die EU im April 2019 beschlossen. Ähnlich der Blackbox im Flugzeug soll der „Unfalldatenspeicher“ bei einem Unfall eine kurze Zeitspanne vor und nach dem Unfall aufzeichnen.

Brüssel gibt als Ziel an, durch die Auswertung der Daten Gefahrenpotenziale im Straßenverkehr besser erkennen und die Anzahl der Verkehrsunfälle verringern zu wollen. Ob dadurch die Sicherheit im Straßenverkehr tatsächlich zunimmt, ist fraglich.

Für Wesley Marshall, Professor für Bauingenieurwesen der University of Colorado Denver in den USA, gehen die bisherigen Unfalldaten am Problem vorbei. Eine Blackbox kann demzufolge wenig ändern.

Marshall lehrt und forscht im Bereich Verkehr mit Schwerpunkt auf städtischer Infrastruktur und Verkehrssicherheit. Entgegen der Ansicht seines Berufsstandes argumentiert der ausgebildete Verkehrsingenieur, dass menschliches Versagen nicht die Hauptursache für tödliche Autounfälle ist. Vielmehr bauen Leute wie er „Straßen, die zu Unfällen einladen, weil sie sich auf veraltete Forschung und fehlerhafte Daten verlassen“.

Große Autos schützen nur die Insassen

Im Jahr 2023 starben auf Deutschlands Straßen 2.839 Menschen bei Verkehrsunfällen. Wie das Statistische Bundesamt Anfang Juli mitteilte, waren das 1,8 Prozent oder 51 Tote mehr als im Vorjahr. Die Anzahl der verletzten Personen stieg im gleichen Zeitraum um 1,5 Prozent auf nunmehr 366.557 Verletzte, was primär auf einen Anstieg an Leichtverletzten (+3,4 Prozent) zurückzuführen ist. Rechnerisch gab es damit im Jahr 2023 – pro Tag – acht Verkehrstote, 145 Schwer- und 859 Leichtverletzte.

In den USA ist die traurige Realität ähnlich. Es werden „mehr Fußgänger und Radfahrer auf den Straßen der USA getötet […] als jemals zuvor in den vergangenen 45 Jahren“, erklärt Marshall. Dabei spiele die Größe der Fahrzeuge eine wichtige Rolle, insbesondere die Höhe der Fahrzeugfront. Denn immer größere und immer schwerere Fahrzeuge schützen zwar die Insassen, sind aber für andere Verkehrsteilnehmer gefährlicher.

So zeigt eine aktuelle Studie in der Fachzeitschrift „Economics of Transportation“, dass das Sterberisiko für Fußgänger im Fall einer Kollision um 22 Prozent ansteigt, wenn die Frontpartie um zehn Zentimeter höher wird. Bei weiblichen oder älteren Personen wachse das Risiko um 31 Prozent, bei Kindern um 81 Prozent.

Wird ein Radfahrer von einem Pick-up, einem Geländewagen mit meist offener Ladefläche, anstatt von einem Mittelklassewagen angefahren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er stirbt, den Autoren zufolge sogar um 291 Prozent höher.

Die Entfernung des Faktors Mensch

„Es ist schwer, der Physik zu widersprechen“, bemerkte Marshall. So liege eine gewisse Logik darin, Autos – respektive ihre Fahrer – für die steigende Anzahl an Verkehrstoten verantwortlich zu machen.

Denkt man diesen Ansatz weiter, lässt sich das Ziel „weniger Verletze und Tote im Straßenverkehr“ durch die Reduzierung und ultimativ die Entfernung des menschlichen Faktors zu erreichen. Das erklärt den Trend zu immer mehr Assistenz- und Kontrollsystemen bis zum vollautomatischen, fahrerlosen Fahren.

In der Gesellschaft ist die Wahrnehmung mitunter eine andere, denn auch selbstfahrende Autos bauen Unfälle, einschließlich mit Todesfolge. So fiel in der Vergangenheit immer wieder der Satz: Das Gefährliche an selbstfahrenden Autos ist, dass sie sich an alle Verkehrsregeln halten. Das kann unter Umständen tatsächlich eine Behinderung im Straßenverkehr darstellen. Einer Fahr-KI fehlt es zudem mitunter an gesundem Menschenverstand und sozialer Kompetenz, wie dänische Forscher in einer preisgekrönten Studie festgestellt haben.

Wer baut schwere Autos und gefährliche Straßen?

Die Polizei untersucht Unfälle und sucht zwangsläufig nach dem Verkehrsteilnehmer, der die größere Schuld trägt, einschließlich Fahrern, Fußgängern und Radfahrern, erklärt Marshall. „Das ist leicht zu bewerkstelligen, denn bei fast jedem Unfall scheint das Fehlverhalten der Verkehrsteilnehmer das offensichtliche Problem zu sein.“ Unfalldaten unterstützen dies.

So sieht die US National Highway Traffic Safety Administration, die US-Bundesbehörde für Straßen- und Fahrzeugsicherheit, den „entscheidenden Grund“ für 94 Prozent der Unfälle, Verletzungen und Todesfälle in Fehlern der Verkehrsteilnehmer.

Die polizeilichen Ermittlungen helfen somit Versicherungsgesellschaften herauszufinden, wer zahlen muss. Es helfe den Autoherstellern und Verkehrsingenieuren, all diese Todesfälle wegzurationalisieren.

Jeder – außer den Familien und Freunden […] – geht nachts mit dem guten Gefühl schlafen, dass schlecht handelnde Verkehrsteilnehmer einfach nur mehr Aufklärung oder bessere Durchsetzung benötigen“, so Marshall. „Doch das Fehlverhalten der Verkehrsteilnehmer kratzt nur an der Oberfläche des Problems.“

Auch Autohersteller behaupteten seit Langem, dass niemand sterben würde, wenn sich alle an die Verkehrsregeln halten würden. Die Fahrzeuggröße ist für diese Behauptung irrelevant und die Fahrzeughersteller sind damit aus der Verantwortung entlassen.

Dem widerspricht Verkehrstechniker Marshall und ergänzt: „Mein Fachgebiet, die Verkehrstechnik, verhält sich ganz ähnlich. Wir unterschätzen die Rolle, die wir bei der Aufrechterhaltung schlechter Ergebnisse spielen.“ Dazu nennt er drei Beispiele:

Systemisches Versagen begünstigt menschliche Fehler

„Wenn Verkehrsingenieure eine übermäßig breite Straße bauen, die eher wie eine Autobahn aussieht, und ein Raser […] einen Unfall baut, wird in den nachfolgenden Unfalldaten dem Fahrer die Schuld für die überhöhte Geschwindigkeit gegeben.“

Keine Einladung zum Schnell fahren!

Breit wie eine Autobahn, wenig Verkehr. Diese Dorfstraße verlockt zum Schnellfahren. Foto: searagen/iStock

„Wenn Verkehrsingenieure lausige Fußgängerüberwege mit großen Abständen anlegen und jemand bei Rot über die Straße geht und […] angefahren wird, wird einer oder beide Verkehrsteilnehmer im offiziellen Unfallbericht dafür verantwortlich gemacht.“

Die Hauptstraße in Del Rio, Texas. Für fehlende Fußgängerüberwege, breite Straßen und kaum Platz für Fußgänger können Verkehrsteilnehmer nichts. Foto: M. Kaercher/iStock

„Und wenn die Autohersteller riesige Fahrzeuge bauen, die leicht das Doppelte der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fahren können und mit ablenkenden Touchscreens ausgestattet sind, werden die Unfalldaten trotzdem den Verkehrsteilnehmern die Schuld für fast alle Unfälle geben.“

Immer mehr Technik, immer mehr Ablenkung: Während die Nutzung des Smartphones am Steuer verboten ist, ist die Bedienung von Autos immer mehr zur Gefahrenquelle geworden. Foto: insta_photos/iStock

Jeder wünsche sich einen datengestützten Ansatz für die Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr, so Marshall weiter, „aber die heutige übliche Sichtweise auf Unfalldaten befreit Autohersteller, Versicherungsgesellschaften und politische Entscheidungsträger, die die Sicherheitsstandards für Fahrzeuge festlegen, von der Verantwortung für die immer größer werdenden Autos. Sie befreit auch Verkehrsingenieure, Planer und Politiker von der Schuld an der Schaffung eines Verkehrssystems, in dem für die meisten Amerikaner das Auto die einzige vernünftige Wahl für die Fortbewegung ist.“

Wenn er genauer hinschaue, stellt der Verkehrsingenieur fest, „dass die zugrundeliegenden Unfalldaten allen einen Freibrief geben, außer den Verkehrsteilnehmern selbst“.

Wird die Datenerfassung nun mittels Blackbox automatisiert, ändert das nichts an der Tatsache, dass diese – um bei Marshalls Worten zu bleiben – „nur an der Oberfläche“ kratzt. Oder um es deutlicher zu formulieren: Ein schlechter digitalisierter Prozess ist immer noch ein schlechter Prozess.

Unfälle wirklich verstehen (wollen)

„Autohersteller wollen Autos verkaufen und Geld verdienen“, beginnt Marshall sein Fazit. Wenn große Fahrzeuge für den Käufer sicherer erscheinen oder als solche beworben werden und gleichzeitig für die Hersteller profitabler sind, sei ihre Präsenz auf den Straßen nicht verwunderlich. Doch selbst „wenn dieselben Fahrzeuge für Fußgänger, Radfahrer und andere Verkehrsteilnehmer weniger sicher sind, geht der derzeitige datengesteuerte Ansatz für die Verkehrssicherheit an diesem Teil der Geschichte vorbei“.

Wenn man so weitermache wie bisher, werde man das Problem nicht lösen können. Man werde „weiterhin Geld für Kampagnen verschwenden, in denen die Opfer beschuldigt werden, oder für Plakate, die hoch über einer Straße angebracht werden und die Fahrer auffordern, auf die Straße zu achten“. Dass das eher das Gegenteil bewirkt und die Unfallzahlen sogar erhöht, haben Forscher bereits nachgewiesen.

Ein gut gemeinter Hinweis mit Ablenkungspotenzial: Ein Blick auf die Anzeige, ein Blick auf den Tacho, noch ein Blick auf die Anzeige und man übersieht das Manöver des Vordermanns. Foto: Detlef Voigt/iStock

Ein besserer Ausgangspunkt wäre es laut Marshall, den angeblich datengesteuerten Ansatz der Straßenverkehrssicherheit neu zu gestalten. Man müsse das Verständnis der Unfalldaten neu erfinden. Der Schlüssel dazu liege „in der Frage nach dem Warum. Warum haben diese Verkehrsteilnehmer so gehandelt, wie sie es getan haben? Warum haben sie sich nicht an die Regeln gehalten, die für sie aufgestellt wurden?“

Eine Entschuldigung für schlechtes Verhalten soll es nicht geben, die Unfalldaten erzählen laut Marshall jedoch eben eine ganz andere Geschichte – wenn man ein wenig unter der Oberfläche gräbt. Er schließt mit den Worten:

Herauszufinden, welcher Verkehrsteilnehmer am meisten Schuld trägt, mag für die Strafverfolgungsbehörden und Versicherungsgesellschaften nützlich sein, aber es gibt Verkehrsingenieuren, Planern, politischen Entscheidungsträgern und Autoherstellern kaum Aufschluss darüber, was sie besser machen können. Schlimmer noch, es hat sie davon abgehalten zu erkennen, dass sie etwas falsch machen könnten.“

Blackbox – von der EU beschlossen, von Datenschützern kritisiert

Die Pflicht zur Blackbox, offiziell „Unfalldatenspeicher“ genannt, wurde im April 2019 durch die EU der Verordnung 2019/2144 des Europäischen Parlaments festgeschrieben. Sie sieht vor, dass Fahrzeuge von Werk aus zum Beispiel mit dem Fahrerassistenzsystem ISA (Intelligent Speed Adaption) ausgerüstet sein müssen. Der Gesetzestext besagt außerdem, dass Fahrzeugdaten anonymisiert gesammelt werden.

Verbaut werde der Datenspeicher mehrheitlich im Airbag-Steuergerät. Dort laufen laut ADAC alle relevanten Informationen von Beschleunigungssensoren zusammen. Die Regelung trat im Sommer 2022 zunächst für neue Fahrzeugtypen (Pkw, Busse und Lkw) in Kraft. Ab dem 7. Juli 2024 müssen alle Neuwagen mit dem System ausgestattet sein. Eine Nachrüstung von Fahrzeugen ist nicht vorgesehen.

Begonnen würde die Speicherung zum Beispiel durch das Auslösen der Airbags. Technisch bedeutet es, dass die Daten ständig erfasst und überschrieben werden. Im Falle eines Unfalls wird die Neuerfassung und damit das Überschreiben der vorhandenen Daten gestoppt. Erfasst werden unter anderem Geschwindigkeit, Motordrehzahl, Lenkwinkel, Pedalstellung und andere Parameter des Fahrzeugs.

Derartige Daten könnten zukünftig nicht nur zur Klärung von konkreten Unfallursachen, dem Unfallhergang oder Schuldfragen beitragen – wobei das Fahrzeug gegen den eigenen Fahrer aussagen könne –, sondern auch der internen Auswertung bei den Herstellern oder Versicherungen dienen. Letzte könnten die Beiträge der Kfz-Versicherung an das jeweilige Fahrverhalten des Versicherten anpassen – bisher sind diese vom Autotyp abhängig.



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