Forscher erklären, welche Rolle der Kopf bei Hunger spielt
Auf das rechte Maß kommt es an. Diese Philosophie liegt nicht nur fernöstlichen Weisheiten zugrunde, sondern auch dem Bestreben unseres Körpers, seinen Stoffwechsel in der Balance zu halten. Im Optimalfall werden Verhalten und Stoffwechsel präzise angepasst, sodass Blutzucker, Sauerstoffsättigung und andere Werte nicht übermäßig schwanken. Wie das funktioniert und welche Rolle das Gehirn beim Hunger spielt, ist bislang wenig untersucht.
Die Arbeitsgruppe um Marc Tittgemeyer vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung möchte dies ändern. Dafür erforscht der Neurowissenschaftler und Stoffwechselexperte zusammen mit freiwilligen Testpersonen unterschiedliche Nahrungsmittel und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Körper – einschließlich die Nervenzellen im Gehirn.
Fünfzig Jahre und viele Kilos später
Tittgemeyer betrachtet ein Foto auf dem Bildschirm in seinem Büro. Es wurde 1976 am Strand von Brighton, England, aufgenommen. Hunderte Menschen in Bikinis und Badehosen genießen die Sonne. „Dieses Foto hat mich sehr beeindruckt, denn es fällt einem sofort auf: Die Menschen sind alle dünn. Fünfzig Jahre später würden die Menschen auf dem Bild anders aussehen“, so Tittgemeyer.
Heute sind sechsmal mehr Menschen fettleibig als in den 1970er-Jahren. In Industrieländern sind inzwischen sogar rund die Hälfte der Erwachsenen und jedes sechste Kind übergewichtig. Tendenz steigend. Ein Blick auf deutsche Zahlen zeigt, dass 2021 rund 42,5 Prozent der Frauen und 62 Prozent der Männer in Deutschland übergewichtig waren. Doch warum werden die Menschen immer schwerer?
Ausgeglichenheit ist für den Körper das oberste Gebot. Unterschiedliche Signale verraten ihm, ob der Energie- und der Wasserhaushalt noch im Gleichgewicht sind. Wenn ja, melden Sensoren dies dem Gehirn. Falls nicht, reagiert der Körper mit Hunger oder Durst. Ein Beispiel: Druckempfindliche Zellen im Magen signalisieren, wenn dieser voll ist. Das Gehirn erzeugt daraufhin ein Sättigungsgefühl, das uns davon abhält, zu viel zu essen.
Andere Signale dienen hingegen dazu, Reserven zu bilden. Sie können den um Ausgleich bemühten Kräften einen Strich durch die Rechnung machen, denn sie treiben uns dazu, mehr Kalorien aufzunehmen, als gerade benötigt werden.
Über den Hunger zu essen, war überlebenswichtig
Wer die übergewichtige Gegenwart verstehen will, muss sich mit der Vergangenheit und dem menschlichen Stoffwechsel befassen. Im Wesentlichen funktionieren unsere Gehirne und Körper nämlich nicht anders als die unserer Vorfahren. Und die badeten nicht etwa in Zucker oder bedienten sich an Schokoriegelbäumen, sondern mussten nicht selten in Zeiten des Mangels darben. Auf diese Lebensbedingungen hat sich unser Stoffwechsel eingestellt.
So lehrte die Vergangenheit unsere Gehirne und Körper, dass es nicht jederzeit etwas zu essen gibt. Wenn dann mal Nahrung im Überfluss vorhanden ist, sollte man sich den Bauch vollschlagen, um magere Zeiten mit weniger Nahrung auszugleichen. Sättigungssignale können dann beispielsweise durch die Aktivierung unseres Belohnungssystems überschrieben werden, auch wenn der Magen bereits voll ist.
Ein weiteres Signalsystem schätzt den Energiegehalt einer Mahlzeit und stimmt den Körper darauf ein, noch ehe der erste Happen im Mund landet. Daran beteiligt sind unter anderem die sogenannten Hungerneuronen – Nervenzellen, die im Hypothalamus des Gehirns sitzen.
Wenn wir satt sind, feuern diese Zellen nur ganz langsam vor sich hin. Bei Hunger aber sind sie extrem aktiv“, erklärte Tittgemeyer.
Von Mäusen ist bekannt, dass die Hungerneuronen sich sofort beruhigen, wenn die Tiere an einem Stück Schokolade knabbern. Die Nervenzellen verstummen jedoch auch, wenn die Nager ihr Essen nur riechen, aber nicht fressen können. Kommt der Snack dann nicht im Magen an, fahren die Neuronen ihre Aktivität nach einer Weile wieder hoch.
Das zeigt: Der Körper – und das gilt für Mäuse wie für Menschen – erwartet von Nahrungsmitteln einen bestimmten Kaloriengehalt und bereitet sich entsprechend darauf vor“, so der MPI-Forscher.
Viele Kalorien auf wenig Masse
Und welche Rolle spielen die Stoffwechselsignale beim steigenden Übergewicht? „Dazu gab es viele Vermutungen, vom Wegfall körperlicher Arbeit bis hin zur These, dass wir heute mehr essen würden als früher“, so Tittgemeyer. „Inzwischen wissen wir: Der wichtigste Grund für die drastische Zunahme von Übergewicht besteht darin, dass wir heute anders essen als früher.“
Fertigprodukte etwa vereinen viele Kalorien auf wenig Masse, so enthalten 100 Gramm Fertigpizza etwa fünfmal mehr Kalorien als 100 Gramm Apfel. Ein Stoffwechselsignal, das uns die Portionsgröße entsprechend reduzieren lässt, besitzen wir nicht. Und auch die Drucksensoren in unserem Verdauungstrakt können nicht helfen, da sie nicht zwischen Äpfeln und Pizza unterscheiden können.
Auch Süßstoffe können ein Problem sein. Eigentlich sind sie dazu da, durch den Ersatz von Zucker Kalorien zu sparen. Doch unser inneres Kalorienvorhersageprogramm macht uns auch hier einen Strich durch die Rechnung.
„Wenn der Körper an Kaffee mit Zucker gewöhnt ist, erwartet er eine gewisse Kalorienmenge. Also bereitet er sich darauf vor und erhöht zum Beispiel den Insulinspiegel“, erklärte Tittgemeyer. „Wenn dann wider Erwarten gar kein Zucker kommt, reagiert der Körper mit Hunger. So kann es passieren, dass Süßstoffe unseren Kalorienkonsum in die Höhe treiben, obwohl sie eigentlich das Gegenteil erreichen sollten.“
Gehirn im Glücksrausch
Ein weiteres Beispiel dafür, wie moderne Lebensmittel unseren Stoffwechsel aus der Balance bringen können, ist die rauschhafte Wirkung des Nährstoffduos Zucker und Fett.
Zucker- oder fetthaltige Nahrungsmittel bewirken im Mittelhirn die Ausschüttung von Dopamin. Wenn ein Lebensmittel beides zugleich enthält, potenziert sich dieser Effekt“, so Tittgemeyer.
Nudeln oder Sahnesoße allein machen unser Gehirn also glücklich, doch Nudeln in Sahnesoße versetzen es regelrecht in Euphorie. In der Natur gibt es nur sehr wenige Nahrungsmittel, die Zucker und Fett zugleich in großen Mengen enthalten – zum Beispiel Muttermilch. Sie ist unser erstes Nahrungsmittel und besitzt gleichzeitig eine hohe soziale Bedeutung für uns. Sind wir vielleicht deshalb für die Fett-Zucker-Kombination so empfänglich? Vielleicht.
Wie die Forscher herausfanden, verleihen fett- und zuckerreiche Milchshakes schon beim ersten Schluck einen Dopaminkick. Sobald der Magen etwa fünfzehn Minuten später beginnt, den Shake zu verdauen, wird der Botenstoff ein zweites Mal ausgeschüttet.
„Das Signal aus dem Magen läuft dabei über Nervenzellnetzwerke im Gehirn, die Motivation und Lernverhalten steuern. Sie verknüpfen den Milchshake mit Belohnung und schaffen so die Voraussetzung dafür, dass wir beim nächsten Mal wieder zu solch einem Shake greifen“, erklärt Tittgemeyer.
Fette Speisen sind (k)eine Einbahnstraße
Was wir essen, beeinflusst somit unsere Vorlieben und umgekehrt – ein Teufelskreis. Dies zeigt auch ein weiteres Experiment der Forscher, bei dem Probanden acht Wochen lang jeden Tag eine halbe Tasse fett- und zuckerreichen Pudding essen sollten.
Das Ergebnis: Zwar veränderte der Pudding das Gewicht und den Stoffwechsel der Probanden nicht, dafür aber die Vorlieben für fetthaltige Speisen. Weiterhin zeigt sich, dass die Testpersonen anders lernten. Laut den Forschern kann der wiederholte Genuss von energie-, fett- und zuckerreichen Nahrungsmitteln zu einer Neuverdrahtung im Gehirn führen. Führt fettreicher Pudding also generell zu geistigem Abbau?
„Sicher nicht“, erklärt Tittgemeyer, „aber offenbar ändert er die Art und Weise, wie Menschen lernen.“ Damit das möglich ist, braucht es den ältesten Teil unseres Gehirns: den Hirnstamm. Veränderungen in diesem Bereich beeinflussen unser gesamtes Empfinden und Verhalten.
Lassen sich einmal erlernte Essgewohnheiten wieder ändern? Marc Tittgemeyer zuckt die Achseln: „Das ist die Frage. In Experimenten mit Mäusen hat sich gezeigt, dass Essgewohnheiten nicht in Stein gemeißelt sind. Demzufolge klappt die Umstellung auf eine fettarme Ernährung, wenn die Tiere über einen längeren Zeitraum eine Niedrigfettdiät durchhalten.“ Wie lange ein Mensch eine solche Diät machen müsste, ist bislang unklar.
Medikamente gegen den Teufelskreis?
Ob Fertiggerichte mit vielen Kalorien, unsere Schwäche für Zucker mit Fett oder gewohnheitsbedingte Leidenschaften: Ein Kalorienüberschuss kann viele Ursachen haben und unser Gehirn belohnt uns dafür.
Ein falsch funktionierender Stoffwechsel kann jedoch nicht nur zu Übergewicht und damit verbundenen Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes führen – dabei kann der Körper Zucker nicht mehr ausreichend aus dem Blut aufnehmen. Das hat nicht nur zur Folge, dass das Gehirn unglücklich bleibt, Betroffene noch mehr essen, um sich gut zu fühlen, und weiter zunehmen, sondern führt möglicherweise auch zu Demenz und Parkinson.
„Je mehr ich darüber lerne, desto besser verstehe ich, dass Übergewicht überhaupt nichts mit Willensschwäche oder fehlender Disziplin zu tun hat“, folgert Tittgemeyer.
Wenn der Stoffwechsel entgleist, ist es außerordentlich schwer, sich dagegen zu wehren. Es ist unser Körper, der uns das Essen diktiert.“
Um diesem Teufelskreis zu entkommen, greifen manche Menschen zu Medikamenten, die Blutzucker regulieren und das Insulin verringern. Besonders Wirkstoffe aus der Gruppe der sogenannten GLP-1-Rezeptorantagonisten machen seit kurzer Zeit als Mittel gegen Übergewicht Furore.
„Ich glaube allerdings nicht, dass man Übergewicht mit Medikamenten allein in den Griff bekommen kann. Ohne Verhaltensänderungen und Anpassung der Ernährungsgewohnheiten wird es nicht gehen“, so Tittgemeyer.
(Mit Material der Max-Planck-Gesellschaft)
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion