Krankhaftes Übergewicht: Ein Viertel aller Deutschen betroffen — besonders Kinder und Arme
In vielen Gesellschaften wird Armut mit Mangelernährung und Unterernährung in Verbindung gebracht. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein neues Phänomen herauskristallisiert: die steigende Häufigkeit von Fettleibigkeit bei Menschen mit niedrigem Einkommen. Diese scheinbar paradoxe Korrelation zwischen Armut und Übergewicht wirft zahlreiche Fragen auf. Noch komplexer wird es, wenn der Aspekt der Bildungsferne hinzukommt – und so das stereotype Bild von „dick und dumm“ Nahrung bekommt.
Fakt ist: Nicht nur immer mehr Erwachsene, sondern zunehmend auch Kinder sind von Fettleibigkeit betroffen. Brisant für die Kleinen: In der Kindheit entwickeltes Übergewicht bleibt oft ein Leben lang.
Ursachen und Folgen: Theoretisch alles bekannt
Für diejenigen, die ihren Augen im sich verändernden Straßenbild nicht trauen wollen, liefern zahlreiche Untersuchungen, Details und eine valide Zahlenbasis: Nach einer Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) aus dem Jahr 2018 sind mehr als 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen in Deutschland übergewichtig, fast sechs Prozent gelten sogar als adipös. Letztere haben einen Body-Mass-Index (BMI) von 30 und mehr. Zur Berechnung des BMI wird das Körpergewicht in Kilogramm durch das Quadrat der Körpergröße in Metern geteilt. Zusätzlich spielt das Alter eine Rolle, da sich das Normalgewicht verschiebt, je älter man wird. Normalgewicht hingegen hat ein Mensch, dessen BMI unter 25 liegt.
Mögliche Folgen von Übergewicht sind hinlänglich bekannt: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Gelenkprobleme – aber auch Depressionen. Ebenso bekannt sind die vielfältigen Ursachen: Neben einem Übermaß an Medienkonsum im Sitzen spielen zahlreiche Faktoren wie die Art der Verpflegung, die steigenden Lebensmittelkosten, der sozioökonomische Status der Familie und die Bewusstheit der Eltern sowie vor allem auch Bewegung eine entscheidende Rolle.
Corona-Zeit: Pandemie der ungesunden Lebensweise
Die sogenannte „Corona-Pandemie“ steht ebenfalls in Verdacht, einen Anteil an der zunehmenden Anzahl übergewichtiger Kinder zu haben: Den Ergebnissen einer Elternumfrage aus dem Mai 2022 zufolge haben sich die Isolation in den eigenen vier Wänden, Spielplatzverbote und Schulschließungen bei parallelem Einbruch der Verdienstsituation vieler Eltern negativ auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von Kindern ausgewirkt.
Demnach bewegte sich fast die Hälfte der Kinder weniger, ein Viertel konsumierte mehr Süßwaren und Knabberzeug. Insgesamt 16 Prozent sind dadurch dicker geworden, bei den 10- bis 12-Jährigen sogar jeder Dritte. Kurz: Die einschränkenden Corona-Maßnahmen haben Menschen in prekären Verhältnissen oft stärker getroffen als Gutverdienende, die oftmals über mehr Wohnraum oder einen eigenen Garten verfügen.
Eine neue Studie der Uni Ulm („Jenseits der Korrelate: Das soziale Gefälle bei Übergewicht in der Kindheit“) hat das jetzt bestätigt und Weiteres herausgefunden: Kinder sind häufiger übergewichtig, wenn sie in einer Familie mit geringem Haushaltseinkommen oder Migrationshintergrund aufwachsen.
Wie die Großen, so die Kleinen?
Mittlerweile hat jeder neunte Erwachsene in Deutschland eine diagnostizierte Adipositas. Das bedeutet einen Anstieg um etwa ein Drittel von 2012 auf 2022. Die Deutsche-Adipositas-Gesellschaft geht zudem davon aus, dass ein Viertel aller Deutschen krankhaftes Übergewicht hat, welches noch gar nicht offiziell festgestellt und bestätigt wurde.
Der Ulmer Untersuchung nach ist nicht wesentlich relevant, ob ein Elternteil selbst Übergewicht hat, sondern der Bildungsstatus der Eltern. Gesundheitsbezogene Risiken – und das schon bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren – treten besonders in Familien mit niedrigem Bildungsniveau auf. Kurz: Nach der Studie ist die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht bei Kindern von Nichtakademikern doppelt so hoch wie bei Akademikerkindern. Ebenfalls erwähnenswert: Bei der Erhebung wurden Kinder entweder als „einheimisch“ oder als Kinder mit Migrationshintergrund eingestuft, wenn sie im Ausland geboren wurden oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde.
Eine Schlussfolgerung der Studie: „Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungshintergrund haben ein erhöhtes Risiko für Übergewicht, und zwar bereits in sehr jungen Jahren. Bildung im Allgemeinen (nicht explizit Gesundheitserziehung) scheint eine enorme Rolle bei der Prävention von Übergewicht und Adipositas zu spielen und sollte daher in Maßnahmen zur Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit einbezogen werden.“
Diese Korrelate zum „ungerechten Übergewicht“ seien nicht neu, kommentiert „Focus“-Experte Uwe Knop die Ergebnisse der Ulmer Untersuchung. Datenanalysen des Zusammenhangs zwischen Übergewicht und besonders Adipositas (Fettleibigkeit) und sozioökonomischem Status (SES = Bildung, Beruf, Einkommen) im Kindes- und Jugendalter zeigten eindeutig und eindrucksvoll, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich häufig betroffen sind, denn: Je niedriger der SES, umso höher ist die Adipositasrate.
Ein niedriger „Sozioökonomische Status“ (SES) ist oft mit einem höheren Risiko für Gesundheitsprobleme, Bildungsungleichheit und wirtschaftliche Schwierigkeiten verbunden, während ein höherer SES in der Regel mit besserem Zugang zu Ressourcen und besseren Lebensbedingungen einhergeht.
Bildung forciert gesunde Entscheidungen
Laut einem Gesundheitsmonitoring des Robert Koch-Instituts hat es in Familien mit niedrigem SES im Jahr 2017 fast fünfmal so viele fettleibige Kinder wie in Familien mit hohem SES gegeben. In vielen Fällen korreliert ein niedriger sozioökonomischer Status mit einem niedrigeren Bildungsniveau. Menschen mit geringerer Bildung haben möglicherweise ein begrenztes Verständnis für gesunde Ernährung und Lebensstil, was zu ungesunden Entscheidungen führen kann.
Buchautor Uwe Knop („Erfolgreich abnehmen und schlank bleiben“) schlägt deshalb im „Focus“ Alarm: „Bildung, Einkommen, Migrationshintergrund. Warum tut Regierung nichts für fettleibige Kinder?“ Knops wünscht sich eine Konzentration „aller politischen Maßnahmen aus den verantwortlichen Bundesministerien für Ernährung (BMEL), Gesundheit (BMG) und Familien (BMFSFJ) auf diese besonderes betroffenen Zielgruppen – ganz gezielt, denn gerade sie brauchen staatliche Unterstützung besonders dringend.“
Kann man die Politik überhaupt verantwortlich machen?
Wie die Ministerien sich hier selbst in der Verantwortung sehen, lassen deren Antworten auf Knops Anfragen erahnen:
Cem Özdemirs Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) habe derzeit keine konkreten Maßnahmen im Portfolio, die sich gezielt an besonders betroffene Zielgruppen richten, die ein sehr hohes Risiko für juvenile Adipositas haben: Laut „Focus“ sind das unter Berufung auf die Ulmer Studie „Kinder mit Migrationshintergrund aus einkommensschwachen Familien, deren Eltern selbst dick und schlecht gebildet sind“.
Das BMEL verfolgt nach eigenen Angaben einen ‚breiteren, ganzheitlichen Ansatz‘ und plant eine Beschränkung der Werbung allgemein in „allen für Kinder relevanten Medien“ für Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett und Salz.
Ernährungsbürgerrat: Dem Volke aufs oder ins Maul geschaut?
Auch das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) von Ministerin Lisa Paus vermeldete, dass es mit konkreten Maßnahmen „leider nicht weiterhelfen“ könne. Immerhin hat unter der Ägide von Paus der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ Ende Februar 2024 seine Empfehlungen zur Verbesserung der Ernährungspolitik verabschiedet.
Zu den neun Vorschlägen gehören unter anderem kostenloses Kita-Essen und gesunde Lebensmittel ohne Mehrwertsteuer. Ob diese Vorschläge aber in eine Gesetzgebung einfließen, steht in den Sternen, denn sie haben lediglich Empfehlungscharakter für die Politik. Epoch Times berichtete.
Das Landwirtschafts- und das Familienministerium verweisen beide auf das Gesundheitsministerium. Aber auch Lauterbachs BMG konnte gegenüber dem nachfragenden Magazin keine konkrete Maßnahme benennen, die sich gezielt/ausschließlich an die adipöse Hauptzielgruppe, Kinder aus Familien mit geringem Haushaltseinkommen, Migrationshintergrund und niedrigem Bildungsstatus der Eltern richten.
„Macht dick dumm oder dumm dick?“
Britischen Forscher fiel 2019 nach der Auswertung der Daten von fast 10.000 Menschen auf, dass Adipositas allem Anschein nach mit einem Rückgang des Hirnvolumens assoziiert ist.
Für die Querschnittsstudie wurde die UK Biobank herangezogen, wie die „Deutsche ApothekerZeitung“ unter dem Titel „Macht dick dumm oder dumm dick?“ berichtete. Bei fast zehntausend Personen waren nicht nur Körpergröße, Gewicht, Taillen- und Hüftumfang ermittelt, sondern es war auch eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns durchgeführt worden. Das so ermittelte Hirnvolumen wurde von den Forschern mit dem Body-Mass-Index (BMI) und dem Quotienten aus Taillen- und Hüftumfang in Beziehung gesetzt.
Normalgewichtige Personen hatten im Durchschnitt ein graues Hirnvolumen von 798 cm³. In diesem Teil des Gehirns befinden sich vorrangig Nervenzellkörper und damit die Schaltzentren des Körpers. Bei Personen mit einem hohen BMI (über 30) betrug das Hirnvolumen nur durchschnittlich 793 cm³. Mit 786 cm³ das geringste Hirnvolumen aber hatten Personen mit einem hohen Taille-Hüft-Quotienten, der auf eine Adipositas hindeutet.
Schlüsse wollte die Studie aus dieser Entdeckung indes keine ziehen. Denn auch die Möglichkeit einer umgekehrten Kausalität wurde in Betracht gezogen: In diesem Fall bedinge nicht Übergewichtigkeit das verminderte Hirnvolumen, sondern es verhalte sich umgekehrt: Das verhältnismäßig geringe Volumen der grauen Zellen wäre für die Adipositas zuständig.
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