Visa gegen Schmiergeld? Polnische Regierung steht vor den Wahlen massiv unter Druck
Ein Rückblick: Viele werden sich nicht mehr erinnern und Jüngere waren noch gar nicht geboren, als Außenminister Joschka Fischer der damaligen rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) um die Jahrtausendwende in einen Skandal verwickelt war, bei dem es um einen Erlass an deutsche Konsulate und Botschaften ging, freigiebiger mit Visa zu sein, als es die Rechtslage eigentlich zuließ.
Insbesondere über die deutsche Botschaft in Kiew führte das zu einem Missbrauch der Visaerteilung. In einem von der Union eingesetzten Untersuchungsausschuss sollte die Freigiebigkeit unter die Lupe genommen werden. Die rot-grüne Koalition sprach allerdings nur von Missbrauch und kriminellen Netzwerken. Ein Kölner Richter, der sich mit den Schleusungen befasste, nannte den Erlass aus dem Außenministerium hingegen einen „kalten Putsch gegen die bestehende Gesetzeslage“.
Ein Vierteljahrhundert später berichteten Medien erneut von einem Visaskandal – gigantischer und umfangreicher als der eingangs erwähnte. Dieses Mal allerdings steht die konservative polnische Regierung im Mittelpunkt der Ermittlungen um massenhafte illegale Visaerteilungen. Die Opposition in Polen spricht von hunderttausenden fraglichen Visa, die gegen eine Geldzahlung schneller ausgestellt worden sein sollen.
Nutznießer sollen hier vornehmlich Bürger afrikanischer und asiatischer Länder gewesen sein, die ihre Visa in polnischen Botschaften und Konsulaten erhielten. Das „ZDF“ berichtet, dass es jetzt um die Frage gehe, ob die Antragsteller über Vermittler große Summen für eine Bewilligung zahlten.
Natalie Steger, ZDF-Korrespondentin in Warschau, meint, dass faktisch kein Schengen-Land 2022 so viele Arbeitsvisa ausgegeben habe wie Polen. Wichtig ist hier zu wissen: Diese Visa sind kein rein polnisches Problem. Sie sind über die Schengen-Freizügigkeit automatisch auch ein Freifahrtschein in die Europäische Union.
Polen öffnet Tore in die EU am Weitesten
Das österreichische Portal „OE24“ berichtet, dass diese Visa den Migranten den Zugang zur EU und dem gesamten Schengen-Raum ermöglichen. Das Portal schreibt außerdem, dass nach derzeitigem Stand Polen in den vergangenen Jahren rund ein Drittel aller EU-Arbeitsvisa ausgestellt habe. In Zahlen seien das allein für 2022 etwa 700.000 Visa, gefolgt von Deutschland mit 540.000 und Spanien mit 460.000 Visa. Nach den Zahlen für das Jahr 2023 gefragt, verweigere Polens Regierung bisher die Angaben gegenüber der EU.
Die polnische Regierung ist jetzt massiv unter Druck geraten. Am vergangenen Freitag teilte Justizminister Zbigniew Ziobro mit, der für konsularische Angelegenheiten zuständige Vize-Außenminister Piotr Wawrzyk sei nach einem Selbstmordversuch in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Einige polnische Medien sehen in dem Politiker den Drahtzieher hinter dem System der korrupten Visavergabe.
Der amtierende Außenminister Zbigniew Rau sieht indes keinen Anlass für seinen Rücktritt. Gegenüber der polnischen Nachrichtenagentur „PAP“ erklärte sich der Minister mit folgenden Worten: „Ich denke nicht daran, zurückzutreten, und es gibt keine Visaaffäre.“
Die Diskrepanz zwischen den von der Opposition behaupteten bis zu 350.000 Fällen und einer von Rau genannten Anzahl betroffener Visaerteilungen könnte kaum größer sein. Laut „Spiegel“ erklärte der Außenminister, es gehe bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft um gerade einmal 200 Visa.
Staatsanwälte und das staatliche Antikorruptionsbüro meldeten am 14. September, dass sieben Personen – keiner von ihnen Staatsbeamter – wegen des Verdachts auf Korruption im Zusammenhang mit Arbeitsvisa festgenommen worden seien.
Für die konservative polnische Regierung kommt dieser Visaskandal zur Unzeit. Am 15. Oktober wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Der Wahlkampf wird von Regierungsseite auch mit der Forderung nach einer radikalen Begrenzung der Zuwanderung geführt. So plant die konservative Regierung unter anderem ein Referendum über den Asyl-Kompromiss der EU, wie Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von der konservativen PiS-Partei per Twitter angekündigt hatte.
Deutsche Visaaffäre im Jahr 2000
Daniel Caspary, der Chef der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, kommentierte die Vorwürfe gegenüber „Bild“ so:
„Wir brauchen schnell Klarheit. Wenn die Vorwürfe stimmen, dann wäre das eine riesige Schweinerei. Die Zahlen, die im Raum stehen, machen einen fassungslos. Man könnte annehmen, dass Teile der PiS-Regierung anderen Ländern in Europa vorsätzlich schaden wollen oder tief in organisierte Kriminalität verstrickt sein könnten. Eigentlich beides unvorstellbar.“
Schnelle Aufklärung und volle Transparenz seien jetzt gefragt: „Die EU-Kommission muss dies nun schnellstmöglich bei der PiS-Regierung einfordern“, so Caspary weiter.
Der EU-Abgeordnete Daniel Freund (Grüne) äußerte sich ebenfalls gegenüber der Zeitung: „Es kann nicht sein, dass EU-Pässe und EU-Visa einfach verkauft werden. […] Wenn unabhängige Gerichte und der Rechtsstaat von der polnischen PiS-Regierung kaputt gemacht werden, dann kommt es irgendwann zu Korruption. Die EU-Kommission muss sich diesen Fall konkret anschauen.“
Bereits im Jahr 2000 kam es unter dem grünen Außenminister Joschka Fischer zur Visaaffäre. Derzeit litten die verantwortlichen Diplomaten unter „Gedächtnislücken“.
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