NATO-Beitritt: Der Stolperstein im „Siegesplan“ der Ukraine
Auf dem NATO-Gipfel in Litauen im vergangenen Jahr einigten sich die Verbündeten darauf, den Antrag der Ukraine auf Mitgliedschaft zumindest vorübergehend zugunsten von vage definierten „Sicherheitsabkommen“ zwischen Kiew und einzelnen Mitgliedstaaten aufzuschieben.
Doch da sich die Lage auf dem Schlachtfeld in Kiew verschlechtert, scheint die Möglichkeit eines NATO-Beitritts der Ukraine – in nicht allzu ferner Zukunft – wieder auf dem Tisch zu liegen.
NATO-Beitritt Teil des „Siegesplans“?
„Die NATO bemüht sich um ein exquisites Gleichgewicht zwischen der Aufrechterhaltung der ukrainischen Verteidigung und dem Versuch, den Konflikt zu deeskalieren und das Risiko eines direkten Konflikts mit Russland zu minimieren.“ Das sagte Andrew Corbett, Dozent für Verteidigungsstudien am King’s College London, gegenüber der Epoch Times.
„Das ist letztlich inkohärent, da es die Qualen der Ukraine nur verlängert“, sagte Corbett.
Im vergangenen Monat legte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Vertretern des Weißen Hauses einen lang erwarteten „Siegesplan“ zur Besiegung Russlands vor.
Einzelheiten wurden nicht öffentlich bekannt gegeben. Laut Andrij Jermak, dem wichtigsten Berater von Selenskyj und Leiter des Präsidialamtes der Ukraine, sieht der Plan jedoch unter anderem einen beschleunigten Beitritt der Ukraine in die NATO vor.
Der türkische Politologe Mehmet Seyfettin Erol sagte hingegen, dass ein solcher Antrag jedoch „unter den gegenwärtigen Umständen nicht sehr realistisch“ ist. „Selbst vor dem Krieg, als die Bedingungen günstiger waren, wurde diese Forderung aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den NATO-Mitgliedstaaten und Unsicherheiten in der ukrainischen Politik nicht umgesetzt“, sagte Erol gegenüber der Epoch Times.
Auf einem Gipfel in Bukarest im Jahr 2008 einigten sich die NATO-Verbündeten darauf, dass die Ukraine dem Bündnis eines Tages beitreten würde. Doch Kiew stellte erst Ende 2022 einen formellen Antrag auf Mitgliedschaft – etwa sechs Monate, nachdem Russland seine Invasion in der Ostukraine gestartet hatte. Zwei Jahre später wurde die Ukraine bisher nicht zum Beitritt eingeladen, obwohl die meisten NATO-Mitglieder die Kriegsanstrengungen Kiews uneingeschränkt unterstützten.
Bedingungen müssen erfüllt sein
Im Juli wiederholten die 32 Mitgliedsstaaten des Verteidigungsbündnisses auf einem wegweisenden NATO-Gipfel in Washington, D.C. das Mantra: „Die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO.“ In einer gemeinsamen Erklärung hieß es: „Wir werden sie [die Ukraine] weiterhin auf ihrem unumkehrbaren Weg zur vollständigen euro-Atlantischen Integration, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft, unterstützen.“
Doch wie schon auf dem Litauen-Gipfel im vergangenen Jahr erklärten die Mitglieder auch dieses Mal, dass die Ukraine erst dann zum Beitritt eingeladen werde, wenn „die Verbündeten zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind“. Die in Brüssel ansässige Führung der NATO hat unterdessen keinen Hehl aus ihrem Wunsch gemacht, die Ukraine als Mitglied im Bündnis zu sehen.
Nachdem Mark Rutte Anfang Oktober Jens Stoltenberg als NATO-Chef abgelöst hatte, reiste der ehemalige niederländische Ministerpräsident nach Kiew. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Selenskyj am 3. Oktober erklärte Rutte, dass die Ukraine „der NATO heute näher ist als je zuvor“. Weiter sagte er: „Und wir werden diesen Weg weitergehen, bis Sie [die Ukraine] Mitglied unseres Bündnisses sind“, fügte er hinzu.
Die Verbündeten sind gespalten
Doch trotz des Optimismus des neuen Generalsekretärs gibt es immer noch eine Handvoll Verbündeter, die Vorbehalte äußern. Recep Tayyip Erdoğan, Präsident des NATO-Mitglieds Türkei, sagte kürzlich, dass die Frage des NATO-Beitritts der Ukraine nicht „überstürzt“ werden sollte.
In seinen Äußerungen gegenüber dem US-Fernsehsender NBC im September sagte Erdoğan, dass einige NATO-Verbündete „nicht wollen, dass die Ukraine ein Mitgliedsstaat wird“. Er fügte hinzu: „Wenn wir Entscheidungen [über die Aufnahme neuer Mitglieder] treffen, berücksichtigen wir immer die Haltung anderer NATO-Mitgliedsstaaten.“ Bevor sie dem westlichen Bündnis beitreten können, müssen potenzielle neue Mitglieder zunächst die Zustimmung aller bestehenden NATO-Mitglieder einholen.
Robert Fico, Ministerpräsident des NATO-Mitgliedslandes Slowakei, hat sich direkter gegen den Beitritt der Ukraine zum atlantischen Bündnis ausgesprochen. Vor kurzem versprach Fico, solange er im Amt bleibe, sein Veto gegen den Beitrittsantrag Kiews einzulegen. „Solange ich Regierungschef der Slowakei bin, werde ich die Abgeordneten, die unter meiner Kontrolle stehen, anweisen […] dem NATO-Beitritt der Ukraine niemals zuzustimmen.“ Das sagte er laut „Euro News“ am 6. Oktober dem slowakischen Sender „STVR“.
Seit seinem Amtsantritt im vergangenen Jahr hat sich Fico als scharfer Kritiker der uneingeschränkten Unterstützung des Westens für die Ukraine geäußert und Verhandlungen mit Russland gefordert. Er behauptete außerdem, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO, insbesondere zum jetzigen Zeitpunkt, „eine gute Grundlage für einen dritten Weltkrieg wäre“.
Der Außenminister des NATO-Mitgliedslandes Ungarn äußerte kürzlich ähnliche Ansichten. Bei einer Presseveranstaltung des Außenministeriums am 8. Oktober in Budapest warnte er, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO während des Krieges mit Russland einen größeren Konflikt auslösen könnte.
„Jeder, der bei klarem Verstand ist und darüber nachdenkt, möchte diese Gefahr nicht heraufbeschwören“, sagte Péter Szijjártó. „Die Position Ungarns ist also klar. Es gibt keine Möglichkeit für die Ukraine, der NATO beizutreten.“
Eine mögliche „Kriegserklärung“
Die Angst vor einer Eskalation rührt größtenteils von Artikel 5 der NATO-Charta her. Dieser verpflichtet die Bündnismitglieder dazu, einander zu verteidigen, wenn eines von ihnen einem Angriff von außen ausgesetzt ist.
Einige Verbündete befürchten, dass sie mit einem NATO-Beitritt der Ukraine aufgrund von Artikel 5 de facto zu Teilnehmern des anhaltenden Konflikts mit Russland werden.
„Die NATO-Mitglieder wollen keine weitere Eskalation durch Russland provozieren“, sagte Erol, Gründer und Präsident des Ankara Center for Crisis and Policy Studies. Er fügte hinzu, dass der russische Präsident Wladimir Putin „deutlich gemacht hat, dass Moskau die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als Kriegserklärung betrachten würde“.
Putins Einmarsch als Reaktion
Von Anfang an hat Russland erklärt, dass seine „besondere Militäroperation“ in der Ukraine eine „natürliche Reaktion“ auf die langsame, aber stetige NATO-Osterweiterung der letzten drei Jahrzehnte sei.
Die NATO ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 immer näher an die Grenzen Russlands gerückt – trotz laut Moskau früherer Zusagen, dies nicht zu tun.
Im Juni wiederholte Putin die Bedingungen Moskaus für die Beendigung des Konflikts in der Ukraine. Er fordert den Abzug der ukrainischen Streitkräfte aus allen von Russland beanspruchten Gebieten. Zudem soll garantiert werden, dass die Ukraine für immer außerhalb des Einflussbereichs der NATO bleibt.
NATO-Beitritt der Ukraine derzeit nicht möglich
Corbett spielte die Bedenken herunter, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO unweigerlich zu einem globalen Krieg führen würde. „Artikel 5 ist nicht so einfach wie der oft zitierte Grundsatz ‚Angriff gegen einen ist ein Angriff gegen alle‘“, sagte er. „Damit ein Staat der NATO beitreten kann, müssen alle bestehenden Mitglieder zustimmen.“
„Und angesichts der politischen Ausrichtung einiger dieser Staaten, einschließlich der Möglichkeit einer Trump-Präsidentschaft [in den USA], scheint dies äußerst unwahrscheinlich“, erklärte Corbett.
„Staaten, die sich tatsächlich in einem Krieg befinden, können [dem Bündnis] ohnehin nicht beitreten“, fügte er hinzu. „Daher ist die Möglichkeit, dass die NATO in einen Krieg mit Russland hineingezogen wird – durch die sofortige Aufnahme der Ukraine – ebenfalls unwahrscheinlich.“
In früheren Äußerungen haben US-Beamte erklärt, dass die Ukraine erst nach Beendigung des Krieges der NATO beitreten würde.
„Wir haben schon seit einiger Zeit klargestellt, dass dies letztlich ein Prozess ist, der sich am Ende dieses Konflikts weiterentwickelt“, sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums im April.
„Land für NATO“-Vereinbarung möglich?
Ein Vorschlag für eine „Land für NATO“-Vereinbarung, bei der Russland de facto die Kontrolle über die Gebiete behalten würde, die seine Streitkräfte bereits halten, wurde in den vergangenen Jahren immer wieder diskutiert. Die Idee, die manchmal auch als Modell Westdeutschland bezeichnet wird, hatte der damalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Juli abgelehnt.
Der Vorschlag sah vor, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen werden sollte – trotz Moskaus vehementen Widerstand gegen einen solchen Schritt.
Corbett ist überzeugt, dass diese Idee angesichts der erklärten Abneigung Kiews, territoriale Zugeständnisse zu machen, wenig Aussicht auf Erfolg hat. Diejenigen, die sich für eine solche Regelung einsetzen, „scheinen zu vergessen, dass die Ukraine ein souveräner Staat mit eigener Entscheidungsfreiheit ist“.
„Selbst mit dem Versprechen einer NATO-Mitgliedschaft […] glaube ich nicht, dass Selenskyj diese Regionen seines Staates Russland überlassen würde“, erklärte Corbett.
Darüber hinaus, so fügte er hinzu, würde ein solcher Schritt „Russland lediglich ermöglichen, sich neu zu formieren und zu stärken, bevor es zu einem für Russland günstigen Zeitpunkt erneut angreift“.
Treffen in Ramstein abgesagt
Am vergangenen Samstag, 12. Oktober, wollten sich die Führer der NATO-Länder, darunter auch US-Präsident Joe Biden, in auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Ramstein treffen. Dort sollte Selenskyj seinen Plan für den Sieg vorstellen. In letzter Minute sagte Biden jedoch unter Berufung auf Wetterkatastrophen im Süden der USA seine Teilnahme an dem Treffen ab.
Bald darauf wurde die gesamte Veranstaltung, die die anhaltende Unterstützung des Westens für die Ukraine unterstreichen sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben. „Wir arbeiten noch daran, wie genau das Engagement in Ramstein aussehen könnte“, sagte eine Sprecherin des Weißen Hauses am 8. Oktober. “Unser Engagement für die Ukraine war ein wichtiger Teil davon, und daran wird sich nichts ändern.“
Aktuellen Meldungen zufolge wird Biden bei seinem jetzt für Freitag festgelegten Deutschlandbesuch nur Berlin besuchen, um sich mit dem Bundeskanzler und -präsidenten zu treffen.
Nach der plötzlichen Absage des Treffens scheint das Schicksal von Selenskyjs „Siegesplan“ nun immer ungewisser. „Es gibt einen ernsthaften Mangel an Vertrauen in Selenskyjs Plan“, sagte Erol. „Die ukrainische Armee ist nun gefangen zwischen Versprechungen [eines Sieges gegen Russland] und der Realität vor Ort.“
Laut Corbett ist Selenskyjs Plan „ebenso ein Instrument, um die Unterstützung des Westens – auf Führungsebene und in der Öffentlichkeit – zu beeinflussen, wie ein tragfähiger militärischer Plan, um auf dem Schlachtfeld erfolgreich zu sein.“ Er fügte hinzu: „Es ist sehr einfach, von einem ‚Sieg‘ zu sprechen, wenn die Bedingungen dieses Sieges nicht definiert sind. Und ich würde vorschlagen, dass diese Bedingungen im Moment recht fließend sind.“
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „Joining NATO Is Stumbling Block in Ukraine’s ,Victory Plan’“. (deutsche Bearbeitung mf)
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