Über die Gedanken von BRD- und DDR-Bürgern: Demokratie vor und nach dem Mauerfall

In dem Buch „Tausend Aufbrüche“ geht die Historikerin Christina Morina explizit auf die politischen Äußerungen von BRD- und DDR-Bürgern ein. Nun wurde sie dafür mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2024 ausgezeichnet. Eine Buchrezension.
Titelbild
Unterschiedliche Demokratieverständnisse in Ost- und Westdeutschland seit den 1980er-Jahren anhand wenig beachteter Quellen, so die Jury des Deutschen Sachbuchpreises 2024.Foto: iStock
Von 4. Juli 2024

Christina Morina ist eine deutsche Historikerin und an der Universität Bielefeld als Hochschullehrerin tätig. Im September 2023 erschien ihr Buch „Tausend Aufbrüche“ im Siedler Verlag. Der Untertitel verrät das Thema des Buches: „Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren.“

Am 11. Juni 2024 wurde Morina für dieses Werk der Deutsche Sachbuchpreis 2024 überreicht. Als Preisträgerin erhielt sie ein Preisgeld von 25.000 Euro, die weiteren sieben Nominierten bekamen jeweils 2.500 Euro.

Demokratie von unten

Morina beschreibt zu Beginn ihres Buches, was sie in den Kartons findet, die ihr aus einem Archiv gebracht wurden. Darin findet Morina „Hunderte von Flugblättern, Briefen, Konzeptpapieren und Demozetteln aus den Monaten rund um den Mauerfall.“ Der politische Gestaltungswille, der sich in den Unterlagen zeigt, fasziniert sie.

Daher hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, aus vielen dieser Dokumente zu zitieren, um ebendiesen Gestaltungswillen aufzuzeigen. Das Besondere an Morinas Werk ist, dass sie dafür Niederschriften von Bürgerinnen und Bürgern aus der BRD wie auch aus der DDR verwendet.

Es ist nicht Morinas Hauptanliegen, die Dokumente nur streng zu vergleichen. Sie stellt die „subjektive Ebene“ der Schriften in den Vordergrund. An einigen Stellen werden durchaus Vergleiche gezogen, aber das Leitthema des Buches sind eben die unterschiedlichen „Vorstellungen von Demokratie, (Staats-)Bürgersein, Partizipation und Repräsentation“, die in den Papieren zu finden sind.

Für Morina erzählen die vielen unterschiedlichen Dokumente eine „Demokratiegeschichte seit den 1980er Jahren“. Auch wenn die DDR eine Diktatur war, so zählt Morina sie zu ebendieser Demokratiegeschichte. Denn sie plädiert dafür, die DDR als „Demokratieanspruchsgeschichte“ zu verstehen.

Letztlich geht es aber in dem größten Teil des Buches um die erwähnten Niederschriften, die auf beiden Seiten der Mauer erstellt wurden. Für die Historikerin ist das eine „Kulturgeschichte von ‚unten‘“.

Unterschiedliche Erfahrungsräume

Zwischen der Einleitung und dem Fazit schreibt Morina in fünf Kapiteln zum Beispiel über das Wesen eines Staatsbürgers in der BRD wie auch in der DDR, über ihre politischen Erfahrungsräume, die Gesellschaft vor und nach dem Mauerfall, wie auch über die Bedeutung einer ostdeutschen Kanzlerin. Am Ende von jedem Kapitel gibt es ein kurzes Resümee.

Die vielen unterschiedlichen Dokumente, aus denen Morina zitiert, bilden die Grundlage für die ersten vier Kapitel. Auf der Seite der West-BRD handelt es sich um „Briefe von Privatpersonen an die Bundespräsidenten Karl Carstens (1979–1984) und Richard von Weizsäcker (1984–1994)“.

Bei den Dokumenten für die DDR handelt es sich um zwei verschiedene Arten von Schriften. Es sind zu einem Teil die Dokumente, die „im weitesten Sinne zur Dienstkorrespondenz von MfS-Angehörigen auf der zentralen, Bezirks- und Kreisebene“ gehörten.

Der andere Teil besteht aus Dokumenten, die nicht für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gedacht waren, aber letztlich dort gelandet sind. Das geschah mit den zumeist anonym geschriebenen Briefen, die als „Hetzschriften“ kategorisiert wurden. Das MfS versuchte daher, ihre Verfasser ausfindig zu machen.

Die Themen der Bürger

Die zahlreichen Äußerungen der BRD- und DDR-Bürger, die vor allem in den ersten vier Kapiteln von „Tausend Aufbrüche“ so zahlreich zitiert werden, bilden das Kernstück des Buches und sind es wert, gelesen zu werden.

Ihr Tonfall ist oft ernst, manchmal amüsant. So schlug eine Frau weitere Steuern für Rentner vor und den Bundespräsidenten erreichte einmal die Frage, zu welcher Uhrzeit die BRD denn überhaupt gegründet worden sei. Die Antwort kam vom Bundesjustizministerium und lautet „um 0.00 Uhr am 24. Mai 1949“.

Bonn und Berlin

Zu den ernsten Anliegen gehört auch der Umzug des Parlaments und eines großen Teils der Regierung von Bonn nach Berlin. Für die Bürger aus Westdeutschland stand laut Morina oft ihre „Bonner Prägung“ im Vordergrund.

Dagegen verbanden die DDR-Bürger „die Hauptstadtfrage“ häufig mit dem dunklen Vermächtnis der SED. Diese Ansicht teilten auch eine Ärztin aus Freiburg und ein Hochschullehrer aus Bonn, sie sprachen sich daher gegen Berlin aus.

Ein Mann aus Dresden argumentierte in die gleiche Richtung. Er wendete sich an Weizsäcker und sprach sich für die „Entfernung der sozialistischen Symbole im ganzen Land“ aus.

Der mündige Bürger

In den Briefen der BRD- wie auch DDR-Bürger stellt Morina „einen ausgeprägten bürgerschaftlichen Mitwirkungs- und Mitverantwortungsanspruch“ fest. In den Schriften der DDR-Bürger macht sich allerdings ein Gefühl breit, das in dieser Intensität nur dort zu finden ist.

Es ist der Eindruck und auch das Erlebnis der Leute, wie es ist, von der eigenen Regierung „für »unmündig« gehalten“ zu werden. In den Schriften macht sich mitunter die Ohnmacht breit. So kam es dazu, dass das Wort „»Mündigkeit«“ ein wichtiger Terminus in der Diskussion über die Souveränität wurde.

Weil jedoch nicht alle Bürgerinnen und Bürger ihre Erlebnisse und auch Vorstellungen in Bürgerschreiben, Briefen oder Petitionen festgehalten haben, ist die repräsentative Aussagekraft laut Morina gering. Das ändert aber nichts an den interessanten Einblicken in die Gedankenwelt der Staatsbürger.

Einseitige Betrachtung

Das fünfte Kapitel von „Tausend Aufbrüche“ trägt den Titel „Umbruch, Aufbruch, AfD: Ambivalenzen der Demokratie in der Ära Merkel“. In diesem Kapitel führt Morina das aus, was bereits in der Einleitung anklingt.

Sie konzentriert sich zu einem großen Teil auf die Arbeit der Partei AfD, was zum Thema ihres Buches passt. Doch der besagte Abschnitt ihres Buches wirkt an mehreren Stellen so, als würde sie die AfD mehr aus ihrer privaten Sicht, als aus der Perspektive einer Historikerin betrachten.

Unabhängig davon, wie man persönlich zu der AfD steht, zeigen die folgenden zwei Beispiele, an welchen Textstellen Morina einseitig vorgeht und persönlich wird.

So erwähnt sie, dass der Vorsitzende der AfD, Alexander Gauland, die Regierung laut eigener Aussage „jagen“ wolle. Laut Morina führte unter anderem diese Aussage „zu einer Entgrenzung der Gewalt“.

Unerwähnt bleibt leider, dass der Begriff „jagen“ bereits Jahre vorher auch von anderen prominenten Politikern in einem ähnlichen Kontext gebraucht wurde: 1994 von Ludger Volmer (Bündnis 90/Die Grünen) in Richtung des Kanzlers Helmut Kohl (CDU) und 2013 vom heutigen Finanzminister Christian Lindner (FDP) in Bezug auf die SPD-Politikerin Hannelore Kraft.

Beide Sätze fallen genau in die von Morina in ihrem Buch untersuchte Zeit.

An anderer Stelle im selben Kapitel analysiert Morina die Einstellung der AfD-Wähler, indem sie auf aktuelle Forschungen verweist. Sie erwähnt, dass sich unter den AfD-Wählern „etwa 5 Prozent mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild“ befinden.

Auch Morinas Verweis auf die Zusammensetzung dieser Wähler passt zum Thema ihres Buches. Allerdings setzt sie wenig respektvoll den erwähnten Anteil an AfD-Wählern in Analogie zu einem unliebsamen Rest. Ihrer Ansicht nach ist das der Teil eines „Bodensatzes“. Einige Zeilen später auf derselben Seite wendet sie diesen Begriff noch ein weiteres Mal in Bezug auf die Wähler der AfD an.

Interessante Einblicke

Christina Morina gibt den Lesern in „Tausend Aufbrüche“ mit den Schriftstücken, aus denen sie zahlreich zitiert, einen interessanten Einblick in die Gedankenwelt der BRD- und DDR-Bürger. Allein dafür lohnt sich dieses Buch.

Leider gerät das ansprechende Leitthema des Buches zum Ende hin aus dem Fokus. Die vielen unterschiedlichen Meinungen der Staatsbürger müssen einer eher einseitigen Betrachtung der AfD und einer unkritischen Haltung gegenüber der Regierung Merkel weichen.

„Tausend Aufbrüche – Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren“, Christina Morina, Siedler Verlag, ISBN: 978-3-8275-0132-5, Hardcover, 28,00 €[D] inkl. MwSt., 28,80 € [A], CHF 37,90 * (* empf. VK-Preis)

 

Über den Autor:

Ronny Ebel ist Literaturwissenschaftler und im Begriff, sein Philosophiestudium an der Humboldt-Universität Berlin abzuschließen. Er beschäftigt sich mit menschlichem Verhalten und den Auswirkungen ihrer Handlungen. Seinen Fokus legt er auf Verantwortung und demokratische Partizipation.



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