China: Festgefrorene Medienlandschaft
24. Januar 2006, der Uhrzeiger steht auf 16 Uhr. Li Datong, Chefredakteur des Wochenmagazins Der Gefrierpunkt, sitzt in seinem Pekinger Redaktionsbüro. Die Druckfahnen des neuen Magazins liegen redigiert auf seinem Tisch. Es fehlt nur noch der letzte Schritt im alltäglichen Arbeitsablauf. Die korrigierten Druckfahnen müssen zur letzten Kontrolle nochmals in die Chefredaktion von China Youth Daily, der Jugendzeitung Chinas, zu dessen Verlag Lis Redaktion auch gehört. Erst nach Freigabe durch die Chefredaktion des Verlagshauses dürfen die Daten für das Magazin, das am nächsten Tag als Beilage der Mittwochsausgabe der Jugendzeitung erscheinen soll, an die Druckerei geschickt werden. Li wartet auf die Freigabe.
Die Zeit vergeht. Keine Rückmeldung seitens der Chefredaktion des Hauses. Li fragt im Sekretariat nach, erfährt dort, dass die komplette Chefetage zu einer dringenden Sitzung ins Zentralkomitee des kommunistischen Jungendverbandes gefahren sind. Li versteht ein solches Zeichen zu deuten: etwas Ungewöhnliches wird wohl gleich passieren.
Auf Kritiken ist er vorbereitet. In der vergangen Zeit hat es an Vorwürfen von oben nicht gefehlt. Gerade vor zwei Tagen wurde noch von der Kontrollgruppe des Ministeriums für Propaganda scharf kritisiert, dass er die Veröffentlichung eines Artikels über die Geschichtsbücher in China im Gefrierpunkt zugelassen hat. In diesem Artikel hat sich der Autor, ein Universitätsprofessor aus Südchina, eine gewagte Anspielung erlaubt, indem er schrieb: „In den 70er Jahren hat man nach den drei Katastrophen der Anti-Rechts-Bewegung, dem Großen Sprung nach Vorne bis zur Kulturrevolution mit Schmerzen festgestellt, dass einer der Gründe für die Katastrophen darin lag, dass wir alle mit Wolfsmilch aufgezogen wurden. … Zwanzig Jahre danach habe ich in der Schule per Zufall in den Geschichtsbüchern geblättert. Was mich überrascht hat, ist die Tatsache, dass unsere Jugendlichen weiterhin mit Wolfsmilch ernährt werden.“ Li wundert sich nicht über die Wut der Parteiführung, denn hier wird die Partei einem fleischfressenden Wolf gleichgestellt und dessen Unmenschlichkeit vorgeworfen.
Li Datong ahnt, dass für ihn der Zeitpunkt gekommen ist, den Stuhl des Chefredakteurs vom Gefrierpunkt räumen zu müssen.
Kurz nach 17Uhr wird Li von besorgten Anrufen der Redakteursfreunde aus dem ganzen Land bombardiert. „Berichte über die Einstellung vom Gefrierpunkt verboten“, „Kommentare über den Vorfall vom Gefrierpunkt nicht erlaubt“, „Keiner darf an der Pressekonferenz der Gefrierpunkt-Redaktion teilnehmen, falls sie eine organisiert“, „Jeder muss von der Gefrierpunkt-Redaktion Abstand halten“…, so erfährt Li auf vielen Umwegen, welche Anweisungen das Ministerium für Propaganda, das Presseamt des Staatsrates und das Presseamt der Stadt Peking bereits auf den Weg gebracht haben. Li ist zweifellos der letzte, der über sein eigenes Schicksal, das Schicksal seiner Redaktion, informiert wird.
19 Uhr 30, das Telefon klingelt auf seinem Tisch. Der Geschäftsführer des Verlagshauses und der Chefredakteur möchten ihn persönlich sprechen. Li stellt fest, dass für eine Stellungnahme seinerseits überhaupt keine Zeit vorgesehen ist. Ihm wird lediglich „die Entscheidung des Zentralkomitee des kommunistischen Jugendverbandes mitgeteilt“, sie lautet: das Magazin Gefrierpunkt wird ab sofort eingestellt. Neben einer öffentlichen Kritik wird auf die Redaktion auch eine Geldstrafe zukommen.
Obwohl Li mit seiner Entlassung gerechnet hat, überrascht ihn die Einstellung des Magazins nun doch. Immerhin steht die Redaktion ihren Abonnenten gegenüber in der Lieferungspflicht.
Es ist keine Seltenheit, dass es den einen oder anderen Redakteur den Job kostet, wenn er sich die Freiheit erlaubt hat, kritische Artikel oder solche, die der Parteilinie nicht entsprechen, drucken zu lassen. Als Chefredakteur sitzt er wie alle anderen Redakteure der staatlichen Medien in der Klemme. Durch die Privatisierung der staatlichen Unternehmen und die Steigerung der Anzahl der Joint-Ventures gibt es immer weniger staatliche Firmen, die die Parteizeitungen, staatlich angeordnet, abonnieren. Auch wenn die erfahrenen Redakteure die Spielregeln in den staatlich kontrollierten Medien allzu gut kennen und wissen, dass sie die Partei nicht herausfordern dürfen, müssen sie sich Gedanken darüber machen, wie sie selbst für die Geldeinnahme sorgen können. Mit politisch korrekten Inhalten lassen sich die Zeitungen jedoch nicht gut verkaufen. Somit machen die Redakteure einen ständigen Spagat zwischen der Orientierung an politischen und an wirtschaftlichen Vorgaben, immer wieder verbunden mit der Gefahr, so und so scheitern zu müssen.
Ein Anruf seines Internetproviders um genau 20 Uhr rundet den ungewöhnlichen Tag des resignierten Chefredakteurs ab: sein privater Blog ist abgeschaltet. „Sonst wird man uns laut Anweisung von oben komplett vom Internet abtrennen. Dann wäre die gesamte Kundschaft betroffen“, bittet der Internetprovider Li um Verständnis.
Li sitzt da. Er weiß, er sollte schweigen. Aber das möchte er eben nicht. Er hat fest vor, eine Eingabe gegen die Entscheidung des Ministeriums für Propaganda einzureichen, das gibt er in einem telefonischen Interview bekannt.
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