Warum das Mittelalter gar nicht so düster war

Schmutzige stinkende Straßen, gewalttätiges unmoralisches Handeln, Hunger, Krieg, Krankheiten und Tod: So wird das Mittelalter häufig beschrieben oder dargestellt. Doch dieses düstere Bild wird der Epoche zumindest in der Kunst nicht gerecht.
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Die Sainte-Chapelle in Paris (Frankreich) begeistert unzählige Besucher mit ihrem Farbspiel.Foto: iStock

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Das Mittelalter begann im 4. Jahrhundert mit der zunehmenden Bedeutung des Christentums in Westeuropa und reichte bis zur Zeit der gotischen Kunst vom 13. bis 15. Jahrhundert. Diese Epoche wird in Filmen, in der Literatur und in der romantischen Malerei typischerweise als düster und unheimlich dargestellt. Szenen wie gravierende Krankheiten oder schmutzige, ungesunde Städte und Gebäude prägen die europäische Bildkunst.

Besonders Hollywood-Klassiker wie „Die Säulen der Erde“ oder „Game of Thrones“ vermitteln das Bild von kühlen und düsteren Gebäuden und einer von Krieg, Gewalt und Tod beherrschten Gesellschaft. Das Mittelalter ist also seit jeher durch schlammige Straßen, kalte Paläste, raue Steinmauern und eine insgesamt bedrückende Atmosphäre gekennzeichnet.

Das Mittelalter wird in der Kunst oft kriegerisch und düster dargestellt

„Raub der Sabinerinnen“, Historiengemälde von Nicolas Poussin (1594–1665). Foto: Gemeinfrei

Mit ihren stetig neuen Erkenntnissen durchbrechen europäische Mittelalterforscher seit Jahrzehnten langsam das düstere Bild. Dank des Studiums der schriftlichen und archäologischen Quellen und vor allem der physischen Gegenstände und Gebäude zeichnet sich vielmehr ein erstaunlich buntes Panorama ab.

Fenster in eine andere Welt

Viele Historiker und Archäologen beschäftigen sich beispielsweise mit der mittelalterlichen Kunst und Architektur des 4. Jahrhunderts. Jene Gebäude, die die Zeit bis heute überdauerten, sind in vielen Fällen stark verändert worden oder (fast) zerstört, weshalb ihre ursprüngliche Erscheinung nur noch schwer bis kaum wahrnehmbar ist.

Mithilfe historischer Quellen, Ausgrabungen und virtuellen Modellen können Forscher diese wieder zum Leben erwecken. Ein Beispiel dafür ist die alte Petersbasilika, die von Kaiser Konstantin in der Vatikanstadt errichtet wurde. Inzwischen ist sie abgerissen worden und durch den heutigen Petersdom ersetzt worden.

Für viele ist der Anblick überraschend: denn das Innere des Gebäudes war voller Farben. Dank der großen Fenster war es luftig und hell, und die Ausstattung war prächtig, sodass es die schlanken Proportionen der Säulen zur Geltung brachte.

Die Kunst im Mittelalter war hell statt düster: Ulmer Münster

Blick auf den Chor des Ulmer Münsters. Foto: iStock

Die Basilika mit ihrem Marmor, ihren Mosaiken, Textilien und anderen Elementen widerlegt den Mythos, dass mittelalterliche Architektur dunkel und düster war. Tatsächlich waren viele Gebäude des frühen Mittelalters in leuchtenden Farben bemalt – auch wenn der Zahn der Zeit von den empfindlichen Wandmalereien nicht viel übrig ließ. Diese Rekonstruktionen sind keine übertriebene Fantasie für ein Massenpublikum, sondern das Ergebnis jahrelanger Dokumentationsarbeit.

Die Klosterkirchen, Basiliken und Kathedralen dieser Epochen waren weder trostlos noch waren ihre Wände aus kühlem, nacktem Stein. Dies konnten Archäologen sogar bei Gebäuden nachweisen, die heute vollständig verschwunden sind – wie etwa der romanischen Kathedrale von Gerona (Spanien). Eine Rekonstruktion zeigt das prächtig glänzende Bild ihres Inneren: bemalte Wände, goldene und silberne Baldachine, reiche Stoffe sowie Kerzen und Lichter, die jeden Winkel beleuchteten.

Die Kunst im Mittelalter war hell statt düster: Kathedrale Notre Dame in Straßburg

Die Kathedrale Notre Dame in Straßburg (Frankreich) von innen. Foto: iStock

Buntes Lichtspektakel

Auch große gotische Kathedralen werden oft als dunkle, beunruhigende Gebäude dargestellt. Ein gutes Beispiel ist die Kathedrale Notre-Dame in Paris in Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ aus dem Jahr 1831.

Die Kunst im Mittelalter war hell statt düster: Notre-Dame de Paris (Frankreich)

Die echte Notre-Dame de Paris (Frankreich) ist heller und wärmer, als sie in Film und Büchern dargestellt wird. Foto: iStock

Dieses Bild könnte jedoch gar nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die technischen Fähigkeiten vieler Gebäude, die Architekten des 12. bis 15. Jahrhunderts errichteten, ermöglichten die Verwendung großer Glasfenster. Sie warfen schimmernde Lichtstrahlen ins Innere, die die Wände, Säulen und Einrichtungsgegenstände der Gebäude umschmeichelten. Außerdem erzeugte das Licht eine Atmosphäre, die die spirituelle Erfahrung der Gläubigen verstärkte und sie näher zu Gott bringen sollte.

Ein Großteil des Mobiliars dieser Gebäude ist seit langem verschwunden, aber die Studien von Forschern wie Fernando Gutiérrez Baños haben es uns ermöglicht, uns ein Bild davon zu machen, wie die Altaraufsätze und Reliquienschreine aussahen. All das konnten Forscher durch digitale Rekonstruktionen und den Wiederaufbau verlorener oder zerstörter Elemente erreichen.

Textilien und Wandteppiche bedeckten Wände, Böden und Altäre und verliehen diesen Kulträumen eine fast luxuriöse Ausstrahlung. Viele von ihnen gingen jedoch durch Brände, Feuchtigkeit oder Raubüberfälle verloren.

Die Kunst im Mittelalter war hell statt düster: Prager Veitsdoms (Tschechische Republik)

Innenraum des Prager Veitsdoms (Tschechische Republik). Foto: iStock

Mittelalter voller Farbe

Die großen gotischen Kathedralen Frankreichs – darunter Notre-Dame und die Kathedrale von Amiens – wurden von Wissenschaftlern dank Laser- und Strukturanalysetechniken eingehend erforscht. Ihre Studien spielten eine Schlüsselrolle bei der Entscheidung, wie diese Kirchen restauriert werden sollten – insbesondere im Fall von Notre-Dame, die 2019 durch einen Brand schwer beschädigt wurde.

Heute wissen wir, dass die mittelalterliche Kunst bunt und lebendig war. Das zeigt die Farbrestaurierung der Fassade der Kathedrale von Amiens, bei der die Skulpturen in kräftigen Rot- und Blautönen erstrahlten. Die Anwendung dieser Spezialtechniken in der mittelalterlichen Architektur und Kunst ist ein sehr nützliches Instrument, um die Vergangenheit besser zu verstehen.

Die Kunst im Mittelalter war hell statt düster: Kölner Dom (Deutschland)

Der Kölner Dom von innen. Foto: iStock

Wenn das Ziel darin besteht, wahrheitsgetreue Bilder der Bauwerke und dieser Zeit zu vermitteln, dann sind sorgfältige Studien der dokumentarischen Quellen, der Archäologie und der Kunstwerke unerlässlich. Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, kann die mittelalterliche Kunst in ihrer ganzen Klarheit Farbe und ihrem Licht erstrahlen.

Über die Autoren:

José Alberto Moráis Morán ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität von León (Spanien) mit dem Forschungsschwerpunkt auf das Mittelalter und das klassische Altertum.

María Dolores Teijeira Pablos ist ebenfalls Professorin für Kunstgeschichte an der Universität von León (Spanien) mit dem Forschungsschwerpunkt auf die Erforschung der spanischen Kunst des Mittelalters, insbesondere der Spätgotik.

Dieser Artikel erschien im Original auf theconversation.com unter dem Titel: „Challenging medieval art’s dark, gloomy reputation“, Übernahme und Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autoren (redaktionelle Bearbeitung kms)



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