Auf der Suche nach den Soldaten von Waterloo

1815 führte Napoleon Krieg gegen Preußen und England. Obwohl in der Schlacht bei Waterloo fast 50.000 Soldaten fielen, sind ihre Gebeine nicht auffindbar. Was ist mit den Toten geschehen?
Archäologen suchen nach den Soldaten von Waterloo
In der Schlacht bei Waterloo starben rund 50.000 Franzosen, Preußen und Briten, doch ihre Gebeine fehlen.Foto: Denis-Art/iStock
Von 5. Oktober 2024

Am Morgen des 18. Juni 1815 hing das Schwert des Damokles über dem kleinen belgischen Dorf Waterloo. Binnen eines Tages sollte dieser idyllische Ort 15 Kilometer südlich von Brüssel zu einem Schlachtfeld werden, auf dem Tausende französische, preußische und britische Männer den Tod fanden.

Die insgesamt 150.000 Soldaten kämpften für ihre Nation, die Macht ihrer Anführer, Frieden in Europa oder den eigenen Ruhm. Doch rund ein Drittel der Kämpfer erlebte den nächsten Tag nicht: Frankreich unter Napoleon Bonapartes Kommando zählte etwa 25.000 Tote und Verwundete, während die Alliierten – England und Preußen – mindestens 22.000 Tote und Verwundete beklagten.

Gemälde der Schlacht von Waterloo

„Schlacht bei Waterloo“, ein Gemälde von William Sadler (1782–1839). Foto: Gemeinfrei

Ein Großteil der Toten wurde kurz nach der Schlacht in Massengräbern vor Ort begraben. Hinzu kamen unzählige Tiere, vor allem Ochsen und Pferde, die ebenfalls im Krieg starben, sowie die amputierten Gliedmaßen verwundeter Soldaten. Doch bis heute fehlt von einem Großteil von ihnen jede Spur. Was ist mit den zehntausenden Toten passiert?

Nur zwei Menschen geborgen

Vor zwei Jahren sorgte die Entdeckung eines vollständigen menschlichen Skeletts in Waterloo weltweit für Schlagzeilen. Es waren erst die zweiten sterblichen Überreste eines gefallenen Soldaten, die Archäologen auf dem Bauernhof Mont-Saint-Jean in Belgien fanden. Vor mehr als 200 Jahren lag hier das Feldlazarett des britischen Generals Arthur Wellesley, Herzog von Wellington.

Weiterhin gruben Archäologen der Wohltätigkeitsorganisation Waterloo Uncovered an dieser Stelle amputierte Gliedmaßen und die Skelette von drei Pferden aus. Aufgrund dieser Entdeckung vermuteten die Forscher, dass dies nur die Oberfläche war, an der sie kratzen. Eine erneute Ausgrabung im September dieses Jahres sollte Aufschluss geben. Tatsächlich fanden die Archäologen hier weitere menschliche und tierische Überreste, räumlich voneinander getrennt durch eine Barriere aus Munitionskisten.

Im nördlichen Teil des Grabens lagen die tierischen Skelette eines Ochsen und von mindestens sieben Pferden, deren Knochen teilweise Verletzungen aus der Schlacht aufwiesen. Bei drei Pferden fanden sich zudem Einschusslöcher von Musketen im Schädel, weshalb die Archäologen von einem Gnadenschuss für die verwundeten Tiere ausgehen.

Musketen, eigentlich Sperber genannt, waren im 19. Jahrhundert gängige Schusswaffen. Foto: umdash9/iStock

Im Süden des Grabens entdeckten die Archäologen einen Haufen amputierter menschlicher Gliedmaßen, von denen viele noch Spuren der Entfernung durch die Säge des Chirurgen zeigten. Sie könnten zu den mehr als 500 entfernten Gliedmaßen gehören, die laut einem Augenzeugenbericht an diesem schicksalhaften Tag im Feldlazarett amputiert wurden und „in allen vier Ecken des Hofes aufgehäuft“ lagen.

An den Ausgrabungen beteiligt waren auch Veteranen, die selbst im Krieg waren und teilweise schwer verwundet wurden. Die Archäologen von Waterloo Uncovered ermöglichen den Kriegsveteranen, an den Ausgrabungen teilzunehmen, um ihr eigenes Trauma zu verarbeiten.

Verwundete Soldaten graben in Waterloo

„Es mag komisch erscheinen, verletzte Veteranen wieder auf ein Schlachtfeld zu schicken, aber es kann äußerst vorteilhaft sein. Vieles in der Archäologie kommt den Veteranen, die im Krieg dienten, bekannt vor: Routine, Kameradschaft und körperliche Arbeit im Freien. Gleichzeitig kommen sie mit einer Vielzahl von Menschen zusammen und lernen neue Fähigkeiten, die ihnen helfen können“, erklärt Abigail Boyle, Geschäftsführerin von Waterloo Uncovered.

Die Resonanz der Soldaten ist positiv, wie die des 35-jährigen John Dawson. Dawson erlitt während seines Dienstes in Afghanistan eine Schussverletzung am Kopf, verlor dabei sein rechtes Auge und kann seinen linken Arm nicht mehr bewegen. Seit einer umfangreichen Operation kämpft sich der Ex-Soldat ins Leben zurück, mit dem Ziel, seine Unabhängigkeit und sein Selbstvertrauen wiederzuerlangen.

„Dies ist die erste Reise, die ich ohne einen Betreuer mache. Normalerweise würde ich mich weigern, so etwas zu tun, aber als man mich darauf ansprach, beschloss ich, es auszuprobieren, und es hat alle meine Erwartungen übertroffen“, sagt John. „Die amputierten Gliedmaßen machen mir nichts aus – ich habe während meines Dienstes schon viel Schlimmeres gesehen“, so Dawson.

Der Löwenhügel überragt das Schlachtfeld von Waterloo

Der Löwenhügel in Waterloo markiert die Stelle, an der die Schlacht stattgefunden haben soll. Foto: Erik_V/iStock

Auch mit dabei ist der ehemalige Soldat Clive Jones (66 Jahre), der einen Bombenanschlag miterlebte, bei dem sieben Kavalleriepferde starben. Die Freilegung der Pferdeskelette in Waterloo war für Jones daher besonders emotional.

„Ich dachte, der Soldat würde mich am meisten berühren, aber es waren tatsächlich die Pferde. Es hat mich an die Schrecken dieses Tages erinnert“, so Jones. „Aber alle hier sind so hilfsbereit. Jeder Soldat hat seine Geschichte, die ihn nach Waterloo geführt hat. Fern von zu Hause und in einer Gruppe von Veteranen und Fachleuten, die sich um ihr Wohlergehen kümmern, können sie beginnen, sich diesen Erinnerungen zu stellen.“

Ähnliches mussten auch die Soldaten aus der Schlacht von Waterloo verarbeiten. Für die Archäologen sind die Funde aber nicht nur Zeugen der grausigen Realität des Krieges, sondern auch positive Zeichen.

„Die Niederlegung des Toten in Waterloo zeigt, dass die Männer, die ihn bestattet haben, ihm trotz der schrecklichen Szene, die sich ihnen bot, ein gewisses Maß an Würde und Respekt zu erweisen versuchten“, sagt Professor Tony Pollard von der Universität Glasgow und Direktor der Organisation.

Gefallene der Zuckerindustrie geopfert?

Jene Würde und jener Respekt scheinen jedoch 20 Jahre nach dem Ende der Schlacht verloren gegangen zu sein. So wurden die Gebeine der bestatteten Soldaten sehr wahrscheinlich aus ihren Gräbern herausgeholt und verarbeitet. Diese Tatsache könnte das Rätsel der fehlenden Skelette in Waterloo lösen.

Aus zeitgenössischen Zeitungsartikeln geht hervor, dass Knochen ausgegraben und zermahlen wurden, um sie als Düngemittel für die Felder zu verwenden. Noch mehr Gebeine könnten jedoch an die damals im Aufwind befindliche Zuckerindustrie gegangen sein.

Denn um den begehrten Zucker aus heimischen Rüben weiß zu bekommen, musste die Rohmasse gefiltert werden. Dies gelang mit Sodium, auch Knochenasche oder Beinasche genannt, das durch die Verbrennung von tierischen – aber auch menschlichen – Knochen gewonnen wurde. Mit dem Boom dieses Wirtschaftszweiges nahm auch die Nachfrage an Gebeinen zu. In Waterloo selbst befand sich ebenfalls eine Rübenzuckerfabrik, die sehr wahrscheinlich mit den Knochen der gefallenen Soldaten versorgt wurde.

Zeichnung der Rübenzuckerfabrik in Waterloo und dem Löwenhügel im Hintergrund aus dem Jahr 1855 von Edwin Toovey (1826–1906). Foto: Gemeinfrei

Weitere mögliche Erklärungen für das Fehlen der Skelette sind die intensive Landwirtschaft selbst mit ihren Tiefpflügen sowie der inzwischen illegale Handel mit Menschenknochen. Viele Historiker und Archäologen sind sich jedoch sicher, dass ein Großteil der in Waterloo gefallenen Soldaten keine würdevolle letzte Ruhestätte fand.



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