Besitzt der Mensch einen freien Willen?
Seit Sie heute Morgen aufgestanden sind, haben Sie bereits jede Menge vermeintlich freie Entscheidungen getroffen: graue oder schwarze Hose, Tee oder Kaffee, arbeiten oder spazieren gehen?
Obwohl viele dieser Entscheidungen gewissen Zwängen unterworfen sind, würden Sie Ihre Entschlüsse eher als frei bezeichnen. Sie hätten sich auch für die jeweils andere Option entscheiden können – wenn Sie es denn gewollt hätten. Aber warum wollten Sie nicht? Damit sind wir bei dem Philosophen Arthur Schopenhauer angekommen, der sagte: „Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“
Viele Menschen haben sich zu dieser Thematik bereits Gedanken gemacht, so auch Prof. Dr. Herwig Baier vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz. „Ich habe mich viel mit dieser Frage beschäftigt, eine abschließende Antwort habe ich allerdings noch nicht gefunden“, erklärte der Neurobiologe.
Damit ist er nicht allein, schließlich hat diese Frage schon die griechischen Philosophen der Antike beschäftigt. Und auch die Neurowissenschaften haben seit einigen Jahrzehnten keine Antwort gefunden.
Das Libet-Experiment
Als Beginn der Forschung zu freiem Willen gilt ein Experiment, das der Physiologe Benjamin Libet in den 1980er-Jahren durchführte. Libet bat Testpersonen, einen im Kreis wandernden Lichtpunkt zu beobachten. Passierte der Punkt eine von ihnen frei gewählte Position, sollten die Beobachter ihre Hand heben.
Libets Messungen ergaben, dass die Entscheidung bereits gefallen war, ehe die Probanden die Hand hoben – 0,2 Sekunden vorher. Schon eine Sekunde vor der Bewegung konnte Libet zudem einen Anstieg elektrischer Hirnströme messen. Dieses sogenannte Bereitschaftspotenzial stieg im Vorfeld einer Bewegung immer an. Offenbar hatte also das Gehirn seine Entscheidung bereits getroffen, bevor sich die Testperson dieser bewusst wurde.
Gegner und Skeptiker eines freien Willens zitieren das Libet-Experiment bis heute als Beleg dafür, dass das Gehirn die Entscheidungen trifft und der Mensch nur glaubt, diese seien eine Folge seines Willens. Mehrere Forschungsgruppen haben Libets Messungen bisher bestätigt. Uneinigkeit herrscht allerdings bis heute darüber, was sie tatsächlich bedeuten.
Manche Kritiker wenden unter anderem ein, dass das Bereitschaftspotenzial ohnehin ständig in einem bestimmten Rhythmus steigt und sinkt. Deshalb könne dies gar nicht der Grund für die Entscheidung zum Heben der Hand sein. Das Bereitschaftspotenzial löse die Bewegung nicht aus, vielmehr mache es sie in einer bestimmten Phase lediglich wahrscheinlicher. Andere wiederum bemängeln, unter den Bedingungen des Experiments sei das Heben der Hand keine echte Willensentscheidung.
Gegner und Befürworter von freiem Willen
Und so stehen sich bis heute zwei Lager gegenüber. Ein prominenter Gegner von freiem Willen ist der Psychologe Robert M. Sapolsky. In seinem 2023 erschienenen Buch „Determined“ („Vorherbestimmt“) legt er dar, dass unsere Handlungen ausschließlich das Resultat der Aktivität von Nervenzellen sind. Diese bestehen wiederum aus molekularen und elektrochemischen Vorgängen. Der Neurogenetiker Kevin J. Mitchell argumentiert wiederum, dass ein freier Wille allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten zum Trotz existiert. Demnach wären unsere Handlungen also nicht von vornherein festgelegt.
Wie kann es sein, dass zwei renommierte Wissenschaftler bei derselben Frage entgegengesetzte Standpunkte vertreten? „Sapolsky und Mitchell meinen unterschiedliche Dinge, wenn sie von freiem Willen sprechen. Deshalb müssen wir meiner Meinung nach erst einmal definieren, was ein ,Wille‘ überhaupt ist und was wir unter ,frei‘ verstehen“, so Baier. Weiter sagte er:
„Einen Willen haben zwangsläufig alle Lebewesen, weil sie Absichten haben: Sie lösen Aufgaben, um am Leben zu bleiben und sich zu vermehren. Das unterscheidet lebendige von toter Materie. Um diese Aufgabe zu erfüllen, müssen Lebewesen etwas wollen, zum Beispiel günstige Lebensbedingungen suchen und ungünstige vermeiden.“
Was ist „frei“?
Einen Willen gibt es also – aber ist er auch frei? Und besitzen auch andere Lebewesen außer dem Menschen einen freien Willen? An diesen elementaren Fragen scheiden sich noch immer die Geister.
Der Schweizer Philosoph Peter Bieri definierte eine Handlung als frei, wenn sie mit dem übergeordneten Ziel oder Urteil des Handelnden übereinstimmt. Demzufolge könnten auch Mäuse und Fische, vielleicht sogar Einzeller, „frei“ sein.
Ganz anders sah dies Daniel Dennett. Der Philosoph vertrat den Standpunkt, von allen Lebewesen besitze lediglich der sprachbegabte Mensch einen freien Willen. Herwig Baier beurteilt die verschiedenen philosophischen Standpunkte so:
Freiheit ist kein eindeutig definierter Begriff. Für den einen ist es die Möglichkeit, aus einer Fülle von Optionen eine auswählen zu können. Für den anderen wären dies dagegen keine freien, sondern letztlich zufällige Entscheidungen. Dazu kommt, dass sich viele Menschen bei dem Gedanken unwohl fühlen, dass ihre subjektiv empfundene Willensfreiheit von Nervenzellaktivität, Hormonen und von ihrer persönlichen Lebensgeschichte eingeschränkt wird.“
Egal, welches philosophische Konzept man bevorzugt, ein Wille äußert sich in der Fähigkeit, aus verschiedenen Handlungsoptionen eine auszuwählen – also eine Entscheidung zu treffen. Auf die Frage, ob der Mensch einen freien Willen besitzt, könnte man an dieser Stelle also antworten: Einen Willen besitzt er wie jedes andere Lebewesen auch. Ob dieser frei ist, ist Definitionssache.
Die Fähigkeit, eine Wahl zu treffen
Wie sich ein Organismus in einer bestimmten Situation entscheidet und was ihn dabei beeinflusst, lässt sich im Labor erforschen. Baier und seine Kollegen untersuchten hierfür die Larven von Zebrafischen. Diese bieten den Vorteil, dass ihre Körper und ihr relativ einfach aufgebautes Gehirn weitgehend durchsichtig sind. Deshalb lässt sich die Aktivität der Nervenzellen von außen beobachten.
Die Forscher wollten herausfinden, welche Nervenzellen im Gehirn aktiv sein müssen, damit die Fischlarven ein bestimmtes Verhalten zeigen. In ihrem Experiment bekamen die Jungtiere schwarze Punkte auf einem Bildschirm vorgesetzt. Diese wurden immer größer und simulierten eine mögliche Kollision, was bei den Fischen einen Fluchtreiz auslöste. Die Larven mussten sich also entscheiden, wohin sie schwimmen.
„Taucht ein Punkt vor einem Auge auf, dann flüchten die meisten in die entgegengesetzte Richtung. Sehen die beiden Augen unterschiedlich kräftige Punkte, so schwimmen die Larven weg vom stärkeren Reiz in die Richtung des schwächeren. Erscheint vor beiden Augen jedoch ein gleich starker Reiz, ‚gewinnt‘ meist einer der Punkte, und zwar offenbar nach dem Zufallsprinzip. Das heißt, das Gehirn entscheidet sich spontan und in Sekundenschnelle, welcher der beiden Reize wichtiger ist“, erklärte Baier.
Diesen Entscheidungen liege ein Schaltkreis aus Nervenzellen zugrunde, den Baiers Team im Mittelhirn verortete. Wird die Aktivität des Schaltkreises blockiert, können die Tiere nicht mehr den stärkeren Reiz auswählen und flüchteten oft in die „falsche“ Richtung.
Der Willen und seine vielen Sitze
Dieses Netzwerk ist so etwas wie die Entscheidungszentrale der Fische. Wenn man den Tieren einen Willen zuschreiben möchte, dann wäre dieser Schaltkreis die neuronale Umsetzung davon – allerdings nur für diese spezielle Verhaltensentscheidung. In anderen Situationen „beschließen“ andere Netzwerke. „Aus neurobiologischer Perspektive gibt es nicht die eine Entscheidungszentrale und den einen Sitz des Willens, sondern viele“, betonte Baier.
Die oben beschriebenen Verhaltensstrategien laufen nicht nach dem gleichen Schema ab. Tatsächlich kann ein und derselbe Fisch sich einmal so und einmal anders entscheiden. In einer Minderheit der Fälle entscheidet sich der Fisch dafür, durch die Mitte zu schwimmen. „Die Verdrahtung im Gehirn erlaubt unterschiedliche Verhaltensantworten auf den identischen Reiz“, sagte Baier.
Ist das dann freier Wille? „Es kommt ganz darauf an: Wenn man unter ,frei‘ versteht, dass sich die Fischlarve völlig unabhängig von äußeren und inneren Einflüssen verhalten kann, dann sicher nicht. Unsere Studien zeigen, dass körperliche Zustände die Entscheidung maßgeblich beeinflussen. Je nachdem, ob ein Tier hungrig oder satt ist, gestresst oder entspannt, wird es sich im Mittel anders entscheiden“ so Baier.
Der Neurobiologe und seine Kollegen haben beobachtet, dass satte Fischlarven viel häufiger vor einem nur schwach bedrohlichen Reiz fliehen, während hungrige Larven meist mutiger sind – schließlich könnte der Punkt auch etwas Essbares sein. Außerdem können bereits gemachte Erfahrungen den Unterschied ausmachen.
„Wenn ,frei‘ also heißt, dass innere und äußere Einflussfaktoren an sie angepasste Verhaltensweisen auslösen, die nicht nur einem simplen Reiz-Antwort-Muster folgen, dann schon“, erklärte Baier.
Freier Wille oder Bewusstsein?
Das liegt womöglich an einer Vermischung zweier Konzepte: das eines freien Willens und das eines Bewusstseins. Diese Verwirrung könnte laut Baier auch der Grund für die unterschiedliche Interpretation des Libet-Experiments sein.
„Der Zeitpunkt, zu dem die Probanden nach eigener Aussage entschieden haben, den Arm zu heben, ist möglicherweise gar nicht der Moment der Entscheidung, sondern der, in dem ihnen die zuvor getroffene Entscheidung bewusst wurde. Die Entscheidung, ob sie nun frei oder unfrei war, benötigt etwas Zeit, bis wir sie als solche wahrnehmen“, sagte Baier.
Für viele Menschen scheint es zudem absurd zu sein, bei Fliegen und Würmern von einem freien Willen zu sprechen. Meist wird lediglich unserer Spezies, Menschenaffen und einigen wenigen hoch entwickelten Arten ein Bewusstsein zugeschrieben.
Doch was ist eigentlich das Bewusstsein, wie kann es gemessen werden und welche Wesen besitzen es? Diese Fragen sind ähnlich komplex wie jene nach der Existenz eines freien Willens.
Eine Gemeinsamkeit von Bewusstsein und freiem Willen ist, dass der Mensch beides als etwas vom Gehirn losgelöstes wahrnimmt. „Die meisten meiner Kollegen würden wohl die Existenz einer Seele oder eines Geistes ablehnen, zumindest beruflich“, so Baier.
Freier Wille, Schuld und Strafe
Was wie eine unbedeutende Diskussion erscheint, hat praktische Konsequenzen. Während die Entscheidung zwischen grauer und schwarzer Hose keine großen Folgen hat, sieht dies für „Uhr kaufen oder stehlen“ ganz anders aus. Wenn das Verhalten einer Person von Natur aus vorbestimmt wäre, dann hätte diese gar keine Wahl.
Für Robert Sapolsky, der gegen die Existenz des freien Willens ist, sollte dies Konsequenzen für die Rechtsprechung haben. Könne ein Mensch grundsätzlich nicht für sein Handeln verantwortlich gemacht werden, dann müsse die Justiz dies bei der Strafbemessung berücksichtigen, so Sapolsky. Ein Gerichtsurteil könne keine persönliche Schuld feststellen, denn diese gebe es nicht. Umgekehrt sollten Wohlverhalten und Leistung viel weniger oder überhaupt nicht belohnt werden.
Herwig Baier ist da anderer Meinung. Seiner Ansicht nach sollten Menschen für ihr Tun zur Verantwortung gezogen werden: „Das Ahnden von Gesetzesübertretungen dient vorrangig der Abschreckung. Ein Rechtssystem muss von der Autonomie des Individuums ausgehen, selbst wenn diese eine Illusion ist.“ Genau diese abschreckende Wirkung könnte als eine der äußeren Faktoren gewertet werden, welche die Entscheidung eines Menschen – zum Guten – beeinflussen.
Dieser Artikel erschien im Original auf den Websites der May-Planck-Gesellschaft unter dem Titel: „Besitzt der Mensch einen freien Willen?“. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. (redaktionelle Bearbeitung ger)
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