Schleichende Enteignung mit dem Segen des Staates
Die Inflation ist zurück. Die Verbraucherpreise in Deutschland sind im Oktober um 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. So hoch war die Teuerungsrate zuletzt vor 28 Jahren. Beobachter gehen davon aus, dass die Inflation bis zum Jahresende noch auf rund fünf Prozent steigen könnte. Die Bundesrepublik ist damit nicht allein, die Preise sind weltweit auf dem Vormarsch. In den USA etwa gab es im Oktober mit 6,2 Prozent den kräftigsten Preisschub seit November 1990.
Die langfristigen Folgen steigender Preise sind erheblich: Schon bei zwei Prozent Inflation haben sich nach gut zehn Jahren ein Fünftel, nach 20 Jahren ein Drittel und nach 35 Jahren die Hälfte der Kaufkraft von Ersparnissen oder einer nominal zugesagten Rente in Luft aufgelöst.
Wer in einem solchen Umfeld Geld auf Spar- oder Girokonten parkt, ist der Dumme – insbesondere angesichts der nach wie vor extrem niedrigen Zinsen. Laut einer Statistik der Bundesbank belief sich die Realverzinsung von Ersparnissen auf klassischen Sparbüchern und Festgeldkonten im August dieses Jahres auf minus 3,7 Prozent. Allein im September haben deutsche Besitzer von Sparkonten vor diesem Hintergrund 8,8 Milliarden Euro verloren, hat Tagesgeldvergleich.net errechnet.
Bis zum Jahresende prognostiziert der Finanzportal-Anbieter einen realen Zinsverlust bei Spareinlagen von mehr als 63 Milliarden Euro. Die DZ Bank beziffert den Kaufkraftverlust des privaten Geldvermögens in diesem Jahr gar auf 116 Milliarden Euro oder rund 1.400 Euro pro Kopf. Laut dem genossenschaftlichen Spitzeninstitut hatte noch nie ein so hoher Anteil an Kapitalreserven ein solch niedriges Renditepotenzial wie heute.
Lippenbekenntnisse der Regierenden
Der große Gewinner ist der Fiskus. Auf Basis der vom deutschen Staat aufgenommenen Kredite von über 2,3 Billionen Euro mildert eine Inflation von vier Prozent die Schuldenlast binnen eines Jahres um über 90 Milliarden Euro.
Scheint die Politik beim Schuldenmachen heute kaum noch Grenzen zu kennen, klang das vor einigen Jahren noch ganz anders. „Wir leben auf Kosten unserer Enkel und Urenkel“, mahnte etwa 2011 der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er münzte dies jedoch nicht auf das Klima, sondern auf die Staatsverschuldung.
Ein Jahr später forderte Kanzlerin Angela Merkel ein Ende des „Wachstums auf Pump“. Und im Jahr 2014 warnte der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble, dass das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts nicht gefährdet werden dürfe. Noch in diesem Jahr befand sein Nachfolger Olaf Scholz, dass sich Deutschland den ‚Corona-Wumms‘ nur leisten könne, „weil wir vor der Krise lange ordentlich gewirtschaftet haben.“ Der Bundeskanzler in spe spielte damit auf das 130-Milliarden-Euro schwere Konjunkturprogramm an, auf das sich die Regierungskoalition damals verständigt hatte.
Die Einlassungen der Regierenden waren offensichtlich kaum mehr als Lippenbekenntnisse. De facto sind die Vorgaben aus dem Maastricht-Vertrag völlig überholt, der den Grundstein für die Wirtschafts- und Währungsunion und die spätere Einführung des Euro legte. Danach darf die Staatsverschuldung der EU-Mitgliedstaaten 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten und das jährliche Haushaltsdefizit nicht mehr als drei Prozent betragen.
Im Zuge der Coronakrise und des damit verbundenen dringenden staatlichen Handlungsbedarfs wurden sämtliche Fiskalregeln im März 2020 ausgesetzt – mit der Folge, dass das Verhältnis der Staatsverschuldung zur Wirtschaftsleistung in der Eurozone Ende vergangenen Jahres sogar bei 98 Prozent lag. Nicht einmal die Hälfte der 27 Mitgliedstaaten hält heute noch die 60-Prozent-Grenze ein. In Deutschland etwa ist der Schuldenstand in Relation zum Bruttoinlandsprodukt auf knapp 70 Prozent gestiegen.
Ziel der Geldwertstabilität über Bord geworfen
Die ungezählten Krisenrettungsprogramme der Notenbanken und Regierungen haben die Schulden in astronomische Höhen getrieben. Im zweiten Quartal dieses Jahres war der weltweite Schuldenberg laut dem Institute of International Finance mit 296 Billionen Dollar so hoch wie nie. Dies entspricht 353 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts. Viele Volkswirtschaften stehen so tief in der Kreide wie niemals zuvor in Friedenszeiten.
Europas Staatsschuldenkönige dürfen mit der Europäischen Zentralbank auf einen besonders potenten Partner bauen. Monat für Monat kauft die Hüterin des EU-Geldes Staats- und Unternehmensanleihen für 80 Milliarden Euro auf. Ihre Bilanzsumme ist zwischenzeitlich auf mehr als acht Billionen Euro angeschwollen. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland lag im vergangenen Jahr bei rund 3,33 Billionen Euro.
Während die amerikanische Notenbank Anfang November eine behutsame Abkehr von der Nullzinspolitik angekündigt hat und ihre Anleihekäufe nach und nach bis Mitte kommenden Jahres beenden will, hält die EZB unbeirrt an ihrem Kurs des ultralockeren Geldes fest. Die Schuldenparty in Europa kann somit fröhlich weitergehen.
Das zentrale Ziel der EZB, die Gewährleistung der Geldwertstabilität, wurde längst über Bord geworfen. Erst am vergangenen Montag erteilte EZB-Chefin Christine Lagarde Forderungen nach einer strafferen Geldpolitik eine deutliche Absage – trotz der deutlich gestiegenen Inflation. Bei einer Anhörung im Europaparlament räumte die Französin zwar ein, dass der kräftige Inflationsschub länger anhalten dürfte als ursprünglich gedacht. Eine Abkehr von der Politik des billigen Geldes sei derzeit aber nicht angezeigt.
Was Lagarde verschweigt: Der gigantische Schuldenturm wackelt bereits, bei höheren Zinsen stünden in der Euro-Zone gleich mehrere Staaten vor dem Bankrott. Auch in der Firmenwelt könnten höhere Zinsen zu einer schmerzhaften Zäsur führen – und nicht zuletzt hält das billige Geld sogenannte Zombie-Firmen am Leben, die ihre Kredite nicht aus eigener Kraft bedienen können. Manch hoch verschuldeter Privathaushalt käme bei steigenden Zinsen ebenfalls in Bedrängnis.
„Sie stehlen peu à peu das Geld von alten Menschen“
So praktisch niedrige Zinsen für Schuldner jeglicher Couleur sein mögen, fordern sie jedoch ihren Tribut von den Sparern in Form einer schleichenden Enteignung.
Ökonomen bezeichnen den Schulterschluss zwischen Politik und Notenbanken, über niedrige Zinsen und Inflation die Staatsschulden real zu entwerten, bedeutungsschwer als „finanzielle Repression“. In früheren Zeiten wären die Regierungen auf diese Weise ihre Schulden losgeworden, sagt die US-Wirtschaftswissenschaftlerin und Chefökonomin der Weltbank, Carmen Reinhart. Doch um die Rückzahlung gehe es heute längst nicht mehr, im Vordergrund stehe vielmehr die Verlängerung der Schulden ins Unendliche: „In der vergangenen Dekade wurden die Niedrigzinsen genutzt, um immer noch höhere Defizite aufzunehmen.“
Die Crux: Selbst wenn auch die Europäische Zentralbank ihre Anleihekäufe auf absehbare Zeit zurückfahren sollte, ist das Zeitalter der finanziellen Repression damit längst nicht beendet. Die EZB hat es sich implizit zur Aufgabe gemacht, die Staatsschulden weg zu inflationieren.
Und angesichts der gleichermaßen ungebremsten Ausgabenfreude der politisch Verantwortlichen in der EU werden die offenen Rechnungen eher steigen als sinken. Die Umverteilung mit der Notenpresse zulasten der Bürger und zugunsten des Staates geht somit in die nächste Runde.
Durch den künstlich unter null gedrückten Realzins wälzt die EZB die Kosten für die steigende Verschuldung auf die Sparer ab.
Die Kollateralschäden ihrer Geldpolitik manifestieren sich längst im Alltag. „Sie stehlen peu à peu das Geld von alten Menschen“, mahnte der unabhängige Marktstratege Russell Napier, dessen 2006 erschienenes Buch „Anatomy of the Bear“ von der „Financial Times“ als Klassiker bezeichnet wird, kürzlich in einem Interview: „Sie tolerieren oder fördern den Anstieg der Inflation, während Sie die nominalen Renditen niedrig halten. Sparer – sehr oft ältere Menschen – werden leiden, und Schuldner werden es lieben.“
Deutsche schwören auf kaum verzinste Sparformen
Erschwerend kommt hinzu, dass sich nach einer Umfrage der Postbank viele Deutsche mit Blick auf die schleichende Enteignung selbst ausbremsen. Extrem niedrig verzinste Anlageformen wie das Girokonto, Sparbuch und sogar die Spardose sind bei den Befragten so beliebt wie seit vielen Jahren nicht mehr. Alte Liebe rostet offenbar auch im Bereich des Sparverhaltens nicht. 63 Prozent lassen ihre Ersparnisse auf dem Girokonto liegen.
Aber auch andere Anlageformen, deren Verzinsung gegen null tendiert, stehen derzeit hoch im Kurs der Bundesbürger: Knapp jeder Zweite zahlt sein Geld auf ein klassisches Sparbuch ein. 37 Prozent schwören auf Tagesgeldkonten, obwohl zunehmend mehr Kreditinstitute bei höheren Beträgen Strafzinsen erheben. Dies mag nicht einmal verwundern, wenn man sich vor Augen hält, dass sich ebenfalls jeder dritte Befragte der Postbank-Umfrage nicht bewusst ist, dass die Inflation den Wert seiner Geldanlagen schmälert.
„Das fehlende Wissen über die Auswirkungen der Inflation ist sicher ein Grund dafür, dass die Deutschen immer noch zögern, ihre Ersparnisse rentabel anzulegen“, meint Karsten Rusch, Bereichsleiter Wertpapiere & Versicherungen bei der Postbank. Sein Befund: „Im Niedrigzinsumfeld kommt man an einer Anlage in Aktien und Fonds nicht vorbei, wenn man verhindern will, dass die Ersparnisse schleichend an Wert verlieren.“
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