Das Dilemma der EZB: Inflation, Zinsen, Staatsverschuldung
In den letzten 18 Monaten hat der Euro gegenüber dem Dollar etwa 20 Prozent seines Wertes verloren und wird momentan eins zu eins zum Dollar gehandelt. Auch zum Schweizer Franken, zum Chinesischen Yuan und insbesondere zum Rubel hat der Euro in den letzten Jahren deutlich an Wert verloren. Wird er noch weiter fallen? Und was könnte das für Auswirkungen auf uns haben?
Euro hebelt Bremsfunktion hoher Zinsen aus
Nehmen wir konkret als Beispiel Italien. Bereits bei der Einführung des Euro 1998 verstieß die Höhe der italienischen Staatsschulden gegen die Maastricht-Kriterien. Erlaubt waren offiziell 60 Prozent vom BIP, Italien hatte aber bereits damals 114 Prozent.
Italien hätte also eigentlich gar nicht in den Euroraum aufgenommen werden dürfen. Die entscheidenden Politiker haben sich über diese Regel von Anfang an hinweg- und damit ökonomische Grundregeln außer Kraft gesetzt. Nach gut 20 Jahren Euro betrugen die italienischen Staatsschulden Ende 2021 bereits 150 Prozent vom BIP. Sie haben also um etwa 35 Prozentpunkte zu- statt abgenommen, obwohl sie schon bei der Einführung zu hoch waren.
Ohne den Euro hätte Italien niemals so viele zusätzliche Schulden zu solch niedrigen Zinsen aufnehmen können. Die Bremsfunktion hoher Zinsen wird seit Einführung des Euro weitgehend ausgehebelt.
Zinsen sind abhängig von der Qualität, bzw. der Bonität der Kreditnehmer. Hohe Zinsen sollen schlechte Schuldner davon abhalten, zu hohe Kredite aufzunehmen. Sie haben eine wichtige ökonomische Steuerungsfunktion. Falls die Zinsunterschiede über längere Zeiten nicht den ökonomischen Realitäten entsprechen, werden die Kapitalströme falsch gelenkt. Dann bekommen zu schlechte Schuldner zu billige und zu hohe Kredite – was schließlich zu Bereinigungen in Form von Kredit- oder gar Finanzkrisen führt.
Wenn über Staatsintervention die Zinsdifferenzen künstlich beeinflusst werden, führt das zu Kapitalfehllenkung. Mit der Einführung des Euro 1998 bzw. 2002 hat genau eine solche systematische Staatsintervention stattgefunden. Die Gesetze des Marktes und der Zinsen lassen sich aber durch politischen Willen nicht einfach aushebeln. Konkret: Wenn die Gläubiger eines Tages feststellen, dass sie ihre Kredite nicht mehr in voller Höhe zurückbekommen werden, dann kann es zu einer Finanzkrise kommen. Eine solche dürfte uns im Euroraum bevorstehen.
Italien hat etwa die gleiche Bonität wie Rumänien
Zurück zu Italien. Die Zinsen auf 10-jährige italienische Staatsanleihen waren von 2014 bis Anfang 2022 fast ständig niedriger als die Zinsen auf 10-jährige US-Staatsanleihen.
Das war eine ökonomische Absurdität ersten Ranges, eine groteske Marktverzerrung. Die USA haben mit AA+ eine ungleich bessere Bonität als Italien mit BBB. Dass ein bonitätsmäßig so viel schwächerer Kreditnehmer jahrelang niedrigere Zinsen zahlt als die USA, ist eine extreme politisch bewirkte Marktverzerrung, die sich bitter rächen dürfte.
Italien hat in etwa die gleiche Bonität wie Rumänien. Die Zinsen auf 10-jährige rumänische Staatsanleihen waren in den letzten sieben Jahren meist um mehrere Prozentpunkte höher als die auf italienische Staatsanleihen. Auch dieser Vergleich zeigt, wie unsinnig falsch die Zinsen innerhalb des Euroraumes waren oder sind. Wenn auf Märkten derart lange derart falsche Preise herrschen und dadurch falsche Anreizstrukturen gesetzt werden, kann das nur schiefgehen.
Man könnte das mit einem Land ohne nennenswerte, eigene Energievorkommen vergleichen, in dem über viele Jahre ständig die Energiepreise künstlich niedrig gehalten werden. Ein solches Land wird sich einen hohen Energiekonsum angewöhnen. Steigen die Energiepreise eines Tages auf realistisches Weltmarktniveau, weil die Subventionen nicht mehr bezahlbar sind, wird eine Energiekrise in dem Land ausbrechen und zu einem schmerzhaften wirtschaftlichen Bereinigungsprozess führen.
Das Gleiche – nur noch stärker – geschieht, wenn eines Tages realistische Weltmarktzinsen nach einer jahrzehntelangen Periode künstlich heruntersubventionierter Zinsen wieder eingeführt werden.
Höhere EZB-Zinsen führen zu Finanzproblemen der Staaten
Der Euro dürfte in den kommenden Monaten oder Jahren in Schwierigkeiten kommen. Konkret steht die EZB vor folgendem Dilemma: Um die hohe Inflation von derzeit über 9 Prozent im Euroraum zu bremsen, muss sie die Zinsen stark anheben. Zwei Schritte in diese Richtung sind vor Kurzem bereits erfolgt.
Allerdings liegen die Zinsen der EZB mit 1,25 Prozent derzeit immer noch weit unter den Zinsen der US-FED, die sie auf 2,5 Prozent festgelegt hat, obwohl die Inflation im Euroraum mit 9,1 Prozent höher ist als die in den USA, wo sie momentan 8,5 Prozent beträgt.
Die EZB müsste die Zinsen mindestens so stark anheben wie die USA, um die Inflation zu brechen. Für die USA wird geschätzt, dass die Notenbank FED die Zinsen auf über 4 Prozent Ende 2023 anheben muss, um die Inflation zu brechen.
Wenn die EZB die Zinsen ebenfalls auf 4 Prozent oder gar mehr anhebt, bekommt aber die italienische Regierung erhebliche Finanzprobleme: Ein Schuldenstand von 150 Prozent vom BIP bedeutet, dass eine Zinsanhebung um 4 Prozentpunkte für die italienische Regierung eine zusätzliche Finanzbelastung in Höhe von 6 Prozent des BIP bedeutet. Das ist eine Riesensumme.
Wie soll das finanziert werden? Dazu kommt, dass die italienischen Energieimporte 2022 vermutlich um etwa 60 Milliarden Euro oder 3 Prozentpunkte vom BIP zunehmen werden. Wie soll das alles von der italienischen Volkswirtschaft aufgebracht werden? Das reale kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf liegt in Italien derzeit bereits unter dem Niveau des Jahres 2000. Das Land hat seit fast einer Generation kein reales Wirtschaftswachstum mehr gesehen.
Nicht nur in Italien sind die Staatsschulden zu hoch für signifikante Zinserhöhungen. Die Staatsschulden von Griechenland betrugen Ende 2021 193 Prozent vom BIP, von Portugal 127 Prozent, von Spanien 118, und von Frankreich 113 Prozent. Auch diese Länder könnten bei deutlichen Zinsanhebungen leicht in Finanzprobleme kommen.
Das Dilemma der EZB
Kurz: Bekämpft die EZB ernsthaft die Inflation mit kräftigen Zinsanhebungen im Euroraum, droht eine italienische Staatsinsolvenz.
Das dürfte zu Insolvenzen von vielen italienischen Banken führen, die große Mengen an italienischen Staatsanleihen halten, und im nächsten Schritt – wegen der starken gegenseitigen finanziellen Verflechtungen – Bank-Runs und Insolvenzen bei sehr vielen europäischen Banken auslösen. Sprich: Eine enorme Finanz-, Währungs- und Schuldenkrise, die weit schlimmer sein dürfte als die von 2008.
Andererseits: Bekämpft die EZB die Inflation im Euroraum nicht ernsthaft mit Zinserhöhungen, dürfte sich der Euro weiter abschwächen. Die Importpreise, beispielsweise für Energie und Rohstoffe würden steigen und die Inflation erneut anheizen.
Bei einer solchen Entwicklung könnten ausländische, insbesondere US-Kapitalanleger das Vertrauen in den Euro verlieren, der Euro könnte immer weiter fallen und zuletzt gar zerbrechen. Es käme zu Chaos im Euroraum und einer Finanz-, Währungs- und Wirtschaftsdepression mit unabsehbaren Auswirkungen auf die betroffenen Volkswirtschaften und die Menschen in Kontinentaleuropa.
Cui bono, wer profitiert?
Wer würde von einem solchen ökonomischen Zerbrechen Kontinentaleuropas profitieren? Die konkurrierenden Volkswirtschaften, beispielsweise die USA, Großbritannien, aber auch China und andere Länder.
Jene Volkswirtschaften würden ebenfalls unter einem Zusammenbruch Kontinentaleuropas leiden – insbesondere, weil Exporte wegbrechen. Aber relativ betrachtet würde sich deren Machtposition verstärken. Unter hegemonial politischen Gesichtspunkten wären die genannten Länder eindeutig Gewinner nach dem Motto: Wenn sich zwei streiten oder zusammenbrechen, freut sich der Dritte.
Ein unkontrollierter Zusammenbruch des Euro könnte zu starken nationalen Ressentiments führen. Die Idee, mit der ursprünglich für den Euro geworben wurde: „Führt eine gemeinsame Währung ein und ihr werdet nie wieder in schlimme nationale Konflikte kommen“, würde exakt in ihr Gegenteil verkehrt werden. Wenn es zu starken nationalen Ressentiments kommt, dürfte Kontinentaleuropa für längere Zeit als ökonomischer, aber auch als politischer Konkurrent geschwächt werden.
Was tun?
Man sollte den grundlegenden Konstruktionsfehler des Euro offen und ehrlich ansprechen. Dann könnte man Gegenmaßnahmen ergreifen und beispielsweise eine geregelte, langsame Auflösung des Euro über 20 Jahre angehen. Es könnten wieder nationale Währungen eingeführt und die Entscheidungskompetenzen schrittweise an die nationalen Notenbanken rückdelegiert werden. Das führt dazu, dass langsam aber sicher Währungen und Zinsen wieder atmen und sich den individuellen volkswirtschaftlichen Bedürfnissen anpassen können.
Ähnlich wie in der Phase von 1998 bis 2001 kann zunächst eine supranationale Zinspolitik weitergeführt werden, die aber von Jahr zu Jahr und mit einem 20-Jahresplan immer stärkere Zins- und Währungsunterschiede zulässt. Es werden Zins- und Währungskorridore eingeführt, die von Jahr zu Jahr erweitert werden, sodass keine wilden Währungsspekulationen stattfinden.
Das entspräche einer Art Rückfahrplan und würde in etwa genauso lang dauern wie seit der Einführung des Euro bis heute. Man sollte dazu fiskalische Begleitmaßnahmen ergreifen, um die Staatsfinanzen in den einzelnen Ländern zu sichern und soziale Spannungen zu vermeiden.
Über den Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß (geb. 1962), Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Er ist Autor von sieben Büchern. www.menschengerechtewirtschaft.de
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