Neue Höchstkurse an den US-Börsen: Wird alles immer besser?
Mitte Dezember erreichten der Dow-Jones- und der Nasdaq 100-Aktienindex neue historische Höchststände. Auch die Aktien im DAX sind seit letzter Woche so teuer wie noch nie.
Statt einen „perfect storm“, ein Szenario für einen perfekten Börsen- und Wirtschaftsabsturz anzuzeigen, stehen alle Zeichen auf „clear skies“ oder „plain sailing“ in den USA: Die Inflationsrate sinkt, die langfristigen Zinsen gehen im Gleichklang zurück.
Die Arbeitslosigkeit steigt kaum, die Wirtschaft wächst stabil trotz der enormen Zinsanhebungen der Notenbank in den vergangenen zwei Jahren. Kurz: Alle Signale deuten auf einen neuen Höhenflug der US-Aktienmärkte. Also alles gut? Aktien gut, alles gut? Wird alles immer besser? Geht es den Menschen immer besser? Ein Blick hinter die Kulissen zeigt eher das Gegenteil.
Rekordhohe Obdachlosigkeit in den USA
Praktisch zeitgleich mit den Nachrichten über neue Rekordkurse bei Aktien wurde über einen neuen Rekordwert an Obdachlosen in den USA berichtet. Laut Wall Street Journal gab es 2022 den größten Zuwachs an Obdachlosigkeit seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2007. Die Zahl der homeless people stieg demnach 2022 um 12 Prozent auf den neuen Rekord von 653.000 Menschen.
Das entspricht etwa der Einwohnerzahl von Stuttgart oder Düsseldorf. Die offiziellen Zahlen gelten nach allgemeiner Einschätzung als zu niedrig. Die sehr hohen Unternehmensgewinne, die sich in rekordhohen Aktienkursen niederschlagen, scheinen nicht allen Einwohnern in den USA zu Gute zu kommen.
Junge Familien können sich schlecht Immobilien leisten
Ebenfalls fast zeitgleich mit den neuen Aktienkursrekorden wurde im Wall Street Journal berichtet, dass es in der jüngeren Geschichte der USA noch nie so schwer war, sich ein Eigenheim zu leisten. Die Hauspreise seien so stark gestiegen und die Zinsen so hoch, dass derzeit deutlich weniger Erstkäufer, etwa 33 Prozent statt wie in der Vergangenheit 38 Prozent, sich die eigenen vier Wände leisten könnten.
Das Durchschnittsalter der Erstkäufer sei deutlich gestiegen. Also auch bei jungen Familien, die sich nach einem Eigenheim sehnen, scheint der Aktienboom nicht anzukommen, im Gegenteil.
Höchste Selbstmordrate in den USA seit 1941
Ende November berichtete das Wall Street Journal unter dem Titel „US-Selbstmorde erreichten letztes Jahr neuen Höchststand“, dass sich im Jahr 2022 beinahe 50.000 Menschen in den USA das Leben genommen hätten. Das entspreche der höchsten Selbstmordquote seit 1941.
Als Hauptgründe werden zu wenig Beschäftigte im Sozialbereich, leichter Zugang zu Drogen und die weitverbreiteten Schusswaffen genannt. Ein Psychologe wird mit den Worten zitiert: „Es gab einen Bruch in unserer Wirtschafts- und Sozialfabrik.“
Wie verzweifelt müssen Menschen sein, die sich selbst töten? Also auch bei dieser tragischen Menschengruppe scheinen die Börsenrekorde nicht anzukommen.
Neuer Rekord bei Drogentoten in den USA
Im Mai berichtete das Wall Street Journal, dass es im Jahr 2022 in den USA einen neuen Rekord an Drogentoten gegeben habe. Demnach betrug die Anzahl mit knapp 110.000 Drogentoten so viele wie noch nie. Zum Vergleich: Im Vietnamkrieg starben 58.220 US-Soldaten.
Damit hat sich die Anzahl der Drogentoten in den USA seit 2015 mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum (von 2015 bis 2022) haben sich auch die Aktienkurse des S&P 500 in etwa verdoppelt. Aktiengewinne scheinen den armen drogenabhängigen Menschen wenig zu nützen.
Ladendiebstähle und -einbrüche nehmen dramatisch zu
Immer wieder veröffentlicht das Wall Street Journal Artikel über stark zunehmende Einbrüche und Ladendiebstähle. Anfang Oktober schrieb die Wirtschaftszeitung, dass im Jahr 2022 die „shrink losses“ – „Schwundverluste“ –, zu denen vor allem Ladendiebstähle und Einbrüche beitragen, um fast 20 Prozent auf 112 Milliarden US-Dollar gestiegen seien. Mehr als zwei Drittel aller Einzelhandelsunternehmen geben demnach an, dass die Ladendiebstähle aggressiver und gewalttätiger würden.
In jüngerer Zeit zeichne sich ein neuer Trend ab: „ram riding“ – „Bockreiten“. „Ein neuer Verbrechenstrend crasht – buchstäblich – in amerikanische Einzelhandelsläden. Einbrecher benutzen gestohlene Autos, um durch Schaufenster zu brechen und plündern dann Geldautomaten und andere Wertsachen.“ Die zunehmenden Einbrüche führten dazu, dass in manchen Wohngegenden teilweise nicht einmal mehr Lebensmittelläden existieren, weil sich die Einzelhändler wegen der Kriminalitätsgefahr aus manchen Vierteln komplett zurückziehen.
Die steigenden Aktienkurse scheinen also auch nicht gerade die Moral im Land zu heben.
Frustration in der amerikanischen Bevölkerung
Fassen wir zusammen: Trotz fast ununterbrochen steigender Aktienkurse seit 2009 nehmen in den USA Obdachlosigkeit, Selbstmorde, Drogentote und Ladendiebstähle ständig und teilweise dramatisch zu, und junge Familien können sich immer schlechter ein eigenes Haus leisten.
Kein Wunder daher, dass nur 36 Prozent der US-Amerikaner derzeit sagen, dass der „amerikanische Traum“ noch zutrifft, der Traum vom Tellerwäscher zu Millionär, der Traum: „Jeder, der hart arbeitet, kann vorankommen, unabhängig von der Herkunft.“
Kein Wunder daher auch, dass die Hälfte der in den USA lebenden Menschen meint, dass das Leben in den USA heute schlechter sei als vor 50 Jahren, während nur 30 Prozent glauben, es sei besser als vor 50 Jahren.
In der unteren Hälfte der Bevölkerung kommt immer weniger an
Wie kann das sein? Warum nehmen Elend, Leid und Kriminalität ständig zu, obwohl die Aktienvermögen immer größer werden? Die Frage ist relativ einfach zu beantworten: Weil von den zunehmenden Vermögen, ja selbst von dem offiziell ständig steigenden Sozialprodukt bei sehr vielen Menschen wenig oder gar nichts ankommt.
Denn die Schere der Ungleichverteilung geht ständig weiter auf: In den USA nimmt die Ungleichverteilung seit vielen Jahrzehnten, mindestens seit 1971, zu. Laut offiziellen Angaben der US-Regierung verdiente beispielsweise im Jahr 2021 ein männlicher Vollzeitarbeitnehmer, der das ganze Jahr über arbeitet und über 15 Jahre alt ist, mit 61.180 Dollar Median-Jahresverdienst inflationsbereinigt, also real, praktisch genau so viel wie 1974. Männliche Arbeiter in den USA hatten also in den vergangenen 47 Jahren laut amtlicher Statistik real keinen Cent Lohnerhöhung.
Nach Angaben der US-Notenbank stieg das reale BIP pro Kopf in den USA von 1973 bis 2022 um 127,5 Prozent. Die realen Median-Haushaltseinkommen erhöhten sich im selben Zeitraum laut US-Regierung jedoch lediglich um 18,4 Prozent. Mit anderen Worten: Der Großteil des Wirtschaftswachstums der letzten 50 Jahre kam nicht in der Mitte der Bevölkerung, geschweige denn in der unteren Hälfte an, sondern floss nach oben. Kein Wunder, dass viele amerikanische Menschen den Eindruck haben, auf der Strecke zu bleiben oder sich betrogen fühlen um den amerikanischen Traum.
Auch in Deutschland steigt die Ungleichverteilung seit Jahrzehnten. Laut dem jüngsten Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung von Anfang November 2023 hat die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland von 2010 bis 2022 zugenommen. Das Ergebnis der gewerkschaftsnahen Wissenschaftler lautet: „Das eindeutige Fazit zu den Armutsquoten: Seit Jahren wächst der Anteil der Personen, die von Armut betroffen sind.“
Unproduktive oder rein konservierende Arbeit nimmt dramatisch zu
Dazu kommt, dass ein großer Teil des offiziell ausgewiesenen Wirtschaftswachstums der letzten Jahrzehnte in Wirklichkeit den Wohlstand in keinster Weise erhöht hat, im Gegenteil. In den USA stieg beispielsweise der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 5 Prozent 1960 auf 18,3 Prozent 2021, in Deutschland von 10 Prozent 1997 auf 13,2 Prozent 2021.
Derzeit werden in Deutschland (in einer erweiterten Abgrenzung des Bundesgesundheitsministeriums Stand Januar 2023) und in den USA mindestens ein Sechstel der gesamten Wirtschaftskraft für Gesundheitsaufwendungen ausgegeben. So wichtig und segensreich diese Tätigkeiten oft sind, die von den Beschäftigten in meist hingebungsvoller Arbeit ausgeführt werden, so erhöhen sie jedoch in keiner Weise unseren realen Wohlstand.
Im Gegenteil. Man versucht dadurch, einen Zustand – Gesundheit – wiederherzustellen, der früher, als die Menschen sehr viel weniger von Zivilisationskrankheiten betroffen waren, von allein da war. Je kränker wir werden, desto ärmer werden wir.
Andere Beispiele für unproduktive Tätigkeiten sind Werbung, Steuerberatung, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte, Sicherheitsdienste, Sicherheitsprodukte usw. usw. Die Beschäftigten in diesen Bereichen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht.
So wichtig manche dieser Tätigkeiten auch sein mögen – mit Ausnahme von Werbung, Werbung ist volkswirtschaftlich gesehen de facto vollkommen unsinnig – und so hingebungsvoll und aufrichtig viele Menschen in diesen Branchen auch arbeiten, sie alle haben eines gemeinsam: sie erhöhen nicht unseren realen Wohlstand, sondern vermindern ihn.
Daran ändern auch steigende Aktienkurse nichts.
Fazit
Trotz neuer Kursrekorde an der Wallstreet, trotz neuer Aktienhöchststände geht es sehr vielen Menschen in den USA nicht wirklich besser. Das Gleiche gilt für Deutschland. Im Gegenteil weisen viele Indikatoren darauf hin, dass Armut, Leid und Elend bei vielen Menschen in den USA zunehmen.
Denn die Aktiengewinne fließen an eine kleine Oberschicht. Bei dem Großteil der Bevölkerung kommt davon nichts an. Das trifft auch auf das Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte zu. Börsengewinne und das offiziell ausgewiesene Wirtschaftswachstum lösen sich immer weiter ab von der Alltagsrealität der Menschen.
Der US-amerikanische Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beantwortete die Frage, wem die gängigen ökonomischen Theorien und die daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Regeln nützen bereits 2012 vergleichsweise einfach (in Anspielung auf die Rede von Abraham Lincoln von 1863; „the government of the people, for the people, by the people“): „Of the 1 %, for the 1 %, by the 1 %“ – den wohlhabendsten 1 Prozent der Gesellschaft.
Zum Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962, Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Seit 2002 Professor für BWL an der Hochschule Aalen mit Schwerpunkt Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Er ist Autor von sieben Büchern. www.menschengerechtewirtschaft.de.und wurde bereits dreimal als unabhängiger Experte von verschiedenen Parteien (Grüne, Linke, SPD) in den Bundestag geladen.
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