Plädoyer für eine Beschränkung von Social Media nach australischem Vorbild
Ende November beschloss das Australische Parlament mit überwältigender Mehrheit ein Gesetz, das Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren die Nutzung von Social Media verbietet. Medien wie TikTok, Facebook, Snapchat, Reddit, X und Instagram müssen mit Strafen von bis zu 50 Millionen Australische Dollar – das entspricht etwa 30 Millionen Euro – rechnen, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen.
Die Konzerne haben jetzt ein Jahr Zeit, ihre Systeme so einzurichten, dass Jugendlichen und Kindern unter 16 die Nutzung nicht mehr möglich ist. Laut Umfragen befürworten 77 Prozent der Australier diese Maßnahmen.
Im Vorfeld der Entscheidung fand im Oktober 2024 ein Gipfeltreffen mit australischen Führungskräften und Politikern statt. Dort führte der renommierte amerikanische Psychologe Jonathan Haidt aus: „Was wir derzeit erleben … ist die größte Vernichtung von Humankapital und Humanpotenzial in der Menschheitsgeschichte“ durch Social Media.
Haidt drängte die australische Regierung, „die sozialen Medien- ‚Monster‘“ zu schlachten, die die Tech-Giganten seines Heimatlandes geschaffen hätten. Australien solle auf den Weg führen, das Schlamassel (the „mess“) aufzuräumen, das Amerika für die Welt angerichtet habe.
Die derzeitige exzessive Nutzung von Social Media wie Meta Snap und ByteDance führe dazu, dass Kinder mit gewalttätigen, sexuellen sowie raubtierhaften, rücksichtslosen („predatory“) Inhalten konfrontiert würden – mit negativen Auswirkungen auf die Erziehung, die geistige Gesundheit und das körperliche Wohlbefinden.
Die Konzerne würden niemals etwas dagegen unternehmen, wenn sie nicht gesetzlich dazu gezwungen würden. Das bestätigen ausführliche Untersuchungen zu Facebook und Marc Zuckerberg.
Die dunkle Seite von Facebook, Instagram und Marc Zuckerberg
Bereits ab September 2021 veröffentlichte das Wall Street Journal eine ungewöhnlich umfangreiche Artikelserie zu Facebook. Dem Journal waren interne Unterlagen des Medienkonzerns zugespielt worden, die unter anderem die stark negativen Auswirkungen von Instagram auf die geistig-seelische Gesundheit insbesondere junger Mädchen aufzeigen.
Laut den internen Unterlagen wussten Facebook und Mark Zuckerberg beispielsweise, dass 32 Prozent der Teenagerinnen sich nach Instagram schlechter fühlten, wenn sie sich bereits vorher schlecht gefühlt hatten. „Vergleiche auf Instagram können verändern, wie sich junge Frauen sehen und sich selbst beschreiben.“ Außerdem wusste Facebook demnach genau, dass Instagram süchtig macht.
In der Öffentlichkeit hätten aber Marc Zuckerberg und andere Führungskräfte von Facebook immer wieder betont, dass die Forschungsergebnisse nicht eindeutig seien, dass Facebook wenig schädlich sei und auch viele vorteilhafte Einflüsse habe.
Ein US-Senator meinte, Facebook habe die Blaupause von big tobacco übernommen – Teenager mit gefährlichen Produkten ködern und gleichzeitig in der Öffentlichkeit die wissenschaftlichen Ergebnisse verheimlichen. Die US-amerikanische Psychologieprofessorin Jean Twenge führte aus: Zu glauben, dass ein Tabakkonzern ehrlicher mit dem Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs umgehen solle, sei ebenso naiv wie zu glauben, dass Facebook ehrlicher mit dem Zusammenhang von Instagram und Depressionen von Teenagerinnen umgehen solle.
Leiter des US-Gesundheitswesens empfiehlt: Keine Nutzung von Social Media unter 16
Auch andere führende US-Wissenschaftler bestätigen die Aussagen von Jonathan Haidt. Mitte Juni 2023 erschien im Wall Street Journal ein Artikel mit der Überschrift: „Warum 16 das Mindestalter für Social Media sein sollte – Ein Plädoyer, TikTok, Snapchat und Instagram für Kinder unter 16 zu verbieten“.
Da die Schäden durch Social Media den Nutzen überwögen und die bestehenden Gesetze eher Marketing und Datensammlung als die Sicherheit von Kindern schützten, empfahl die Zeitung, die Nutzung von Social Media analog zum Autofahren erst ab 16 Jahren zu erlauben. Das Wirtschaftsjournal berief sich dabei auf die Aussagen des Arztes Vivek Murthy.
Vivek Mrhy ist nicht irgendwer. Er ist Leiter des US-Gesundheitswesens („Surgeon General“) und will seinen eigenen Kindern, fünf und sechs Jahre alt, vor 16 keinen Zugang zu Social Media geben. Es gebe viele wissenschaftliche Hinweise darauf, dass die Nutzung von Social Media ab zehn Jahren zu der derzeitigen „youth mental health crisis“ beitrügen.
Murthy sieht diese als die derzeit größte Herausforderung für das öffentliche Gesundheitswesen an. Ärzte und Politiker seien sich einig, dass 13 für die Nutzung von Social Media zu jung sei. Unter 16 seien die Jugendlichen viel zu empfindlich für Gruppendruck, Meinungen und Vergleiche.
Das Gehirn sei in diesem frühen Lebensalter in seiner Entwicklung noch viel zu verwundbar, um es den Social Media auszusetzen. Das sind überraschende Aussagen für ein Wirtschaftsjournal, das sich für einen möglichst freien Kapitalismus einsetzt.
Umfang des Medienkonsums in Deutschland
In einem vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlichten Bericht von Oktober 2022 zu den Folgen der Corona-Zeit auf den Substanz- und Medienkonsum heißt es, dass während der Corona-Zeit eine deutliche Zunahme des Medienkonsums von Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und jungen Menschen (18 bis 21 Jahre) in Deutschland stattgefunden habe.
Er betrage bei Jugendlichen derzeit fünf Stunden pro Tag an einem typischen Wochentag (Schultag, Arbeitstag) und knapp sieben Stunden an freien Tagen. Sieben Stunden – das ist fast die Hälfte der wachen Tageszeit. 2015 waren es noch knapp drei Stunden gewesen (166 Minuten täglich).
Etwa 60 Prozent der Jugendlichen und 57 Prozent der jungen Erwachsenen zeigten demnach „ein problematisches Internetnutzungsverhalten“. Das betrifft Mädchen beziehungsweise Frauen häufiger als Jungen: Bei den Mädchen zeigen 67,7 Prozent, bei den Jungen 50,5 Prozent ein Internetsuchtverhalten, bei den jungen Frauen 63,6 Prozent, bei den jungen Männern 49,4 Prozent.
Kurz: Drei von fünf Jugendlichen in Deutschland im Alter von 14 bis 17 zeigen derzeit ein „problematisches Internetnutzungsverhalten“. Welche Auswirkungen hat diese übermäßige, zwanghafte Internetnutzung?
Mediennutzung und seelische Belastungen von Mädchen und jungen Frauen
Seit etwa 2015 zeichnet sich ein Trend zur Verschlechterung der geistig-seelischen Gesundheit junger Mädchen ab, die zu stark steigenden Selbstmorden und Selbstverstümmelung führt. Die Statistiken sprechen eine beeindruckende Sprache. Seit 2010 sind laut „economist“ in elf Ländern die Krankenhausaufenthalte von Teenagerinnen wegen Selbstverstümmelung um 143 Prozent gestiegen. Bei Jungen stiegen sie um 49 Prozent.
Als Hauptgrund dafür wird die stark zunehmende Nutzung von Social Media, insbesondere Instagram, genannt. Smartphones sind demnach besonders gefährlich für Mädchen, weil Jungs sich mehr mit Videospielen beschäftigen und weniger mit „depressionserzeugenden Social Media“. Zahlreiche Studien hätten gezeigt, dass Social Media Trauer und Angst bei Teenagern erzeugen können.
Laut „the Guardian“, der sich Anfang 2021 auf eine Studie des „British Journal of Psychiatry“ bezieht, haben in Großbritannien 7 Prozent aller Kinder mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch begangen und fast jeder Vierte beging einen Akt der Selbstverstümmelung im letzten Jahr. Davon waren besonders Mädchen betroffen. Als ein Grund wird genannt, dass „Social Media ein toxisches Umfeld“ sein kann.
Im britischen Oberhaus gab es Anfang 2022 angesichts der steigenden Fallzahlen von Suiziden und Selbstverstümmelungen bei Mädchen eine umfangreiche Anfrage darüber, „welche Rolle Social Media beim Tod von Kindern in Großbritannien spielten, inklusive Selbstmorde, Selbstverstümmelung und Mord“.
Auswirkungen der Mediennutzung auf Jungen
Jungs nutzen teilweise andere Arten von Social Media, andere Computerspiele und sie reagieren meist auch anders als Mädchen auf Mediennutzung. Während Jungs die Aggression stärker nach außen leben, reagieren Mädchen oft mit Aggression nach innen (Autoaggression). Kriegs- und Killer-Simulationen wie fortnite, World of Warcraft, Call of Duty und so weiter werden mehrheitlich von Jungs und jungen Männern gespielt.
In seinem Film „Fahrenheit 9/11“ zeigte Michael Moore bereits 2004, wie im US-Militär junge Soldaten durch solche Spiele auf Kampfeinsätze im Krieg vorbereitet wurden. Diese Art von Kriegsspielen werden demnach von den militärischen Vorgesetzten gezielt eingesetzt, um die jungen Männer gefühllos und unempathisch zu machen, um ihnen Mitleid abzuerziehen, um gegenüberstehende Soldaten nicht mehr als Mensch, sondern als zu eliminierenden Feind anzusehen.
Aus Soldaten- beziehungsweise Kriegssicht ergibt das Sinn. Soldaten sollen in Kampfeinsätzen töten, dazu sind Mitleid und Empathie hinderlich. Soldaten sollen zu Kampfmaschinen erzogen werden. Skrupel zu schießen, zu töten, sollen durch solche Spiele aberzogen werden. Kurz gesagt: Diese Spiele werden zur Förderung von Skrupellosigkeit, zur Entmenschlichung und zur Verrohung verwendet. Die professionellen Ausbilder von Soldaten wissen ganz genau, was sie tun und warum sie es tun.
Umso erstaunlicher ist es, dass wir unsere Kinder und Jugendlichen in größtmöglichem Umfang und ohne nennenswerte öffentliche Diskussion diese Killerspiele „spielen“ lassen. Altersschranken werden oft umgangen. Häufig spielen bereits Zehnjährige diese Art von Killer- und Ego-Shooter-Spielen. Was geschieht da in den Seelen unserer Kinder?
Schon erwachsene Männer, US-Soldaten, sprechen offenbar auf diese Art Verrohung an und werden unmenschlicher. Um wie viel mehr trifft das auf Minderjährige zu? Je früher unsere Kinder in diese Art Killerspiele eintauchen, je länger sie am Bildschirm töten, je weiter verbreitet diese Art Fun-Beschäftigung ist, desto mehr werden sie zur Unmenschlichkeit erzogen.
Ich befürchte, dass nach ein paar Kohorten von Kindern und Jugendlichen, die mit diesen entseelenden Spielen besonders früh angefixt wurden, schlimme gesellschaftliche Folgen auf uns zukommen. Aggression, Rücksichtslosigkeit, Egoismus, aber auch Suchtverhalten und Krankheit werden meiner Einschätzung nach dadurch massiv gefördert.
Unsere Kinder und Jugendlichen werden ja allein durch fortnite bereits heute zu hunderten Millionen auf den Krieg aller gegen alle eingeschworen und vorbereitet. Durch fortnite, das mit höchster Intelligenz, brillantem Design und genialem Marketing arbeitet, ist es erstmalig gelungen, Legionen von Minderjährigen so früh für gegenseitiges Umbringen zu begeistern wie nie zuvor. Bei Millionen von jungen Männern werden dadurch meiner Meinung nach die Moralstandards gesenkt.
Verminderung der Denkfähigkeit durch die Social Media
Das ständige schnelle Wischen bei TikTok, Instagram, Facebook & Co. sowie die ungeheuer kurzen Konzentrationsspannen sorgen darüber hinaus meines Erachtens dafür, dass die Denkfähigkeit unserer Kinder und Jugendlichen dramatisch reduziert wird. Die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, geistige Fäden zusammenzuziehen und etwas in Ruhe und Gründlichkeit zu durchdenken, wird durch das ständige schnell-schnell der Social Media unterminiert.
Sind wir schon heute nicht mehr in der Lage, einen Flughafen in Berlin zu bauen, Züge pünktlich zum Fahren zu bringen oder Bahnhöfe mit den vorhergesagten Kosten und im vorhergesagten Zeitraum zu bauen (das Desaster Stuttgart 21): Wie wird das erst in einer Generation aussehen?
Ich denke, dann werden uns die Australier, denen der Schaden durch die Asozialen Medien in der Kindheit und Jugend erspart bleibt, bei Weitem überlegen sein, sowohl auf kognitivem wie auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet.
E-Sport-Verharmlosung
Die Verharmlosung dieser Prozesse wird von den Lobbyisten der Branche aktiv und bewusst vorangetrieben. Vor dem Bildschirm verbrachte Zeit ist das Gegenteil von Bewegung, Gymnastik und Sport. Begriffe und Benennungen sind wichtig für die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, unter anderem bei Eltern.
Wettbewerbe bei Kriegs- und Killer-Simulationen wie Counter Strike oder fortnite als „E-Sport“, also elektronischen „Sport“ zu labeln ist ein geschickter Schachzug der Lobbyisten und eine exakte Verdrehung der Wahrheit. Das sagt viel aus über unsere Moralstandards, besser: die Doppelmoral, die hier vorherrscht.
Die derzeitige rot-grün-gelbe deutsche Bundesregierung plant laut Koalitionsvertrag, E-Sport den Gemeinnützigkeitscharakter zu verschaffen und damit also unsere Kinder krankmachende Prozesse durch Steuerprivilegien zu fördern.
Gesamtgesellschaftliche Auswirkungen
In dem Maße, in dem die Gesundheit sinkt, vermindert sich die Arbeitskraft und wir müssen darüber hinaus zusätzliche Ressourcen in das Gesundheitswesen stecken. Das vermindert unsere reale Wirtschaftskraft und unseren Lebensstandard.
Wenn Moral und Ethik verfallen, setzen Gegenmechanismen ein, die von außen herbeiführen sollen, was von innen zerfällt: Statt dass man sich intuitiv an Normen und Regeln hält, dass man sich anständig und ehrlich verhält, kommt dann der Versuch, Regeln und Gesetze über Polizeigewalt, Security, Überwachungskameras usw., über äußeren Zwang, Druck, Abschreckung und Furcht durchzusetzen.
Das führt zu einer realen Abnahme unseres Wohlstandes wegen steigender unproduktiver Tätigkeiten. Der gesamtgesellschaftliche Schaden geht aber weit über stagnierende oder sinkende Wirtschaftskraft hinaus. Mit Blick auf die massiven schädlichen Einflüsse, denen unsere Jugend seit nicht einmal 20 Jahren über die elektronischen Medien ausgesetzt wird, sind wir momentan offenbar auf dem besten Weg dorthin.
Endlich eine ganz einfache Gegenmaßnahme ergreifen
Daher sollten wir dringend dem australischen Weg folgen, die Nutzung der Asozialen Medien unter 16 verbieten und damit die größte Vernichtung von Humankapital in der Menschheitsgeschichte zu stoppen.
Zum Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor für BWL mit Schwerpunkt Investition, Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von acht Büchern, darunter der neueste Titel: „Das Ende des Wirtschaftswachstums – Die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral“ (2023).
Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschrifteninterviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung.
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