Bis zu 94 Prozent weniger Vögel – Ursachen für Vogelschwund klar?

Die Bestände vieler Vogelarten in Europa schwinden seit Jahren oder Jahrzehnten. Die Gründe für den Rückgang scheinen eindeutig – solange man jeweils nur eine Studie liest.
Vögel und Windräder müssen sich nicht nur in der Nordsee den Luftraum teilen.
Vorprogrammierter Konflikt: Je nach Art fliegen rund 90 Prozent der Vögel in Höhe der Windräder.Foto: iStock
Von 16. Mai 2023

Um rund ein Viertel sind die Bestände von Vögeln in Europa von 1980 bis 2016 zurückgegangen, doch das ist nur ein Durchschnittswert. Je nach Art und Region liegen die Werte teils deutlich darüber oder darunter. Der Bestand einiger Arten ist sogar gewachsen.

Diese Aussagen stützen Forscher um Stanislas Rigal und Vincent Devictor vom Institut des Sciences de l’Évolution de Montpellier (ISEM) unter anderem auf Beobachtungsdaten zu 170 häufig vorkommenden Vogelarten an mehr als 20.000 Standorten in 28 europäischen Ländern. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie jüngst in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“.

Hauptursache für den Rückgang ist der Studie zufolge die intensive Landwirtschaft.¹ Gleichzeitig schreiben die Autoren in ihrer Zusammenfassung: „Die direkten Auswirkungen großer menschengemachter Belastungen auf diesen Rückgang sind noch nicht beziffert [und] kausale Zusammenhänge […] schwer zu erkennen.“ In der Vorbemerkung der Studie heißt es zudem:

„Unsere Ergebnisse quantifizieren nicht einfach nur Korrelationen, sondern unser Analysedesign zielt darauf ab, mehr quasikausale Reaktionen von Vogelpopulationen auf globale Veränderungsfaktoren zu finden. Diese Arbeit leistet einen Beitrag zu einer der größten politischen und technischen Herausforderungen für die Agrarpolitik in Europa, die darum ringt, eine hohe Produktivität durch intensive landwirtschaftliche Praktiken mit dem Umweltschutz in Einklang zu bringen.“

Ergebnisse (gut) für die Politik

Anhand der ausgewählten Daten haben die Forscher „vier weitverbreitete anthropogene Belastungen aufgedeckt: Intensivierung der Landwirtschaft, Veränderung der Waldbedeckung, Verstädterung und Temperaturveränderungen in den letzten Jahrzehnten.“

Sie stellten weiter fest, „dass die Intensivierung der Landwirtschaft, insbesondere der Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln, die Hauptursache für den Rückgang der meisten Vogelpopulationen ist, vor allem bei jenen, die sich von Wirbellosen ernähren. Die Reaktionen auf Veränderungen der Waldbedeckung, der Verstädterung und der Temperatur sind eher artspezifisch.“ Mit anderen Worten: des einen Freud, des andern Leid.

So ist der Rückgang der Vogelbestände nicht gleichmäßig verteilt. Vögel, die Ackerland als Lebensraum bevorzugen, waren mit einer Reduzierung um fast 57 Prozent besonders betroffen. Bei Vögeln in kühleren Lebensräumen gingen die Bestände demnach um 40 Prozent zurück. Der Schwund bei Vögeln in städtischen Lebensräumen war mit knapp 28 Prozent etwas stärker als der allgemeine Trend (-25,4 Prozent).

Weniger stark, um gut 17 Prozent, schrumpften Vogelpopulationen, die wärmere Lebensräume bewohnen und die vor allem in Wäldern zu finden sind. Wobei von 55 analysierten Waldbewohnern etwa die Hälfte einen negativen, die andere Hälfte einen positiven Trend zeigte.

Doch es gibt noch deutlichere Ergebnisse, das zeigt eine andere Studie unter Leitung von Stefan Garthe vom Forschungs- und Technologiezentrum (FTZ) Westküste der Universität Kiel.² Demnach gibt es – mitunter zum Missfallen der Befürworter der Energiewende – sehr wohl „direkte Auswirkungen großer menschengemachter Belastungen auf die Vogelpopulationen“.

In ihrer Studie weisen sie im Umkreis von einem Kilometer um Windfeldern in der Nordsee einen Rückgang von Sterntauchern (Gavia stellata) von 94 Prozent nach. In zehn Kilometer Entfernung hat sich die Population der fischfressenden Wasservögel noch mehr als halbiert (-52 Prozent).

„Das beunruhigt uns sehr“, sagt Garthe, Professor für Meeresökologie an der Universität Kiel. „Während wir den dringenden Bedarf an erneuerbaren Energien anerkennen, stehen wir vor dem Problem, dass Windparks kaum einen Nutzen für Seevögel bringen.“

Ursachenforschung unvollständig?

Auch an Land könnten Windkraftanlagen eine Rolle spielen. So erklären die Autoren um Rigal und Devictor: Die intensive Landwirtschaft mit einem großen Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln und Düngemitteln reduziert die Anzahl an Insekten, die wiederum vielen Vogelarten als Futter dienen.

Dass jene Insekten aber auch von den nicht nur in Deutschland allgegenwärtigen Windrädern beeinflusst werden, bleibt unerwähnt. Entsprechende Ergebnisse wurden bereits im Jahr 2019 veröffentlicht. Epoch Times berichtete.

Ungeachtet dessen kommen die Forscher aus Frankreich zu dem Schluss: „Angesichts der überwältigenden negativen Auswirkungen der Intensivierung der Landwirtschaft und der durch Temperatur- und Landnutzungsänderungen verursachten Angleichung legen unsere Ergebnisse nahe, dass das Schicksal der gemeinsamen europäischen Vogelpopulationen von der raschen Umsetzung transformativer Veränderungen in den europäischen Gesellschaften und insbesondere von Agrarreformen abhängt.“

Während Christian Hof von der Technischen Universität München (TUM) den großen Umfang und die Datenqualität lobt, kritisiert Jörg Hoffmann vom Julius Kühn-Institut (JKI) in Kleinmachnow eben diese Daten. Ihm zufolge seien die Zeiträume und Methoden der Vogelerhebungen nicht angeglichen worden. „Auch wären zum Beispiel […] neben der Lufttemperatur im Besonderen die Niederschläge, deren jahreszeitliche Verteilung sowie Veränderungen im Landschaftswasserhaushalt zu beachten.“

Windräder vs. Vögel

Während Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag, 16. Mai, in Berlin die Ostsee als „Schatz für grüne Energie“ bezeichnete, berichtete Philipp Schwemmer vom FTZ auf dem Meeresumwelt-Symposium des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg von weiteren Gefahren für die Vogelpopulationen.

Und zwar nicht nur für Standvögel. So untersuchten die Kieler Wissenschaftler auch die Reaktionen von Großen Brachvögeln und Meeresgänsen auf Windräder während ihres Vogelzuges aus dem Wattenmeer nach Nordwestrussland. Die zugehörige Studie soll demnächst in der Fachzeitschrift „Journal of Environmental Management“ erscheinen.

Für diese fingen die Forscher 143 Brachvögel, 30 Ringelgänse und 87 Nonnengänse ein und versahen sie mit kleinen Sendern. Sechs Jahre lang lieferten die GPS-Geräte Bewegungsdaten. Die Aufzeichnungen ergaben, dass etwa 70 Prozent der Brachvögel vor den Turbinen aufstiegen oder ihren Kurs änderten und so den Anlagen auswichen.

„Dies ist zunächst eine gute Nachricht, weil somit ein Großteil der Tiere offenbar Kollisionen vermeidet“, erklärte Schwemmer. Er fügte aber hinzu: „Circa 30 Prozent der Brachvögel durchqueren Windparks ohne Reaktion.“ Das berge ein Risiko für die Tiere. Der Große Brachvogel zählt zu den im Bestand bedrohten Arten.

Bei den Meeresgänsen zeigten die Daten zwar einen klar definierten Zugkorridor, den die Tiere an nur wenigen Tagen im Jahr auf ihrem Weg nach Nordsibirien nutzen, ob Meeresgänse den Windparks ebenfalls ausweichen, sei jedoch noch unklar. Rund 90 Prozent der Tiere fliegen in Höhe der Windräder.

Schwemmer plädierte dafür, diesen Korridor von der deutschen Ostsee über Südschweden bis zum Finnischen Meerbusen bei der Planung von Offshore-Anlagen zu berücksichtigen oder die Anlagen an den wenigen Tagen mit Vogelzug abzuschalten. Letzteres erfolgte in einer „Weltpremiere“ in den Niederlanden Mitte Mai.

„Man kann von einer Gefährdung ausgehen“

Ommo Hüppop, Biologe vom Institut für Vogelforschung in Wilhelmshaven, erklärte auf dem Symposium weitere Schwierigkeiten: So könne der Flug kleinerer Vögel über die Meere nicht so leicht verfolgt werden. Die GPS-Sender seien für sie meist zu schwer. Und auch Beobachtungen sind schwierig, weil zwei Drittel aller ziehenden Vogelarten nachts die Meere überfliegen.

Um dennoch den Weg von Amseln, Drosseln, Rohrsängern und anderen kleinen Vögeln zu verfolgen, werten Hüppop und Kollegen die Daten von Wetterradargeräten der Ostseeanrainerstaaten aus. Schwärme, Vögel und sogar Insekten werden damit auf den Karten sichtbar und erschienen auf den Radarbildern wie „große fliegende Wassertropfen“. Die Wissenschaftler könnten zwar nicht die Art der Vögel erkennen, aber feststellen, wie viele Tiere sich wie schnell in welche Richtung bewegen.

Wie viele Tiere dabei mit Windrädern kollidieren, konnte Hüppop nicht sagen. Klar sei aber, dass die Vögel bei schlechtem Wetter niedriger flögen und von Licht angezogen werden. „Da kann man von einer Gefährdung ausgehen“, sagte der Biologe, der mehr als 20 Jahre lang die Vogelwarte auf Helgoland leitete.

(Mit Material der Nachrichtenagenturen)

Quellen und Literatur

¹ Rigal et al. (2023); doi.org/10.1073/pnas.2216573120

² Garthe et al. (2023); doi.org/10.1038/s41598-023-31601-z



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