Zehntausende trauern um getöteten Separatistenführer in der Ostukraine – wer steckt dahinter?
In der Ostukraine haben zehntausende Menschen am Sonntag Abschied von dem getöteten Separatistenführer Alexander Sachartschenko genommen. Der in eine Flagge gehüllte Sarg Sachartschenkos war zuvor in einem Theater in der Rebellenhochburg Donezk öffentlich aufgebahrt worden. Unzählige Anhänger standen Schlange, um dem am Freitag bei einem Anschlag getöteten 42-Jährigen die letzte Ehre zu erweisen. Viele Menschen hatten Blumen mitgebracht und weinten.
Nach Angaben der Stadtverwaltung waren rund 100.000 Menschen auf der Straße. Ein Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP schätzte die Teilnehmerzahl auf über 30.000. In staatlichen russischen Quellen war von etwa 70.000 die Rede. Uniformierte riegelten das Stadtzentrum ab, der öffentliche Nahverkehr wurde vorübergehend eingestellt. In der Stadt wurden riesige Plakate mit Bildern und Zitaten Sachartschenkos aufgehängt. „Wir haben alle ein Mutterland – Russland“, stand auf einem Plakat.
Sachartschenko, der Anführer der 2014 ausgerufenen, international nicht anerkannten „Volksrepublik Donezk“, war am Freitag bei einer Bombenexplosion in einem Café in Donezk getötet worden. Auch ein Leibwächter Sachartschenkos wurde getötet, zwölf weitere Menschen wurden verletzt.
Am Sonntag würdigte der Putin-Berater Wladislaw Surkow den Getöteten als einen „Bruder“. „Du bist ein cooler Typ, ein wahrer Held und es ist ein große Ehre, dein Freund zu sein“, hieß es in einer Erklärung Surkows, die von der Nachrichtenagentur der Separatisten in Donezk verbreitet wurde. Nach Donezk kamen auch der Präsident der von Georgien abtrünnigen Region Südossetien, Anatoli Bibilow, und der frühere Regierungschef der „Volksrepublik Donezk“, der russische Journalist Alexander Borodai. Russlands Präsident Wladimir Putin sprach den Bewohnern Donezks sein Beileid aus. Der Kreml bezeichnete den Anschlag als Provokation und wertete ihn als Gefahr für den Friedensprozess in der Ostukraine.
Im Osten der Ukraine kämpfen seit April 2014 prorussische Rebellen gegen ukrainische Regierungstruppen. Zuvor hatten prowestliche und nationalistische Kräfte in Kiew den amtierenden Präsidenten Wiktor Janukowytsch in gewaltsamen Unruhen in der Hauptstadt aus dem Amt gedrängt. In der stark russisch geprägten Ostukraine stieß der sogenannte Euromaidan auf eine ungleich geringere Akzeptanz als im Westen des Landes. In dem Konflikt wurden bislang mehr als 10.000 Menschen getötet. Die ukrainische Regierung, die EU und die USA werfen Russland vor, die Separatisten militärisch zu unterstützen. Moskau weist dies zurück.
Unmittelbar nach dem Anschlag wurden in der Politik, in traditionellen und auch in sozialen Medien Spekulationen über mögliche Urheber und über die zu erwartenden Auswirkungen auf den Ukrainekonflikt laut. Wir haben die am häufigsten gestellten Fragen zusammengetragen.
Wer steckt hinter dem Mordanschlag auf den Chef der „Volksrepublik Donezk“?
Bislang beschränken sich die Antworten auf diese Frage auf Spekulationen und unbestätigte Meldungen. Russland verdächtigt ukrainische Sicherheitsdienste, hinter dem Anschlag zu stecken. Die Sprecherin des Außenministeriums der Russischen Föderation, Maria Sacharowa, sprach von am Samstag davon, dass das „Kiewer Regime“ für den Gewaltakt verantwortlich sei. Die ukrainische Regierung habe, so Sacharowa, „mehr als einmal ähnliche Mittel eingesetzt […], um missliebige Personen mit abweichenden Ansichten zu beseitigen“.
Nach Angaben russischer Staatsmedien haben die Sicherheitsbehörden der „Volksrepublik Donezk“ bereits zwei Verdächtige verhaftet. Zudem ließen die Behörden des Protostaates die Außengrenzen schließen.
Regierungsbehörden der Ukraine streiten die russischen Vorwürfe ab und stellen – ebenso wie ukrainische Medien – eigene Überlegungen über mögliche Hintergründe an. Das ukrainische Außenministerium sieht die möglichen Urheber im Kreml und spricht davon, Russland wolle „Zeugen beseitigen“ und „die Marionetten verbergen, die es unterstützt und finanziert“. Die ukrainische Nachrichtenagentur Unian deutet auch einen möglichen Konflikt zwischen den russischen Nachrichtendiensten GRU und FSB an, die hinter unterschiedlichen Akteuren in den abtrünnigen Gebieten stünden.
Der ukrainische Geheimdienst hält diese These für wenig stichhaltig. Er geht eher von einem Einflussstreit innerhalb der Eliten der „Volksrepublik“ selbst aus und wittert Auseinandersetzungen um zwangsverstaatlichte Vermögenswerte in den Jahren 2014 bis 2018 hinter dem Anschlag.
Die russische Tageszeitung Kommersant spricht unter Berufung auf Ermittlerkreise von einer Bombe in einem Kerzenleuchter oder einer anderen Beleuchtungsvorrichtung, die in der Gaststätte „Separ“ explodiert sei. Diese galt als streng bewacht, der Sprengkörper musste demnach von einer Person aus dem engeren Umfeld Sachartschenkos angebracht worden sein oder diese müsse von deren Anbringung im Vorfeld gewusst haben.
Bereits seit der Wiedererlangung der staatlichen Eigenständigkeit der Ukraine im Jahr 1992 leben streitbare Politiker gefährlich, ebenso politisch exponierte Journalisten und solche, die sich mit Themen wie Korruption und organisiertem Verbrechen befassen. Eine ähnliche Situation war auch in anderen früheren Sowjetrepubliken zu beobachten, etwa in der Russischen Föderation oder in Weißrussland.
Auch nach dem Maidan war es in der Ukraine zu einer Vielzahl an noch ungeklärten Mordfällen gekommen, die mögliche politische Hintergründe zumindest vermuten lassen. Diese reichen von den berüchtigten Scharfschützen auf dem Maidan und den Toten vom Angriff auf das Gewerkschaftshaus in Odessa bis hin zu den Morden am prorussischen Journalisten Oles Busyna bis hin zum Investigativ-Journalisten Pawel Schmeret.
Zu den prominenten Mordopfern aus den „Volksrepubliken“ gehören bisher unter anderem die Milizenführer Mikhail Tolstykh („Giwi“) und Arsen Pawlow („Motorola“). Eine umfassende Aufklärung der Taten wurde zumeist dadurch unterminiert, dass die politischen Konflikte zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation eine unvoreingenommene Untersuchung erschwerten.
Zum Nachfolger Sachartschenkos wurde sein ehemaliger Stellvertreter Dmitri Trapesnikow ernannt. Der frühere Fanklubmanager des Fußballklubs Schachtar Donezk gilt als „graue Eminenz“ innerhalb der „Volksrepublik Donezk“.
Neue Eskalation in der Ostukraine oder im Minsk-Prozess zu befürchten?
Zwar macht die russische Regierung die Ukraine für den Mord an Sachartschenko verantwortlich und Präsident Wladimir Putin warnt vor einer Destabilisierung, die er infolge der Tat für wahrscheinlich hält.
Bislang jedoch herrscht an den Fronten des seit 2014 anhaltenden bewaffneten Konflikts immer noch gespannte Ruhe. Der jüngst ausgehandelte Waffenstillstand zum Schulbeginn erweist sich als größtenteils stabil. Zwar werden einzelne Verletzungen der Waffenruhe gemeldet, für die beide Seiten einander wechselseitig verantwortlich machen. Dass der Tod Sachartschenkos, der als charismatisch galt, dazu führen wird, dass die Kampfhandlungen wieder eskalieren, ist derzeit jedoch nicht zu erkennen.
Wird Putin nun in den Donbass einmarschieren?
Einige russlandkritische Medienformate im Westen deuten diese Möglichkeit an, die ukrainische Regierung meint ohnehin, dies wäre längst geschehen, russische Kommunisten und Nationalisten fordern ihrerseits sogar eine militärische Aktion der russischen Armee. Dennoch ist dies mit Sicherheit die unwahrscheinlichste aller Varianten.
Die Situation im Donbass war aus russischer Sicht von vornherein eine komplett andere als auf der Krim. Bereits in den Wirren des Maidans will Moskau hier klar differenziert haben, obwohl im Staatsapparat immer noch stark vertretene „ethnobolschewistische“ Kräfte, die eine vollständige russische Hegemonie über die gesamte Ukraine anstreben, damals ein hartes Vorgehen verlangt hatten.
Präsident Putin hingegen erklärte später in einer Dokumentation, auf der Basis eigener Untersuchungen über die Einstellung der jeweiligen Bevölkerung zu dem Ergebnis gelangt zu sein, mithilfe russischer Militärkräfte auf der Krim eine Volksabstimmung über eine Abspaltung und Rückgliederung an Russland gewährleisten zu müssen. Im Donbass sei die Stimmung demgegenüber weniger eindeutig gewesen. Der Westen erkennt die im März 2014 abgehaltene Volksabstimmung auf der Krim bis heute nicht an und spricht von einer „Annexion“.
Es ist davon auszugehen, dass Russland kein Interesse an der Integration des Pulverfasses, das der Donbass immer noch darstellt, in den eigenen Hoheitsbereich hat. Auch der finanzielle Aufwand für einen Wiederaufbau des Donbass wäre so groß, dass es in Russland selbst erhebliche Vorbehalte gegen ein solches Szenario geben würde. Da die USA die ukrainischen Streitkräfte in der Zwischenzeit mit moderneren und schlagkräftigeren Waffen ausgestattet haben, wäre eine militärische Eskalation zwischen Russland und der Ukraine selbst auch für Moskau risikoreicher.
Außerdem bemüht sich Moskau in Anbetracht jüngster geopolitischer Entwicklungen, die Beziehungen zu einer EU zu verbessern, die zunehmend selbst auf Konfrontationskurs gegenüber dem großen Rivalen USA geht. Eine weitere Beeinträchtigung der ukrainischen Souveränität würde diesem Bestreben entgegenlaufen.
Zusammenbruch der „Volksrepubliken“ wahrscheinlicher geworden?
Mit Sachartschenko ist zwar eine wichtige Symbolfigur für die Aufständischen im Donbass ermordet worden. Eine Implosion der Protostaaten ist jedoch nicht absehbar. Die faktische Hoheitsgewalt der politischen Akteure und Milizen hinter den „Volksrepubliken“ ist immer noch intakt, der Führungswechsel hin zum erfahrenen Strategen Trapesnikow vollzog sich reibungslos.
Dies schafft auch für die ukrainische Regierung eine unkalkulierbare Situation, die eine militärische Großoffensive zur Eroberung des Donbass zu einem erheblichen Risiko macht. Selbst wenn eine solche Offensive, die mit erheblichen zivilen Opferzahlen und einem Ansehensverlust Kiews auch in vielen westlichen Staaten verbunden sein könnte, erfolgreich verlaufen würde, wäre eine Situation ähnlich jener im Südosten der Türkei zu befürchten. Dort kämpft die kurdische PKK seit Mitte der 1980er Jahre mit terroristischen Mitteln gegen den Staat und übt bis heute eine faktische Hegemonie über eine Reihe von Territorien aus.
Die Protostaaten auf ukrainischem Boden in den Augen der Bevölkerung
Für die Regierung in Kiew ist die Situation eindeutig: Der Donbass ist „von Russland besetzt“, und die Bevölkerung sehnt sich nach einer Befreiung durch das ukrainische Militär. Tatsächlich ist die Situation deutlich komplizierter. Die Entstehung der „Volksrepubliken“ ist ein Produkt des deutlichen geringeren Rückhalts für den Maidan in der Ostukraine, die seit jeher eine deutlich engere Bindung an den russischen Nachbarn aufweist als die westlichen Teile der Ukraine, die eine starke mitteleuropäische Prägung aufweisen.
Für die hauptsächlich kommunistisch und ethnobolschewistisch-nationalistisch geprägten prorussischen Milizen des Donbass ist dieser die „Heimat des Sowjetmenschen“, die Staatsideologie der untergegangenen UdSSR sei dort auf überdurchschnittliche Akzeptanz gestoßen.
Durch Schritte in Richtung einer forcierten Assimilationspolitik und die im April 2014 gestartete „Antiterror-Operation“, die zu blutigen Gefechten mit mindestens 10.000 Toten geführt hatte, hat die Regierung in Kiew die Entfremdung weiter Bevölkerungsteile im Donbass eher verstärkt als gemindert.
Auch die fünfstellige Zahl an Trauergästen beim Begräbnis Sachartschenkos am Wochenende zeigte, dass die Separatisten nach wie vor über eine Basis verfügen, ohne die sich der Protostaat nicht so lange hätte halten können.
Andererseits ist die Loyalität zu den Protostaaten in wesentlichen Teilen auch davon abhängig, inwieweit diese wirtschaftliche Perspektiven bieten. Wer Arbeit hat, und sei es in Russland, steht hinter den „Volksrepubliken“. Andererseits sind jedoch eine erhebliche Unzufriedenheit, wirtschaftlicher Niedergang, ein hoher Aufwand, um an staatliche Leistungen zu kommen, und ein dominanter Einfluss kommunistischer und ultranationalistischer Gruppen sowie von Gangstersyndikaten zu beobachten.
Dass internationale Partnerportale zu Tausenden Frauen aus der Ostukraine zu ihren Kunden zählen, macht deutlich, dass die Perspektiven als trist wahrgenommen werden und wer immer eine Möglichkeit findet, den Donbass zu verlassen, diese bereitwillig wahrnimmt. Wie lange die Volksrepubliken diese Abwanderungstendenzen noch verkraften können, ist ungewiss.
(Mit Material von afp)
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