Lindner denkt über europäische Kooperation zur „atomaren Abschreckung“ nach
Seit der „Zeitenwende“, die von Kanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgerufen wurde, ist Deutschland nicht mehr das, was es einmal war. Beinahe 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Krieg wieder grundsätzlich diskutabel – Diplomatie dagegen verpönt. Jedenfalls bei großen Teilen des politischen Establishments, allen voran bei Größen der Ampelparteien und der Union.
Neuerdings steht sogar wieder die Frage nach einer atomaren Aufrüstung auf EU-Territorium im Raum – 34 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) gab sich in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ, Bezahlschranke) nicht abgeneigt, zumindest über eine verstärkte innereuropäische Zusammenarbeit diesbezüglich nachzudenken.
Lindner für „atomare Abschreckung“ in Kooperation mit Frankreich und Großbritannien
Nach Informationen des „Spiegel“ zeigte sich Lindner offen „für mehr Kooperation mit Frankreich und Großbritannien“, was die „atomare Abschreckung“ angehe. „Der französische Präsident Emmanuel Macron hat verschiedentlich Kooperationsangebote vorgetragen“, stellte Lindner demnach klar. Vor dem Hintergrund der Trump-Wahlkampfrede von South Carolina solle man „dieses Element europäischer Sicherheit unter dem Dach der NATO“ „weiterdenken“. Entsprechende Angebote über eine „europäische Kooperation“ in Sachen Atombomben, die Frankreich im Jahr 2020 gemacht hatte, waren der „Welt“ zufolge bislang „ohne große Resonanz“ geblieben.
Deutschland stehe nun „am Beginn der Epoche der ‚Freiheitsinvestition‘“, euphemisierte Lindner die Aussicht, noch weit mehr Steuergeld für Militärzwecke auszugeben. „Ab spätestens 2028“ werde „eine erhebliche Finanzierungsanstrengung nötig sein“, so Lindner in der FAZ. Derzeit aber fehle das Geld, auch für eine schnelle Aufstockung des Bundeswehr-„Sondervermögens“, wie es unter anderem der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter gefordert hatte.
Mit den Worten „Wir werden durch eine Stärkung unserer wirtschaftlichen Dynamik erreichen müssen, dass es uns leichter fällt, in den nächsten Jahren mehr Geld für Verteidigungsaufwendungen zu mobilisieren“, zeigte sich Lindner laut „Spiegel“ „bei einem Besuch in Dublin“ jüngst entschlossen, seinen Weg weiterzuverfolgen.
EU-Abgeordnete Barley (SPD) hatte EU-Atombomben als Thema gesetzt
Zuvor hatte die SPD-Spitzenkandidatin für die EU-Wahl, Katarina Barley, die Aufrüstung der EU mit eigenen Atombomben im Bereich des Möglichen verortet: „Auf dem Weg zu einer europäischen Armee“ könne „auch das ein Thema werden“, so Barley wörtlich. Denn auf den US-Atomwaffen-Schutzschirm sei „kein Verlass mehr“. Barley laut „Welt“ weiter:
Wir müssen Putins Drohungen ernst nehmen, uns entsprechend verhalten. Wenn Putin öffentlich die territoriale Integrität Polens und Litauens bezweifelt, zeigt das, wie wachsam wir sein müssen.“
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte bei seinem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson genau das Gegenteil bekräftigt.
Hintergrund von Barleys Zweifeln war eine Ansage des wahrscheinlichen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump: Dieser hatte kürzlich angekündigt, im Fall einer Wiederwahl die militärische Unterstützung der NATO-Partner im Kampf gegen Russland davon abhängig zu machen, dass diese ihre Zahlungsverpflichtungen für Verteidigung erfüllen. Andernfalls werde er Russland sogar „dazu ermutigen, zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen“, zitiert der „Spiegel“ den ehemaligen Präsidenten der Jahre 2017 bis 2021.
Weber und Gabriel für EU-Abschreckungsstrategie
CSU-Vizeparteichef Manfred Weber, zugleich Vorsitzender der EVP-Fraktion im EU-Parlament, hatte sich in der „Bild“ (Bezahlschranke) für eine europäische Abschreckungsstrategie mit Nuklearwaffen ausgesprochen. Wie Lindner zeigte er sich bereit, dafür auf eine Kooperation mit Frankreich und Großbritannien zu setzen.
Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), der Vorsitzende des amerikanisch-deutschen Thinktanks Atlantik-Brücke, plädierte im „Stern“ ebenfalls für „eine gemeinsame nukleare Komponente“ in der EU.
Scholz verweist auf „nukleare Teilhabe“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem polnischen Regierungschef Donald Tusk am 12. Februar signalisiert, dass er derzeit keinen Bedarf an EU-Atomwaffen sehe: „Wir haben eine funktionierende NATO, eine sehr gute transatlantische Partnerschaft. Dazu gehört auch das, was wir an nuklearer Zusammenarbeit entwickelt haben“, so Scholz laut „Spiegel“. Nach Angaben der „Welt“ bedeutet die „sogenannte nukleare Teilhabe“, dass „im Ernstfall“ Kampfflugzeuge der deutschen Luftwaffe im Auftrag des Pentagons amerikanische Nuklearwaffen an ihr Ziel fliegen müssen.
Zudem hatte sich der Kanzler erfreut darüber gezeigt, dass Deutschland schon 2024 das Zwei-Prozent-Ziel der NATO erreichen werde. Das werde auch „für alle Zeit“ so bleiben, sagte Scholz nach Angaben der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ). Es handele sich um „die höchsten Verteidigungsausgaben in Europa“. Zudem gelte das Schutzversprechen der Vereinigten Staaten, „Alle für einen, einer für alle“, noch immer „uneingeschränkt“.
Tusk hatte laut „Spiegel“ dafür plädiert, „dass man das Angebot des französischen Präsidenten zu einer möglichen Europäisierung der Atomwaffen ‚wirklich ernst‘ nehmen solle“. Der polnische Innenminister Marcin Kierwiński machte sich laut SZ für eine gemeinsame Verteidigungspolitik stark, denn Trump habe nach seiner Interpretation „direkt die Übergabe Europas an Putin“ gefordert.
Strack-Zimmermann und Hofreiter reagieren kühl
Die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, geht laut „Spiegel“ davon aus, dass atomare Abschreckung zwar grundsätzlich wirke: Wenn die Ukraine nicht ihre eigenen Atomwaffen in Vertrauen auf Schutz aus Moskau abgegeben hätte, wäre sie nie von Russland angegriffen worden, so Strack-Zimmermann. Dennoch benötige die EU „keine eigenen Atomwaffen“, zumal die Europäische Union „ja nicht einmal eigene Streitkräfte“ habe. Für sie genügten die französischen Nuklearwaffen, falls die USA „als Schutzmacht ausfallen“ sollten. Strack-Zimmermann habe allerdings einen eigenen „EU-Kommissar für Verteidigungsfragen“ gefordert: Dieser solle „die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern“ koordinieren.
Für Anton Hofreiter, den Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, sieht die Lage offenbar ähnlich aus. Es müsse grundsätzlich erst „einen riesigen Integrationsschritt in der Außen- und Sicherheitspolitik“ geben, bevor es zu einer „eigene[n] europäische[n] Nuklearstreitmacht“ kommen könne, sagte der Bayer gegenüber dem „Spiegel“. „Was wir brauchen, ist eine engere europäische Abstimmung innerhalb der NATO“, so Hofreiter.
Scharfer Widerspruch von Wadephul, Stegner, Schirdewan und Nanni
Geradezu entsetzt zeigten sich nach Informationen des „Spiegel“ der CDU-Außenexperte Johann Wadephul, der Bundestagsabgeordnete Ralph Stegner (SPD), der linke EU-Parlamentarier und Co-Parteichef Martin Schirdewan und die grüne Verteidigungspolitikerin Sara Nanni.
Nanni würde nach „Spiegel“-Angaben zwar „eine gemeinsame europäische industrielle Basis für konventionelle Rüstungsgüter“ begrüßen, glaube aber nicht daran, dass Frankreich und Großbritannien ihre Nuklearwaffen „zusammenlegen“ würden. So etwas zu denken, sei „naiv“.
Atommacht NATO
Innerhalb der NATO verfügen nach Angaben der „Welt“ derzeit nur die USA, Frankreich und Großbritannien über eigene Atomwaffen. Stand Januar 2023 besaßen die USA laut „Statista“ insgesamt 5.244 Sprengköpfe, Frankreich beherbergte 290, Großbritannien 225.
Russland verfügte damals mit knapp 5.900 Nuklearwaffen über das weltweit größte Arsenal. Daneben sind auch China (410), Pakistan (170), Indien (164), Israel (90) und Nordkorea (30) im Besitz atomarer Sprengköpfe.
Auch auf deutschem Boden lagern im Rahmen des Nukleare-Teilhabe-Programms der NATO „rund 20 Atombomben des Typ B61“, und zwar im Fliegerhorst Büchel (Rheinland-Pfalz). Die Zahl stammt aus einem „Focus“-Artikel vom Mai 2022. Frühere Lagerstätten in „Memmingen, Nörvenich und Ramstein“ seien „mittlerweile abgezogen worden“.
In ganz Europa waren im Mai 2022 laut „Focus“ „rund 180 US-Atombomben“ verteilt. Neben Deutschland lagerten diese in den Niederlanden, in Belgien, Italien und in der Türkei. Dazu kommen noch die gut 500 britischen und französischen Nuklearwaffen.
Knappe Mehrheit für US-Atombomben auf deutschem Territorium
Nach Informationen der „Tagesschau“ hatte sich im Juni 2022 in einer Infratest dimap-Umfrage für das Magazin „Panorama“ erstmals eine knappe Mehrheit der Deutschen, nämlich 52 Prozent, für den Verbleib der US-Sprengköpfe in Deutschland ausgesprochen.
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