Deutschland geht Sonderweg – Streit um neue Corona-Regeln
Was bringt der Herbst? Was gilt im Winter? Mit diesen Fragen beschäftigen sich derzeit die deutschen Politiker. Während in Dänemark bereits seit dem 1. Februar 2022 keine Restriktionen wie Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen gelten, debattierte der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages am 29. August über mögliche Corona-Regeln, da die geltenden Regelungen zum 23. September auslaufen. In der Diskussion zum Infektionsschutzgesetz ging es unter anderem um Maskenpflicht, Corona-Tests, Impfungen, die Datenlage und den deutschen Sonderweg.
Die 90-minütige Hybrid-Sitzung wurde von der stellvertretenden Vorsitzenden Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) geleitet, die wie manch andere vor Ort anwesende Abgeordnete eine Mund-Nasen-Bedeckung im Sitzungssaal trug. Die Zeit für Frage und Antworten an die Sachverständigen richtete sich nach der Stärke der Fraktionen: SPD 25 min, Union 24 min, Bündnis 90/Grüne 15 min, FDP 11 min, AfD 10 min, Die Linke 5 min.
Nachbarländer ohne Maßnahmen
Professor Dr. Jonas Schmidt-Chanasit, Immunologe am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg, sprach davon, dass die Infektion mit den aktuellen Corona-Varianten zu einer „deutlichen Zunahme der Immunität in der Bevölkerung“ geführt haben dürfte, auch bei ungeimpften Personen. Daher hält er eine Überlastung kritischer Infrastrukturen für unwahrscheinlich.
Gleichzeitig warf er einen Blick in die Nachbarländer, wodurch der Sonderweg von Deutschland offensichtlich wurde. In Frankreich gibt es keinerlei Beschränkungen mehr, aktuell sind auch keine Maßnahmen geplant. Selbst die Maskenpflicht im Gesundheitswesen ist dort aufgehoben, erklärt Schmidt-Chanasit. In der Schweiz sind die Restriktionen bereits im Frühjahr weggefallen, auch Isolation und Quarantäne gibt es nicht mehr. Lediglich bei Überlastung des Gesundheitssystems können die Kantone Empfehlungen abgeben oder Maßnahmen vorschreiben; neue Pläne gibt es jedoch nicht. Ähnlich ist es auch in den Niederlanden.
In Dänemark gelten schon seit Beginn des Jahres keine Corona-Beschränkungen mehr. Schulen, Restaurants und andere Einrichtungen müssen sich nicht auf neue Maßnahmen vorbereitet. Falls es zu einem stärkeren Infektionsgeschehen kommt, sollen kostenlose PCR-Tests ausgeweitet werden. In Österreich gilt ein Varianten-Managementplan. Sofern keine besorgniserregende Varianten auftreten, die eine Immunflucht auslösen, seien keine neuen Maßnahmen vorgesehen.
Keine Einschränkungen für Kinder
Schmidt-Chanasit hält eine Fokussierung der deutschen Corona-Politik auf besonders gefährdete Gruppen für richtig. Dafür spreche auch eine Studie, nach der auf Kinder und Jugendliche ausgerichtete Maßnahmen wie Schulschließungen, anlasslose Corona-Tests im Unterricht sowie Einschränkungen von Sport- und Freizeitangebot eine überwiegende natürliche Immunisierung nicht beeinflussen konnte.
Die Pandemie-Maßnahmen hätten vielmehr einen unerwünschten negativen Effekt auf diese Altersgruppe gezeigt. Dies müsse im Corona-Management für Herbst und Winter berücksichtigt werden, da Kinder und Jugendliche nicht oder nur sehr selten schwer an COVID erkranken.
Die neu geprägten Begriffe von „frisch genesen“ und „frisch geimpften“, die für drei Monate für Ausnahmeregelungen gelten sollen, beruhen laut Schmidt-Chanasit auf einer Fehleinschätzung der Effektivität der Impfstoffe. Der Schutz vor schweren Infektionen sei mindestens für ein Jahr gegeben. Engmaschige Boosterimpfungen würden den Infektionsschutz weder erhöhen noch verbessern, wenn zuvor eine Immunantwort ausgeblieben ist. Insoweit hält er diese Regelung für nicht geeignet.
Aufhebung der Impfpflicht
Norbert Grote vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste kritisierte das Festhalten der Regierung an einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht. Diese sei nur unter der Bedingung einer allgemeinen Impfpflicht eingeführt worden, die im Bundestag aber keine Mehrheit erreichen konnte. Besonders im Hinblick auf die Omikron-Variante, bei der sich auch Geimpfte infizieren und andere anstecken könnten, sei eine Impfpflicht schwer nachvollziehbar. Grote geht davon aus, dass zum Oktober weitere nicht geimpfte Pflegekräfte ihren Beruf verlassen. Er sagte eindringlich, dass „wir uns es schlichtweg nicht leisten können, dass Pflegekräfte fehlen“.
Dr. Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht und Vizepräsent des Berliner Verfassungsgerichtshofes, wies darauf hin, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht nur in Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus April betrachtet werden dürfte, wonach die Richter dies als verfassungsmäßig einstuften. Es müsse vielmehr eine Anpassung an die gegebenen Umstände erfolgen.
Das neue Schutzkonzept sehe aktuell einen negativen Corona-Test sowie eine FFP2-Maskenpflicht für das Betreten medizinischer Einrichtungen für Beschäftigte, Patienten und Besucher vor. Einen sachlichen Grund, eine COVID-Impfung oder einen Impfnachweis vom Personal zu verlangen, vermochte Seegmüller nicht zu erkennen. Er regte an, im Rahmen der Gesetzesänderung eine Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht zu thematisieren.
Streit um Nebenwirkungen
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) wurde bezüglich der 2,5 Millionen Fälle von Nebenwirkungen befragt, welche die Ärzte gegenüber der Krankenkassen abgerechnet hatten. Wie viele Diagnosen davon mit dem ICD-Code für Herz-Kreislauf-Probleme gestellt wurden, konnte der KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister nicht beantworten.
Wie in früheren Anhörungen gab der Datenanalyst Tom Lausen auf Nachfrage des Abgeordneten Martin Sichert (AfD) konkrete Zahlen bekannt. Er hatte die Nebenwirkungen von der AOK Sachsen-Anhalt und der IKK Süd-West angefordert und verglichen, welche Krankheiten Patienten vor und nach der COVID-Impfung hatten. Bis zum dritten Quartal wurden bei der IKK Süd-West im Jahr 2021 insgesamt 29.322 Fälle mit Impfnebenwirkungs-Codierungen nach Arztbesuch abgerechnet. Versichert sind dort rund 637.000 Personen. Laut Lausen ist die Anzahl der Herz-Kreislauf-Erkrankung der IKK-Versicherten um das 16 bis 20-Fache angestiegen.
Hofmeister widersprach einer daraus abgeleiteten Hochrechnung auf die 2,5 Millionen Nebenwirkungen. Er betonte, dass man aus den abgerechneten ICD-Codes nicht die Schwere der Symptome ablesen könne. Derartige Zahlen lägen der KBV auch nicht vor. Nebenwirkungen müssten gesondert gemeldet werden, erklärte er.
Auf nochmalige Nachhaken erklärte der KBV-Vize schließlich, dass dem Bundestag vorliegende Daten zur Verfügung gestellt und auch wissenschaftlich betrachtet würden. Als Sichert nach einem konkreten Datum fragte, äußerte Hofmeister, dass die Zahlen quartalsweise von den Kassenärztlichen Vereinigungen erhoben und der KBV zugesandt würden. Demnach dürfte es kein Problem sein, diese Daten für die 2,5 Millionen Nebenwirkungsfälle zur Verfügung zu stellen, konterte Sichert. Diese Fälle beträfen schließlich das Jahr 2021, sodass entsprechende Zahlen vorliegen dürften. „Falls die Daten hier verfügbar sind, können wir Ihnen die selbstverständlich zur Verfügung stellen“, antwortete Hofmeister. Ein konkrete Datum zur Abgabe der gewünschten Daten wurde jedoch nicht genannt.
Belastung statt Überlastung
Professor Leif-Erik Sander von der Charité Berlin sprach in der Ausschusssitzung von drei möglichen Szenarien unterschiedlicher Stufen. Nach seiner Einschätzung bewege man sich derzeit im sogenannten Basis-Szenario mit einer Omikron-Variante, die „durchaus auch bei nicht vollständig geimpften oder anderweitig vorerkrankten oder anderweitig geschwächten Menschen schwere Krankheitsverläufe auslösen kann“. Diese Variante trete auch bei Personen auf, die vor einiger Zeit geimpft wurden. Einen konkreten Zeitraum nannte Sander hierbei nicht.
Im kommenden Herbst rechnet Sander mit einer stärkeren Infektionsdynamik. Dadurch komme es zu einer „verstärkten Belastungssituation“ im Gesundheitswesen, wobei er ausdrücklich betonte, dass er nicht von einer „Überlastung“ spreche.
Debatte um FFP2-Maskenpflicht
Sander wurde bezüglich der beabsichtigten FFP2-Maskenpflicht auch nach einem Qualitätsunterschied zwischen FFP2-Maske und medizinischem Mund-Nasen-Schutz befragt. Er führte Studien an, wonach eine Übertragung von Viren durch Aerosole mit FFP2-Masken „effektiv verhindert“ werden könne. Bei einem Test der DEKRA Anfang 2021 fielen die Hälfte der Masken durch.
Der Gesundheitsforscher Professor Dr. Rolf Rosenbrock kritisierte zudem, dass das vorhandene Potenzial in der Risikokommunikation mit der Bevölkerung nicht ausgeschöpft werde. Das gehe auch aus dem Bericht der Evaluationskommission vor, der Rosenbrock angehört. Da im Bundeshaushalt die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit von 188 Millionen Euro (2022) auf null (2023) reduziert wurden, werde sich daran auch zukünftig nichts ändern. Das sei völlig unverantwortlich, so Rosenbrock. Den Menschen müsse das richtige Tragen der Maske – kognitiv, sozial und emotional– nahegebracht werden, um die Wirksamkeit und die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen.
Schmidt-Chanasit sah dies aus einem anderen Blickwinkel: „Eine FFP2-Maskenpflicht im Flug- und Fernverkehr für die Allgemeinbevölkerung kann wissenschaftlich nicht begründet werden.“ Das ergebe sich auch eindeutig aus den Stellungnahmen der zuständigen Fachgesellschaft, darunter die Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die Deutschen Gesellschaft für Mikrobiologie und dem Evaluationsbericht des Sachverständigenausschusses.
Der Virologe wies ausdrücklich auf Studien hin, wonach das Tragen von FFP2-Masken auch mit Nachteilen verbunden sei. So müssten die fünf möglichen Größen konkret auf den Träger abgestimmt sein. Es gebe Besonderheiten für Bartträger und Tragezeiten zu beachten. Geschultes Personal könne eine erhöhte Schutzwirkung durch FFP2-Masken erzielen, allerdings müsse man hier ganz klar zwischen der Wirksamkeit einer FFP2-Maske und einer Maskenpflicht für alle unterscheiden. Die richtige Verwendung der Maske sei in der Allgemeinbevölkerung größtenteils nicht gegeben, so der Immunologe.
Unklare Rechtsdefinition für Corona-Regeln
Die Rechtswissenschaftlerin Professor Dr. Andrea Kießling von der Universität Frankfurt stellte die Frage nach der Verlässlichkeit der für Maßnahmen zugrunde gelegten Daten wie Inzidenzen, Hospitalisierungsrate und verfügbare Versorgungskapazitäten. Die Bundesländer hätten die Möglichkeit, verschiedene Schwellenwerte festzulegen für bestimmte Maßnahmen, müssten dies jedoch nicht. Unklar sei, wie eine konkrete Gefahr im Gesundheitssystem definiert werde.
Auf Nachfrage der SPD erklärte Kießling, dass § 28a und b Infektionsschutzgesetz Sonderregelungen für Corona darstellen, während die anderen Paragrafen des Gesetzes für alle anderen aufgeführten Krankheitserreger Anwendungen finden. Wenn man §§ 28 a und b in das restliche Gesetz einfügen würde, wäre man auf alle Krankheitserreger vorbereitet. Dazu müsse man die Bestimmungen jedoch allgemeiner fassen und nicht mehr so konkret. Damit wären bei der nächsten Epidemie keine neuen Gesetze mehr notwendig. Gleichzeitig würde dieses Vorgehen den Bundesländern mehr Verantwortung übertragen, sodass sie die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen abwägen müssen. Das sieht Kießling jedoch als Vorteil.
Abstimmung am 8. September
Die Ampelregierung will mit einem „Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19″ (20/2573) Regelungen für die Impfkampagne, für die Datenerfassung und Hygienekonzepte festlegen. Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass Apotheker, Zahn- und Tierärzte bis zum 30. April 2023 COVID-Impfungen verabreichen. Die Ermächtigungsgrundlage für die Corona-Impf‑ und –Testverordnung soll bis Jahresende 2022 verlängert werden.
Die Fraktion von CDU/CSU fordert mit ihrem Entwurf „Gut vorbereitet für den Herbst – Pandemiemanagement verbessern“ (20/2564) erneut die Einführung eines Impfregisters sowie ein Konzept für ein stufenweises Pandemiemanagement, damit auch über den 23. September hinaus notwendige Maßnahmen ergriffen werden können. Grundlage hierfür sollen nach Ansicht der Unionsabgeordneten eine bessere Forschung zu Antikörpern bei Risikogruppen sowie eine bessere Datenlage zu Mehrfachinfektionen bilden. Außerdem soll bis zum 31. August ein Evaluationsbericht über die bisherige Wirkung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vorgelegt werden.
Die AfD-Fraktion hat einen Antrag (20/2600) eingereicht, welcher die Streichung der COVID-Impfung aus der Liste der verpflichtenden Basisimpfungen der Bundeswehr vorsieht. Die Impfpflicht sei unverhältnismäßig und nicht geeignet, die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zu erhalten.
Die Linken (20/2581) treten für eine zuverlässige Testinfrastruktur, neue Impfkampagnen und ein Schutzkonzept für besonders vulnerable Gruppen ein. Beispielsweise sollen PCR-Testkapazitäten durch die Einbeziehung nicht-ärztlich geführter wissenschaftlicher Labore erhöht werden, sodass ein Testergebnis binnen 24 Stunden vorliegt. Zudem soll Kindern und Jugendlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch unter verschärften Pandemiebedingungen gewährleistet werden.
Die Abstimmung des Bundestages über die neuen Regelungen soll am 8. September nach einer 80-minütigen Aussprache erfolgen. Die Bundesregierung wird die Sitzung live übertragen.
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