Orbán im Europäischen Parlament: „Ich bin hier, um Alarm zu schlagen“

Viktor Orbán stand fast vier Stunden lang in einer Parlamentsdebatte in Straßburg im Kreuzfeuer der Kritik. Er sollte eigentlich das Programm für die rotierende EU-Ratspräsidentschaft vorstellen, aber die Abgeordneten waren an anderen Themen interessiert.
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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán (r.) hört der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, zu, während der Debatte über die Vorstellung des Programms für die sechsmonatige Ratspräsidentschaft Ungarns am 9. Oktober 2024 in Straßburg.Foto: Frederick Florin/AFP via Getty Images
Von 9. Oktober 2024

Am Dienstag, 8. Oktober, hat Viktor Orbán fast zwei Stunden lang Fragen von Journalisten beantwortet. Am Mittwoch, 9. Oktober, stellte der ungarische Ministerpräsident bei einer Plenardebatte im EU-Parlament verspätet das Programm Ungarns vor, das die rotierende EU-Ratspräsidentschaft bis 31. Dezember innehat.

Im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg wurde er von mehreren Fraktionsvorsitzenden arg kritisiert. Auch die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, übte reichlich Kritik an Orbán. Er wurde von einem Abgeordneten als Putins „nützlicher Idiot“ bezeichnet und andere schlugen vor, dass Ungarn die EU verlassen sollte.

Die neue rechtsgerichtete Fraktion Patrioten für Europa, zu deren Gründungsmitgliedern Orbáns Fidesz-Partei gehört, hingegen unterstützte den ungarischen Ministerpräsidenten. Eigentlich sollte Orbán schon im September das Programm der Ratspräsidentschaft vorstellen, aber der Termin wurde wegen der Hochwassersituation verschoben.

Die ersten 15 Minuten der parlamentarischen „Prügelei“, wie Orbán es selbst nannte, waren die wirklich informativsten. Es ging um Ungarns Programm für die EU-Ratspräsidentschaft, wie er es bereits auf einer Pressekonferenz am Vortag vorgestellt hatte.

Danach gab es nur wenig Diskussion zu seinem Programm. In den folgenden Stunden hagelte es eine Flut von Kritik an Orbán zu allen möglichen Themen.

Viktor Orbán stellt am 9. Oktober 2024 im Europäischen Parlament in Straßburg das Programm für die sechsmonatige Ratspräsidentschaft Ungarns vor. Foto: Frederick Florin/AFP via Getty Images

Orbán: „Es ist fünf vor Zwölf“

„Ich bin hier, um Alarm zu schlagen und dem Beispiel von Präsident [Mario] Draghi und Präsident [Emmanuel] Macron zu folgen. Die Europäische Union muss sich ändern“, begann Orbán seine Eröffnungsrede.

Der ehemalige EZB-Präsident Draghi legte im September einen Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU vor, und Präsident Macron warnte letzte Woche, dass die EU in drei Jahren scheitern könnte. Beide forderten dringende Reformen.

Orbán betonte, dass sich die EU derzeit mitten in einer Wettbewerbs- und Migrationskrise befinde.

Die Migration könne den natürlichen Bevölkerungsrückgang in der EU nicht kompensieren, so Orbán. Er betonte zudem, dass mit dem Anstieg der Migration auch Antisemitismus, Homophobie und Gewalt gegen Frauen zugenommen hätten. „Es ist fünf vor Zwölf“, so Orbán, denn es sei viel schwieriger, industrielle Kapazitäten und Arbeitsplätze, die verloren gehen, wieder aufzubauen, als sie zu erhalten.

Gleichzeitig erläuterte er seine konkreten Vorschläge zur Bewältigung dieser Herausforderungen. Die ungarische Regierung plane, am 7. und 8. November wichtige Gipfeltreffen abzuhalten. Zum einen will er die Verabschiedung eines europäischen Paktes für mehr Wettbewerbsfähigkeit. Andererseits schlug er vor, einen Schengen-Gipfel in Budapest abzuhalten, um die Migrationskrise zu diskutieren.

Er sprach sich für die Erweiterung der EU auf dem Balkan aus und betonte, dass die grüne Politik der EU von einer grünen Industriepolitik begleitet werden sollte.

Nach Orbáns Rede begannen einige Abgeordnete, das italienische Partisanenlied „Bella Ciao“ zu singen. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, die die Sitzung leitete, rief daraufhin das Parlament zur Ordnung,

Dies ist nicht der Eurovision Song Contest“, so Roberta Metsola.

Ursula von der Leyen wirft Orbán vor, gegen die EU-Einheit zu handeln

Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, ging nicht auf das Programm der EU-Ratspräsidentschaft ein. In den zehn Minuten, die ihr zur Verfügung standen, betonte sie mehrmals, dass die EU der Ukraine beistehen müsse.

Sie nannte die ukrainischen Soldaten Freiheitskämpfer. Gleichzeitig kritisierte sie Orbán. „Es gibt immer noch diejenigen, die den Krieg nicht als Putins Schuld sehen, sondern ihn auf den Freiheitswillen der Ukraine schieben“, sagte sie.

„Ich frage Sie: Machen Sie die Ungarn für die Invasion [der russischen Armee] von 1956 verantwortlich?“, so von der Leyen. „In keiner europäischen Sprache wird das Wort Frieden mit Kapitulation und Souveränität mit Besatzung gleichgesetzt“, betonte sie.

Von der Leyen kritisierte auch die ungarische Regierung für ihre anhaltende Abhängigkeit von russischen Energiequellen. Zum Thema Migration sagte sie, dass Ungarn „verurteilte Menschenschmuggler freigelassen“ habe und das ungarische Visasystem „riskant“ sei, da es „russischen Bürgern die Einreise ohne Kontrolle ermöglicht“.

Plenarsitzung im Europäischen Parlament in Straßburg. Orbán erhält scharfe Kritik von linken und liberalen Fraktionsvorsitzenden. Foto: Frederick Florin/AFP über Getty Images

Scharfe Kritik von Fraktionsvorsitzenden

Manfred Weber (CSU), Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP), hat Orbáns Treffen mit Wladimir Putin zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft kritisiert. Er sagte, dass „im Grunde niemand mehr nach Budapest fahren will, um Orbán zu sehen“. Er bezog sich damit auf den Teilboykott der Sitzungen der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft, als einige Mitgliedsstaaten den Ministerratstreffen fernblieben oder nur Staatssekretäre schickten.

Weber betonte, Orbán und seine Partei keine Chance hätten, Europa zu führen. Damit bezog er sich vermutlich auf Äußerungen des Ministerpräsidenten Anfang der Woche, als er bei einem Treffen mit verbündeten Parteien in Italien ankündigte, Brüssel „zurückerobern“ zu wollen. 

Orbáns „Friedensmission“ hat besondere Aufmerksamkeit und Kritik von den Abgeordneten auf sich gezogen. Vor allem sein Treffen mit Putin und Xi Jinping wurde von mehreren kritisiert. Aber auch andere Themen wurden diskutiert. Anstatt um das Programm der EU-Ratspräsidentschaft, ging es um eine Reihe von Kritikpunkten an der ungarischen Regierung.

„Wie kann er über Homophobie reden, wenn er in seinem eigenen Land Gesetze abschafft, die Frauen und LGBTQ-Gemeinschaften schützen? Das ist die wahre Gefahr“, sagte García Pérez aus Spanien, Vorsitzende der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten, in ihrer Rede.

Die französische Europaabgeordnete Valérie Hayer, die im Namen der liberalen Renew-Fraktion sprach, griff Viktor Orbán scharf an. „Frau Präsidentin, wie lange müssen wir Viktor Orbán noch tolerieren? Ungarn muss das Wahlrecht entzogen werden“, sagte sie. Diesen Worten schloss sich Martin Schirdewan (Die Linke) aus Deutschland im Namen der radikalen Linken an, der den Ministerpräsidenten als „kleinen Diktator“ bezeichnete.

Mehrere Redner erklärten, Ungarns Wirtschaft liege hinter dem EU-Durchschnitt zurück und Orbáns Regierung sei von Korruption durchsetzt. Auch die Situation der Gewerkschaften im Land wurde thematisiert.

Und die ungarische Opposition – vor allem Europaabgeordneter Péter Magyar, der als Orbáns Hauptgegner im Land gesehen wird – wies auf die Probleme des ungarischen Gesundheitssystems und das niedrige Lohnniveau hin. Magyar wies auch darauf hin, dass viele im Land wegen Orbáns Regierung darüber nachdächten, zu emigrieren.

Mehrere Redner der linken und liberalen Fraktionen forderten auch, dass die EU-Gelder aus Ungarn abgezogen werden sollten. Und sie warfen Orbán vor, die Einheit der EU zu untergraben.

Orbán: „Reine politische Propaganda“

Nach den Reden der Fraktionsvorsitzenden ergriff Orbán erneut das Wort. Der Ministerpräsident sagte, dass er gerne über das Programm des Ratsvorsitzes gesprochen hätte, es aber für die Teilnehmer anscheinend nicht von Interesse sei.

„Was ich von ihnen gehört habe, ist reine politische Propaganda“, fügte er hinzu. Orbán wies darauf hin, dass die Europäische Kommission früher eine neutrale Institution war, „aber jetzt haben sie in ein politisches Gremium verwandelt“.

Zur Ukraine erklärte Orbán, die EU sei nicht bereit, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass „wir verlieren“. „Die EU ist mit der falschen Strategie in den Krieg gezogen, und das muss sich ändern. […] In jedem Krieg muss es Gesprächsbereitschaft geben“, betonte er.

Orbán wies darauf hin, dass die westlichen EU-Länder in gleicher Weise auf russische Energieressourcen angewiesen seien. Aber sie tun dies über Indien und andere Zwischenländer. Er wies auch darauf hin, dass zum Beispiel Deutschland derzeit 100 Mal so viele Russen beschäftige wie Ungarn. Deshalb verstehe er die Kritik nicht.

Auch der Vorwurf, Menschenschmuggler seien in Ungarn freigelassen worden, ist laut Orbán falsch. Nach ihrer Verhaftung werden die Menschenschmuggler abgeschoben, und wenn sie zurückkehren, drohe ihnen in Ungarn eine doppelte Bestrafung.

Orbán wies auch den Vorwurf der Isolation zurück und sagte, er habe sich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft unter anderem mit dem deutschen Bundeskanzler, dem französischen Präsidenten und dem italienischen Premierminister getroffen. Er wies auch Webers Vorwurf zurück, dass sie die Wahlen zum Europäischen Parlament in Ungarn nicht gewonnen hätten, da seine Partei, die Fidesz 45 Prozent der Stimmen erhalten hatte.

Er sagte auch, dass „wir niemals akzeptieren werden, dass die europäische Einheit nur so viel bedeutet, dass wir den Mund halten sollen“. Zusammenarbeit im Parlament bedeute nicht, dass man sagen müsse, was die Kommissionspräsidentin sage.

Rechte Abgeordnete: Persönliche und anklagende Diskussion

Für Orbán setzte sich unter anderem Zsuzsanna Borvendég, Europaabgeordnete der ungarischen Rechtspartei Mi Hazánk, ein. Sie wies darauf hin, dass die EU Ungarn bestrafe. „Sie zahlen das anfallende Geld nicht, sie tragen nicht zum Grenzschutz bei“, sagte sie. Außerdem wolle man offenbar das Programm der ungarischen Ratspräsidentschaft boykottieren.

Dennoch betonte Borvendég, dass „die Europäer keine selbstmörderische grüne Politik und keinen abartigen Gender-Wahnsinn wollen“. Sie rief die ungarische Regierung auf, dem Druck der EU zu widerstehen.

Die ehemalige polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo von den Europäischen Konservativen sagte, dass es in der heutigen Debatte nicht um das Programm ging. Es war eine persönliche und anklagende Diskussion. Von der Leyen habe eine „skandalöse Rede“ gehalten, sagte Szydlo. So könne man nicht über ein unabhängiges Land in der EU sprechen.

Fernand Kartheiser, Mitglied der Europäischen Konservativen, wies darauf hin, dass die ungarische Ratspräsidentschaft kritisiert worden war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Er persönlich unterstützte die Friedensbemühungen für eine Beilegung des Krieges in der Ukraine.

Jorge Buxadé Villalba aus Spanien, Europaabgeordneter der Patrioten-Fraktion, sagte, er schäme sich für die Rede von von der Leyen, die daraufhin den Raum verlassen habe. Jean-Paul Garraud, ebenfalls von Patrioten, sagte, dass Orbán Recht hatte, als er sagte, dass Frieden das Wichtigste im Krieg in der Ukraine sei und dass wir daran arbeiten sollten, ihn zu erreichen.

Mehrere Abgeordnete, aber auch Orbán, kritisierten die Tatsache, dass die italienische Antifa-Aktivistin Ilaria Salis im Parlament sprechen durfte. Salis wurde kürzlich in Ungarn inhaftiert, weil sie „unschuldige Menschen auf der Straße mit einer Eisenstange verprügelt hat“, so Orbán. Nach ihrer Wahl zum Europaparlament wurde ihr parlamentarische Immunität zuteil.

Orbán lud seine Kritiker nach Ungarn ein

Am Ende der Debatte erhielt Orbán erneut das Wort. Die Diskussion sei „jenseits von Vernunft und Fakten“ verlaufen und habe sich um „EU-Propaganda“ gedreht und nicht um den ungarischen Ratsvorsitz, sagte er.

Orbán schloss mit den Worten, dass die Erfahrung dieser Debatte sei, dass Europa von der Linken verteidigt werden müsse. Dann lud er seine Kritiker nach Ungarn ein, um sich aus erster Hand über die ungarische Situation zu informieren und nicht durch Propaganda.



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