CHP will Recht auf Kopftuch per Gesetz verankern – Erdoğan in der Verfassung

Die CHP will auch für religiöse Wähler in der Türkei wählbar werden. Deshalb will sie Kopftuch-Restriktionen per Gesetz abschaffen. Nicht alle glauben ihr.
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Ein Frau mit Kopftuch arbeitet als Ärztin.Foto: iStock
Von 8. Oktober 2022

In der Türkei wollen Gesetzgeber das Recht muslimischer Frauen auf das Tragen eines Kopftuchs im öffentlichen Dienst erweitern. Der Vorsitzende der oppositionellen „Republikanischen Volkspartei“ (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, hat Anfang Oktober einen Gesetzesentwurf dazu eingebracht. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die konservative Regierungskoalition aus AKP und MHP wollen ein Recht auf Kopftuch in der Verfassung verankern.

Kopftuch nicht explizit im Text erwähnt

Wie „Hürriyet Daily News“ berichtet, sieht der CHP-Entwurf ein Aus für Bekleidungsvorschriften in öffentlichen Einrichtungen vor, die nicht mit dem Beruf selbst im Zusammenhang stehen. Gemeint sind damit etwa Kittel, Schürzen oder Schutzkleidung. In öffentlichen Einrichtungen und Organisationen beschäftigte Frauen sollen demnach „keinem Zwang unterworfen werden, der gegen die Grundrechte und -freiheiten verstößt“.

Beispielhaft nimmt der Entwurf Bezug auf das „Tragen oder Nichttragen von anderen Kleidungsstücken als denjenigen, die sie im Rahmen der Ausübung ihres Berufs tragen müssen“. Das Kopftuch wird zwar in dem Entwurfstext nicht explizit benannt. Aus dem Wortlaut und den Gesetzesmaterialien ergäbe sich jedoch, dass dessen Verwendung nicht erzwungen oder untersagt werden darf.

Für Verfassungsänderung braucht Erdoğan 24 CHP-Stimmen

Präsident Erdoğan kritisiert, dass der Entwurf der CHP „weit davon entfernt“ sei, „das Problem in all seinen Dimensionen zu erfassen“. Justizminister Bekir Bozdağ will nun am kommenden Montag (10. Oktober) einen Entwurf für eine Verfassungsänderung vorlegen. Diese soll das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit auf höchster Ebene schützen.

Wenn die CHP „ihre Aufrichtigkeit in dieser Angelegenheit unter Beweis stellen“ wolle, solle sie den Schutz des Rechts auf Kopftuch auf Verfassungsebene mittragen, erklärte Erdoğan. Um ein Referendum über die Verfassungsänderung zu veranlassen, benötigen die Regierungsparteien 24 zusätzliche Stimmen in der Großen Nationalversammlung.

Die CHP lehnt eine Verfassungsänderung bislang ab. Kılıçdaroğlu begründet dies damit, dass eine neue Regierung nach den Wahlen im nächsten Jahr ohnehin eine neue Verfassung ausarbeiten müsse. Im Juni des nächsten Jahres stehen in der Türkei die Wahl des Präsidenten und des Parlaments an.

Polizeiknüppel gegen Kopftuch tragende Frauen

Dass sich die von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründete CHP des Themas „Recht auf Kopftuch“ annimmt, sehen Experten im folgenden Kontext. Umfragen zufolge hätte die Opposition – vor allem wegen der angespannten Wirtschaftslage – eine reelle Chance, die seit 2002 regierende AKP abzulösen.

Ein Fragezeichen ist dabei jedoch der mindestens 40 Prozent der Wahlberechtigten umfassende Wählerblock der Religiös-Konservativen. Deren Stimmen hatten bislang regelmäßig der AKP Mehrheiten gesichert. Die Hemmschwelle, der von 1923 bis 1946 als Einheitspartei regierenden CHP die Stimme zu geben, ist dort am höchsten.

Dies liegt an der Vergangenheit, in der die kemalistischen Eliten der Türkei mit teilweise brachialen Mitteln religiöse Einflüsse im öffentlichen Raum zurückgedrängt hatten. Nach dem „Postmodernen Putsch“ 1997 durch das Militär gingen Sicherheitskräfte mit Knüppeln gegen Frauen vor, die mit Kopftuch Universitäten betreten wollten.

Im Jahr 1999 entfernte Sicherheitspersonal unter Beschimpfungen die gewählte Abgeordnete Merve Kavakçı gewaltsam aus dem Parlament, weil sie dieses mit Hidschab betreten hatte. Kavakçı wurde das Mandat aberkannt, später auch die türkische Staatsangehörigkeit – dies jedoch wegen einer verschwiegenen US-Staatsbürgerschaft.

Kılıçdaroğlu seit 2013 auf Distanz zu extremem Laizismus

In der religiösen Wählerschaft hinterließen diese Szenen bleibenden Eindruck. Bereits die Motivation, eine Wiederkehr dieser Verhältnisse zu verhindern, reichte für sie aus, verlässlich die AKP zu wählen. Im Jahr 2010 übernahm der aus der alevitischen Gemeinschaft stammende Kemal Kılıçdaroğlu den Vorsitz der CHP.

Er erkannte, dass seine Partei strategisch nur wenig Chancen auf eine Rückkehr an die Macht haben würde, solange der religiöse Wählerblock geschlossen gegen die CHP stehen würde. Aus diesem Grund brach er mit dem radikalen Laizismus früherer Jahre und versuchte eine Annäherung. Auf einer Iftar-Veranstaltung im Jahr 2013 mit religiösen Führern in Istanbul erklärte er:

Frauen mit Kopftuch hätte es erlaubt werden müssen, die Universität zu besuchen.“

Die Türkei habe durch das Ignorieren dieses Problems viele Jahre verschenkt, so Kılıçdaroğlu. Im Jahr 2010 hatte die AKP das Kopftuchverbot an Universitäten aufgehoben.

Schrittweise Lockerungen seit 2010

In den darauffolgenden Jahren fiel es schrittweise auch in anderen Bereichen. Im Zuge eines Reformpakets Ende September 2013 schaffte das Parlament das Kopftuchverbot in den eigenen Räumlichkeiten ab. Aufrecht blieb es nur noch in den Sicherheitskräften und in der Justiz. Seit damals dürfen weibliche Abgeordnete in der Großen Nationalversammlung auch Hosen tragen.

Im Jahr 2014 hob das Verfassungsgericht ein Zutrittsverbot auf, das ein Gericht in Izmir aufgrund des Kopftuchs gegen eine Anwältin verhängt hatte. Im Jahr 2016 lockerte die Regierung die 1982 eingeführten Kleidungsvorschriften für Zivilbeamte im öffentlichen Dienst.

Neben dem Recht auf Kopftuch für Frauen entstand damals auch ein Recht für männliche Verwaltungsmitarbeiter, im Sommer auf Sakko und Krawatte zu verzichten. Ein „Säkularismus“-Vorbehalt wurde gestrichen. Seit August 2016, dem Monat nach dem vereitelten Putschversuch, dürfen auch Polizistinnen in der Türkei ein Kopftuch tragen. Voraussetzung dafür ist, dass dieses die gleiche Farbe wie die Amtsuniform aufweist.

CHP-Chef Kılıçdaroğlu räumte zuletzt ein, wie das „Deutsch-Türkische Journal“ (DTJ) berichtet, seine Partei habe „oft Fehler gemacht“. Insbesondere habe man den Säkularismus „oft zu streng ausgelegt.“ Nun wolle er mit seinem Schritt „Wunden in der Gesellschaft heilen“, erklärte der CHP-Vorsitzende.

Kılıçdaroğlus Kopftuch-Vorstoß soll „Versöhnung“ bewirken

Ob die nunmehrigen Versöhnungsbotschaften Kılıçdaroğlu helfen werden, Vorbehalte in den bisherigen AKP-Kernschichten auszuräumen, ist ungewiss. Auch in seiner eigenen Partei stößt die Annäherung an religiöse Wählergruppen nicht auf ungeteilte Zustimmung. Ein Signal zur falschen Zeit in Anbetracht der im Zusammenhang mit einem Kopftuchzwang stehenden Proteste im Iran sieht der CHP-Vorsitzende nicht. Es gehe gerade um die Abschaffung von Zwang in beiden Richtungen, erklärte Kılıçdaroğlu im Gespräch mit „Cumhuriyet“.

Im türkischstämmigen Teil Deutschlands, in der die regierende AKP regelmäßig deutliche Mehrheiten bei Wahlen erzielen kann, herrscht auch eine gewisse Skepsis. Mustafa Özen, IT-Einkäufer aus Gelsenkirchen, erklärte gegenüber der Epoch Times:

Ich finde den Vorstoß von Kılıçdaroğlu unglaubwürdig. Er will also die Frauen vor seiner Gesinnung und vor seiner Wählerschaft schützen? Schließlich war es Kılıçdaroğlu, der damals vor dem türkischen Verfassungsgericht gegen das Kopftuch geklagt hatte. Das ist eine reine Farce, denn die Basis der CHP lehnt die Gesetzesvorlage ab.“

Dem LGBT-Aktivisten Can Kaya geht Kılıçdaroğlus Vorstoß zur nationalen Versöhnung wiederum nicht weit genug. Er äußert auf „Bianet“:

Eine Vereinbarung über das Kopftuch ist natürlich wichtig, aber er könnte auch eine Vereinbarung über LGBTI+-Rechte und Frauenrechte sowie das Recht der Tiere auf Leben vorschlagen. Sie hätte umfassender sein können.“



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