Bürgermeisterwahl Istanbul: İmamoğlu fordert Erdoğan zu Treffen auf – Verliert die AKP ihre langjährige Basis?
Keine „Trafo-Katzen“ mehr, keine Computerpannen: Das Ergebnis der Wiederholungswahl zum Amt des Bürgermeisters von Istanbul fiel am Ende so deutlich aus, dass nicht einmal Unwägbarkeiten es noch hätten beeinflussen können. Nachdem der von einem breiten Oppositionsbündnis unterstützte Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) am 31. März noch hauchdünn mit 13 000 Stimmen Vorsprung vorangelegen hatte, waren es am Ende des gestrigen Sonntagsabends (23.6.) satte 802 000 Stimmen – bei einer Wahlbeteiligung von 84,4 Prozent.
Die 54,03 Prozent, die İmamoğlu am Ende erzielte, stellten das höchste Ergebnis bei einer Bürgermeisterwahl in der Bosporusmetropole seit 1984 dar. Für die Türkei könnten sie eine wichtige Zäsur bedeuten.
In Istanbul begann 1994 der politische Aufstieg des heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Mit einer ausreichenden relativen Mehrheit von 25,2 Prozent wurde er als Kandidat der später wegen islamistischer Tendenzen verbotenen Wohlfahrtspartei zum Stadtoberhaupt gewählt – vor allem mit den Stimmen der religiös geprägten Bewohner der Gecekondu-Viertel. Das waren Stadtviertel, in denen Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten der anatolischen Tiefebene behelfsmäßige Häuser errichteten und in denen die Infrastruktur schwach ausgeprägt war. Islamische und zum Teil auch radikal-islamische Hilfsorganisationen nahmen dort Aufgaben wahr, die von der regulären Staatsmacht nicht bewältigt wurden und stärkten auf diese Weise ihren Rückhalt in der Bevölkerung.
Verliert die AKP ihre langjährige Basis?
Mittlerweile ist die 2001 von vormaligen Wohlfahrtspartei-Mitgliedern als breite Koalition aller Bevölkerungsgruppen, die sich von den kemalistischen Eliten marginalisiert sahen, gegründete „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) seit 2002 landesweit ununterbrochen an der Macht. Auch in Istanbul konnte sie seit ihrer Gründung stets ihre führende Rolle behaupten. Zuletzt wurde der seit 2004 amtierende AKP-Kandidat Kadir Topbaş, der in der größten Stadt der Türkei zahlreiche groß angelegte und zum Teil umstrittene Infrastrukturprojekte umgesetzt hatte, zwei Mal wiedergewählt, ehe er 2017 ohne Angabe von Gründen zurücktrat.
Das Ergebnis vom Sonntagabend legt den Schluss nahe, dass sich in Istanbul als einer Stadt, die trotz der Hauptstadt-Entscheidung für Ankara im Jahr der Gründung der türkischen Republik 1923 stets einen erheblichen Einfluss auf die gesamte Türkei entfaltete, tiefgreifende Umbrüche widerspiegeln.
Den größten Vorsprung konnte der ehemalige türkische Premierminister Binali Yildirim, der für die AKP ins Rennen gegangen war, zwar mit 65 Prozent noch im Armenviertel Sultanbeyli im Osten der Stadt und mit 61 Prozent in Esenler erzielen, danach kam aber bereits mit knapp über 60 Prozent das reiche Innenstadtviertel Arnavutköy. Hingegen war sein Vorsprung in ärmeren früheren AKP-Hochburgen wie Ümraniye oder Güngören nur noch gering.
Selbst in religiösen Vierteln wie Eyüpsultan konnte sein Gegenkandidat eine Mehrheit erringen, zudem sogar in den meisten Stadtteilen östlich des Bosporus. In säkularen Bezirken wie Besiktas oder Kadiköy kam İmamoğlu sogar auf mehr als 80 Prozent.
Starke Mobilisierung unter den Kurden
In der „Welt“ führt der türkische Parlamentsvize Mithat Sancar von der prokurdischen HDP den Sieg des Oppositionskandidaten auf eine besonders hohe Wahlbeteiligung in den stark von Angehörigen der kurdischen Bevölkerungsgruppe geprägten Stadtteilen zurück. Andererseits hat sich auch die Spaltung des nationalistischen Lagers zu Ungunsten des AKP-Kandidaten ausgewirkt. Seit dem Ende der Friedensverhandlungen mit der terroristischen PKK im Jahr 2015 infolge mehrerer folgenschwerer Anschläge im Südosten des Landes hatte der Langzeitchef der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), Dr. Devlet Bahceli, de facto ein politisches Bündnis auf breiter Ebene mit Präsident Erdoğan geschlossen.
Dies stieß in der Idealistenbewegung, die sich ideologisch im Spannungsfeld der in den 1970er Jahren entwickelten These von der „türkisch-islamischen Synthese“ und einem strengen Säkularismus auf der Basis des Atatürkismus bewegt, auf geteilte Zustimmung. Mit der „Guten Partei“ (IYI) erwuchs den Nationalisten eine weitere Konkurrenz im eigenen Lager, die im Unterschied zur radikaleren „Partei der Großen Einheit“ (BBP) auch Wähler der Mitte anzusprechen vermochte.
Der Antritt und Erfolg İmamoğlus führte zu der paradoxen Situation, dass linksgerichtete HDP-Kurden, Anhänger der radikal-islamischen „Saadet“, denen die AKP zu wenig religiös ausgerichtet ist, und nationalistische Anhänger der „Grauen Wölfe“, die mit der MHP-Linie unzufrieden sind, nicht nur gemeinsam den republikanischen Kandidaten wählten, sondern auch auf Wahlpartys gemeinsam dessen Sieg feierten.
Inhomogene Koalition mit hohen Erwartungen
İmamoğlu muss nun hohe Erwartungen erfüllen – und das eingedenk des Umstandes, dass ihm Präsident Erdoğan, der nach dem 31. März vehement die Wiederholung der Wahl betrieben hatte, das Leben nicht leicht machen dürfte.
Er muss eine ideologisch höchst inhomogene Koalition zusammenhalten und den inneren Frieden in einer Metropole zusammenhalten, in der sich jene Konflikte in konzentrierter Form widerspiegeln, die auch das Land insgesamt spalten. Und er muss als Kandidat der CHP beweisen, dass die alte Atatürk-Partei in den harten Jahren auf der Oppositionsbank dazugelernt hat.
Die AKP hatte seit den 2000er Jahren so viel Erfolg, weil sich eine ehrgeizige, aufstrebende Mittelschicht, die in allen Teilen des Landes heranwuchs, nicht mehr von politischen Bürokraten und Generälen gängeln lassen wollte. Sie strebte nach Wirtschaftsreformen und Öffnung der Märkte, von einem Beitritt zur EU versprachen sie sich zusätzlichen Wohlstand und politische Erneuerung. Die CHP war nicht in der Lage, deren Anliegen zu verstehen, die AKP profitierte davon.
Auch wollte eine Mehrheit der Türken Bilder nicht mehr sehen wie jene von Polizisten, die Frauen aus der Universität knüppeln, weil diese ihr Kopftuch nicht ablegen wollten. Dabei war mehr religiöse Freiheit in der Türkei nicht nur radikalen Islamisten ein Anliegen, sondern auch islamischen Reformern wie jenen aus der Gülen-Bewegung sowie religiösen Minderheiten wie Christen, Juden oder Aleviten. Auch sie wurden am Ende von der AKP schwer enttäuscht.
İmamoğlu fordert Erdoğan zu Treffen auf
Zudem wird es zu den bedeutsamsten Zukunftsfragen des Landes gehören, wie das Verfassungsprinzip des Bekenntnisses zum Türkentum und des Nationalismus in Einklang gebracht werden kann mit einer vielgestaltigen Gesellschaft, in der auch ethnische Gruppen zunehmend an Selbstbewusstsein gewinnen.
Weitere Baustellen werden eine tatsächliche Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien und von Transparenz innerhalb der Verwaltung sein. Deren Fehlen sowohl in der Ära der Kemalisten als auch später in jener der AKP hat Korruption, Tiefstaatlerei und damit zusätzliches Misstrauen innerhalb der Bevölkerung geschaffen.
Dass İmamoğlu schon bald liefern muss, setzt die CHP unter Zugzwang, dass er so klar gewonnen hat, ist ein klares Signal an die AKP. Wenn mit dem Ende der zumindest laut Verfassung letzten Amtszeit des zum zweiten Mal in Folge gewählten Präsident Erdoğan nicht auch die Ära der AKP enden soll, wird sie ihr politisches Selbstverständnis und ihr Auftreten deutlich verändern müssen.
İmamoğlu selbst kündigte noch am Wahlabend an, eine Kooperation auf breiter Ebene und mit allen Parteien und Bevölkerungsgruppen suchen zu wollen. Er hat auch Präsident Erdoğan aufgerufen, einem zeitnahen Treffen zuzustimmen:
Die Wichtigkeit der Kooperation und Harmonie zwischen der Zentralverwaltung und den lokalen Verwaltungen liegt auf der Hand, wenn es um die Lösung der drängenden Probleme Istanbuls wie der Flüchtlingskrise, des Bedarfs an neuen U-Bahn-Linien und der Erdbebensicherung geht.“
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