„Rettung“ oder „Verschleppung“: Der Streit um die Kinder aus der Ukraine
Seit Beginn der „Spezialoperation“, wie der Ukraine-Krieg offiziell in Russland heißt, flohen nach Angaben der Vereinten Nationen fast drei Millionen Ukrainer in die Russische Föderation. Mehr als 715.000 von ihnen sind Kinder, heißt es seitens Russlands. Die ukrainische Seite spricht von mehr als 300.000 Kindern, die „illegal aus der Ukraine nach Russland gebracht wurden“.
Viele Menschen kamen mit sogenannten Evakuationsbussen aus den Kampfgebieten um Donezk, Luhansk, Charkiw, Mariupol und Cherson. Dazu gehören Kinder und ihre Familienangehörige, aber auch Kinder aus Waisenhäusern, Kinderkliniken und Kindereinrichtungen.
Aufnahme von Kindern in russische Pflegefamilien
Im März 2022 erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin, dass es russischen Pflegefamilien erlaubt sein sollte, Waisenkinder aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die keine russische Staatsbürgerschaft besitzen, aufzunehmen.
„Dies sind außergewöhnliche Umstände. Wir müssen die Bürokratie außen vorlassen und an die Interessen der Kinder denken“, meinte Putin damals in einem Gespräch mit Maria Lwowa-Belowa, Kinderrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten. Die russische Nachrichtenagentur „TASS“ berichtete.
Im April 2022 ließ Lwowa-Belowa verlauten, dass Waisenkinder aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk zur Vermittlung in Pflegefamilien freigegeben werden. Anfang Mai 2022 kamen rund 190.000 Kinder aus dem Donbass nach Russland, darunter 1.200 Kinder aus Waisenhäusern.
💬 Russia’s Presidential Commissioner for Children’s Rights Maria Lvova-Belova: More than 190,000 children had arrived in Russia from Donbass by early May, including about 1,200 coming from orphanages in the Donetsk and Lugansk People’s Republics.
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— MFA Russia 🇷🇺 (@mfa_russia) May 12, 2022
Russischen Angaben zufolge kamen im August vergangenen Jahres rund 400 Kinder aus Donezk und Luhansk in russische Pflegefamilien. Mit der Vermittlung erhielten die Kinder gleichzeitig auch die russische Staatsbürgerschaft.
Seit neun Jahren sprechen in der Ukraine die Waffen
Die Gesetzesänderung kam zwar kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges, deutete sich aber schon über mehrere Jahre an. Seit 2014 herrschen im Osten der Ukraine bürgerkriegsähnliche Zustände. Bis 2019 flohen nach Worten Putins rund drei Millionen Menschen aus dem Donbass nach Russland.
Um das Leben der Menschen aus der Ukraine zu erleichtern, unterzeichnete Putin 2019 einen Erlass. Er besagt, dass Menschen aus dem Donbass die russische Staatsbürgerschaft erhalten können, ohne ihre ukrainischen Pässe abgeben zu müssen. Von 2014 bis 2019 erhielten mehr als 300.000 ukrainische Staatsbürger russische Pässe, wie die russische Zeitung RBC berichtete.
Ferner begann am 18. Februar 2022, kurz vor der „Spezialoperation“, eine groß angelegte Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den Volksrepubliken. Die Priorität hatten dabei Kinder, Frauen und Ältere, wie aus russischen Zeitungsberichten hervorgeht. Die Evakuierung betraf auch Waisenhäuser. Als russische Truppen weitere Gebiete in der Ostukraine eroberten, brachten sie mehr Menschen, darunter auch Kinder aus Waisenhäusern, nach Russland.
Die ukrainische Regierung bezeichnete den Abtransport von Zivilisten ins russische Hoheitsgebiet als eine „Zwangsumsiedlung“, „Verschleppung“ und eine „grobe Verletzung des Völkerrechts“. Russland bestreitet die Vorwürfe.
Kiew: Deportation und Ferienreisen …
Was die Waisenkinder aus den besetzten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk angeht, dürfe ihr Abtransport nicht als „Evakuierung“ gelten, sagte Marina Lipowetskaja. Sie ist Leiterin des „Suchdiensts für Kinder“ der gemeinnützigen Organisation „Magnolija“ in der Ukraine.
Ihr zufolge dürfe nur die ukrainische Regierung eine Evakuierung organisieren. Das bedeute auch, dass Menschen nicht ins Aggressorland gebracht werden dürfen. Die Handlungen der Russischen Föderation seinen faktisch „Verschleppungen“, meinte sie in einem Interview mit der russischen Journalistin Irina Alleman auf dem YouTube-Kanal „Populjarnaja Politika“. Der Kanal hat seinen Hauptsitz in Vilnius, Litauen, und ist Teil der Stiftung für Korruptionsbekämpfung. Die Stiftung gehört dem russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny und gilt in Russland als extremistische Organisation.
Die Sendung ging auch auf die Erholungsreisen für Kinder aus den besetzten Gebieten ein. Russland ließ im September 2022 in der Südukraine und den Volksrepubliken Donezk und Luhansk Referenden über den Beitritt zu Russland durchführen. Alle Gebiete stimmten für den Beitritt, was international nicht anerkannt wurde.
Aus der Sicht Moskaus waren alle diese Regionen russisches Staatsgebiet geworden. Deswegen boten russische Behörden für Kinder aus diesen Gebieten kostenlose Ferienreisen ans Schwarze Meer auf der Krim und in Südrussland an.
Wie die russische Kinderrechtsbeauftragte erklärte, sollten die Kinder vom Krieg loskommen, am Meer Spaß haben und sich entspannen. Viele Eltern schickten ihre Kinder in Begleitung von Lehrern in Bussen in den Süden.
Viele Kinder kamen auch erholt von den Reisen wieder zurück. Später jedoch rückten ukrainische Truppen vor und eroberten viele Gebiete zurück, unter anderem auch diejenigen, die für den Beitritt zu Russland gestimmt hatten. Russische Behörden weigerten sich daraufhin, die Kinder in die nun von der Ukraine kontrollierten Gebiete zurückzuschicken. Die Rückreise der Kinder in Bussen in umkämpfte Gebiete sei zu gefährlich, lautete die offizielle Begründung Russlands.
… sind ein Mittel zur Russifizierung und zum Völkermord
Die Eltern sollten in die Ferienlager reisen und ihre Kinder persönlich abholen. Dies gestaltete sich für viele Eltern jedoch als schwierig: Viele hätten Hab und Gut verloren und könnten sich eine Reise nach Russland nicht leisten, erklärte Aksana Filipischina in der Sendung „Populjarnaja Politika“. Sie ist Mitglied der gemeinnützigen Organisation „Ukrainische Helsinki-Menschenrechtsunion (Ukrainian Helsinki Human Rights Union).
Ihr zufolge befänden sich viele Eltern in einem Dilemma: Es sei unmöglich, über die Front nach Russland zu kommen. Die Eltern hätten aber auch kein Geld und keine Reisepässe, um zuerst nach Westen in andere europäische Staaten zu reisen, um von dort zur russischen Grenze zu fahren und danach den Weg über den europäischen Teil Russlands bis auf die Krim oder nach Südrussland anzutreten, so die Menschenrechtlerin.
Es gibt allerdings Berichte von Eltern, die die Reise auf sich nahmen und ihre Kinder abholen konnten. Viele Kinder verbleiben jedoch in den Ferienlagern; es ist unklar, wie viele es genau sind. Da in Russland die Schulpflicht gilt, besuchen alle Kinder im schulfähigen Alter dort die Schule. Laut russischen Medien liegt das Augenmerk bei ukrainischen Kindern besonders auf den Fächern Russisch und russische Geschichte, die in der Ukraine nicht unterrichtet wurden.
Die Ukraine protestierte gegen diese russische Aktion. Russland deportiere die Menschen, um sie einer Russifizierung zu unterziehen. „Das Ziel dieser verbrecherischen Politik besteht nicht nur darin, die Kinder zu verschleppen, sondern die Deportierten auch die Ukraine vergessen zu lassen, damit sie nicht zurückkehren können“, sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij Anfang Juni vergangenen Jahres in einer Videobotschaft.
Auch Daria Herasymtschuk, Kinderrechtsbeauftragte des ukrainischen Präsidenten, äußerte sich dazu. Ende Februar hielt sie eine Rede im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York und meinte, das Vorgehen Russland sei nichts anderes als Völkermord.
Pflegefamilien und russische Staatsbürgerschaft
Ferner griff das ZDF das Thema in der Sendung „frontal“ auf. Das Journalistenteam des Senders suchte nach Kindern, die in der Ukraine vermisst werden. In einer russischen Sendung entdeckten die Journalisten zwei Brüder aus Donezk, die als vermisst gelten. Das Bruderpaar kam in eine russische Pflegefamilie und erhielt die russische Staatsbürgerschaft.
„So eine Ausfuhr ohne Benachrichtigung, ohne eine Vereinbarung mit der Ukraine, die der Hauptvormund [dieser Kinder] ist – das ist eine volle Palette an Kriegsverbrechen“, meinte dazu Alexandra Romantsowa in „Populjarnaja Politika“. Sie ist Anwältin der gemeinnützigen Organisation „Zentrum der Bürgerrechte“ in der Ukraine.
Viele Kinder gelten in der Ukraine als vermisst und deportiert. Die ukrainische Website „Dity Wijny“ (Kinder des Krieges) beziffert die Anzahl der vermissten Kinder auf 380 und die der deportierten auf 16.226. Von den „deportierten Kindern“ konnten 308 wieder in die Ukraine zurückgeführt werden (alle Zahlen Stand: 15. März 2023).
Integration der Kinder aus Mariupol
Im Laufe des Krieges brachten russische Soldaten auch 31 Kinder aus Mariupol nach Russland, die sie in Kellern von zerstörten Häusern gefunden hatten. Diese Kinder kamen in russische Pflegefamilien. Die russische Kinderrechtsbeauftragte Lwowa-Belowa nahm ebenfalls einen 15-jährigen Jungen aus Mariupol auf. Alle Kinder erhielten die russische Staatsbürgerschaft, es ist jedoch unklar, ob sie ihre ukrainische Staatsbürgerschaft behalten dürfen.
Wie die BBC berichtete, erklärte Lwowa-Belowa mehrmals, dass die schnelle Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft nötig sei, damit die Kinder alle ihnen zustehenden Leistungen und Zugang zur medizinischen Versorgung erhalten.
Die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Irina Werischtschuk, forderte in einer Videobotschaft an Lwowa-Belowa die Rückkehr aller Kinder aus Mariupol. Es gebe ukrainische Familien, die diese Kinder gerne aufnehmen würden, erklärte die ukrainische Politikerin.
Auf einer Pressekonferenz im September äußerte sich Lwowa-Belowa dazu und holte gegen Werischtschuk aus: „Werischtschuk forderte die Kinder auf irgendeiner unerklärlichen Basis zurück. Sie sagte, es gebe gesetzliche Vertreter, die diese Kinder in ihre Familien aufnehmen wollten.“ Doch als das Team von Lwowa-Belowa diese Kinder fragte, ob jemand von ihnen in die Ukraine zurückkehren wolle, sei die Antwort klar gewesen. „Kein einziges Kind wollte zurückkehren“, so die russische Kinderrechtsbeauftragte.
Weiter erzählte sie davon, dass die Kinder bei ihrer Ankunft auf Putin geschimpft, die ukrainische Hymne gesungen und „Slawa Ukraine“ gerufen hätten. Das habe sich nach einiger Zeit jedoch geändert. Die Kinder seien in Pflegefamilien gekommen, so auch in die ihre. „Ich sehe mit eigenen Augen, wie diese Integration passiert“, meinte Lwowa-Belowa.
Lwowa-Belowa: Vermittlung in Pflegefamilien ist keine Russifizierung
Die russische Politikerin gilt als die treibende Person hinter dem Vermittlungsprogramm ukrainischer Kinder in russische Familien. Deshalb steht sie auf den Sanktionslisten der EU, Großbritanniens, der USA und Kanadas.
In einem Interview in den russischen Medien äußerte sich Lwowa-Belowa zu den Anschuldigungen. Sie arbeite daran, für Kinder aus Kampfgebieten die bestmöglichen Bedingungen zu gewährleisten und sie mit ihren Verwandten zusammenzuführen. Es sei auch vorgekommen, dass Kinder und Eltern sich während des Abtransports aus den Augen verloren und die Kinder fälschlicherweise als Waisen registriert wurden. Das komme in der derzeitigen unübersichtlichen Situation leider vor, so die russische Kinderrechtsbeauftragte.
Im Laufe des Gesprächs meinte sie außerdem, wie wichtig es sei, Pflegefamilien für Waisenkinder zu finden, um sie in einer Familie und nicht in einer Institution aufwachsen zu lassen.
Auf ihrer offiziellen Website erklärte sie im August vergangenen Jahres, dass die Vermittlung in Pflegefamilien keine „Kriegswaisen“ betreffe, deren Eltern während der Kampfhandlungen umgekommen seien. Bei solchen Kindern sei es sehr wahrscheinlich, dass es noch lebende Verwandte gibt, die diese Kinder aufnehmen werden. Russland vermittle nur Kinder, die schon vor dem Krieg als Waisen galten und eine lange Zeit in staatlichen Institutionen verbracht hatten.
„In der Volksrepublik Luhansk […] gibt es 442 solche Kinder. Und es gibt noch 90 Jugendliche über Sechzehn, die Fachhochschulen besuchen.“
Außerdem betonte sie in verschiedenen Gesprächen, dass die Kinder nicht adoptiert, sondern Familien zur Pflege anvertraut werden.
Zum Vorwurf der Russifizierung erklärte sie: „Wir verstehen, dass wir nicht die Wurzeln der Kinder abschneiden dürfen. Es ist sehr wichtig, dass sie später die Möglichkeit besitzen, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren und mit ihren nahen Verwandten in Kontakt zu bleiben.“
Internationale Rechtsprechung
Was die internationale Gesetzgebung anbelangt, gibt es verschiedene Konventionen, die sich mit der Evakuierung der Zivilbevölkerung und dem Schutz von Kindern in einem bewaffneten Konflikt beschäftigen. Dazu zählt ein Paper des Kinderhilfswerks (UNICEF) und dem Flüchtlingskommissariat (UNHCR) der Vereinten Nationen. Dieses listet zwölf Punkte auf, wie der Schutz von vertriebenen Kindern aus der Ukraine gewährleistet werden sollte.
In dem Beitrag betont die UNO, dass jegliche Ausfuhr von Kindern aus Institutionen nur in Absprache mit ukrainischen Behörden erfolgen dürfe und jedes Kind im nationalen Kinderschutzsystem registriert werden sollte. Auch das Genfer Abkommen wird zur Einschätzung herangezogen.
Wie die Gesetze interpretiert werden, hängt davon ab, ob man die Referenden für einen Anschluss an Russland im Osten und Süden der Ukraine anerkennt. Der Westen erkennt die Referenden nicht an, womit diese Gebiete weiterhin als Teile der Ukraine gelten. Eine Ausfuhr der Zivilbevölkerung ist laut dieser Interpretation ein Kriegsverbrechen. Der russischen Auslegung zufolge gehören diese Gebiete jedoch zu Russland, folglich gilt die Ausfuhr der Zivilbevölkerung als Evakuierung und die Vermittlung von Kindern aus diesen Gebieten in Pflegefamilien in der Russischen Föderation nicht als Kriegsverbrechen.
Solange der Krieg noch läuft, ist es unmöglich, die Angaben der Ukraine und Russlands unabhängig zu überprüfen. Erst wenn die Waffen wieder schweigen, werden wir erkennen können, ob der Abtransport der Kinder eine Rettung oder Verschleppung war.
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