Das unterschätzte Ohr

Reden ist Silber, Zuhören ist unbezahlbar.
Das unterschätzte Ohr
Symbolbild.Foto: iStock
Von 21. September 2022

Der britische Sprechtrainer Julian Treasure tritt bisweilen auf die Bühne und sagt nur ein Wort: „Listen!“. Nach dieser maximal verkürzten Aufforderung zuzuhören, schweigt er sein Publikum mehrere Sekunden an. Sofort erstirbt alles Flüstern im Auditorium. In die völlige Stille hinein erläutert er dann: Dies ist das Geräusch der Aufmerksamkeit und des Zuhörens. Dies ist das Geräusch, das man braucht, um einander zu verstehen. Die eigene Stille ist also nicht mehr und nicht weniger als die erste Grundlage menschlicher Kommunikation. Widmet man sich dem menschlichen Ohr und seiner gesellschaftlichen Bedeutung, bietet sich an, vorab zunächst drei kleine Beobachtungen anzustellen:

Wenn wir uns bei der Arbeit mit anderen Menschen austauschen möchten, begeben wir uns meist in einen dafür vorgehaltenen Besprechungsraum. Für die Dauer der dann stattfindenden Besprechung sind wir für andere nicht ansprechbar.

Von Politikern hören wir, dass sie in andere Länder reisen, um dort mit anderen Politikern zu einer Unterredung zusammenzukommen. Nachdem sie miteinander geredet haben, kommen sie wieder nach Hause zurück und berichten, was sie beredet haben.

Empfinden wir Unwohlsein, äußern wir bisweilen den Wunsch, mit anderen darüber ein Gespräch zu führen. Wollen wir derartige Erörterungen möglichst erfolgreich gestalten, besuchen wir Seminare, um Gesprächsführungstechniken zu erlernen.

Schon ein Blick auf diese drei Worte, mit denen wir unsere gedanklichen Interaktionen bezeichnen, macht deutlich: Das Gespräch, die Unterredung und das Besprechen fokussieren sich allesamt auf das Sagen. Die Beschreibung des Vorganges ist primär auf das gerichtet, was andere äußern. Wer sich erklärt, der scheint die Situation zu dominieren. Der Redner ist aktiv, seine Stimme füllt den Raum, er gibt den Ton an. Demgegenüber wirkt der, der schweigt und zuhört, passiv. Er macht dem Anschein nach nichts. Er sitzt nur da. Schließt er dabei auch noch die Augen, bleibt sein Geheimnis, ob er sich auf das Hören konzentriert oder ob seine Gedanken ganz woanders sind. Was ist der Grund dafür, dass wir dem Hören gegenüber dem Sprechen eine weniger bedeutsame Rolle zuweisen?

Konsequentes Aneinandervorbeireden

Löst man sich bei der Betrachtung zwischenmenschlicher Kommunikation von diesem ersten Anschein, den ein Redner und ein Zuhörer erwecken, und betrachtet man die Grundstruktur des mündlichen Gedankenaustausches, dann wird klar: Die mindestens zwei Beteiligten an einer solchen Interaktion befinden sich in einem Hin und Her des Mitteilens und Zurkenntnisnehmens der Überlegungen des jeweils anderen.

Bis der andere alle seine Botschaften vollständig und insgesamt ausgesprochen hat, kann der Zuhörende sie aber denknotwendig noch nicht abschließend kennen. Er ist also darauf angewiesen, dem Sprechenden bis ganz zum Ende seiner Sätze zuzuhören. Will er dann tatsächlich auf das gerade Gehörte etwas entgegnen, muss er zunächst die vernommenen Gedanken verstehen, sie überdenken, seine eigenen Überlegungen dazu anstellen, eine (zustimmende oder ablehnende) Haltung zu allem entwerfen und erst dann mit dem eigenen Reden beginnen.

Vergegenwärtigt man sich, was es bedeutet, einen gedanklichen Austausch dieser Art mit einem anderen zu führen, dann wird klar: Immer dann, wenn einer der beiden Beteiligten ausgeredet hat, müsste es immer erst zu einem Augenblick der Stille kommen, bevor der andere seinerseits beginnt, zu reden. Beobachtet – und vor allem: lauscht – man Menschen bei ihrem Miteinanderreden, zeigt sich indes ein vollends abweichender Eindruck: Noch während Herr A spricht, holt Herr B bereits Luft, um nahtlos an das Satzende seines Gegenübers anzuschließen. Manchmal gelingt es Frau C nicht einmal zu Ende zu reden, da ist ihr Frau D schon ins Wort gefallen.

Dieses Anhören anderer im Alltag erweist, dass Menschen dazu neigen, sich weniger mit den Überlegungen eines Gegenübers zu beschäftigen als vielmehr an der sprachlichen Darstellung ihrer eigenen Gedanken zu feilen. Wer aber überlegt, was er als Nächstes sagen wird, der hat schon nicht mehr den nötigen Raum im eigenen Kopf, den währenddessen noch geäußerten Gedanken des anderen zu erfassen. Nahtloses Reden der Beteiligten im Hin und Her ohne Pausen ist also im Kern ein Kennzeichen für konsequentes Aneinandervorbeireden.

Bei alledem ist das Image des scheinbar nur passiven Zuhörers ganz unbegründet. Weil wir nämlich nicht in der Lage sind, in den Kopf unseres Gegenübers hineinzusehen, sind wir darauf angewiesen, ihm zuzuhören, wenn wir ihn verstehen wollen. Je mehr wir einen anderen also ausreden lassen, desto präziser können wir erfahren und erfassen, was er denkt und glaubt. Folgerichtig ist es völlig verfehlt, das schweigende Beisammensein generell als peinliche Stille misszuverstehen. Oft ist es gerade genau dieses Ruhen der Botschaftssendung, das den Beteiligten die Konzentration und Ernsthaftigkeit ihres Austausches signalisiert.

Schlagfertigkeit ist nicht von Vorteil

Welche beeindruckend erkenntnisfördernde Wirkung es hat, wenn man im Gespräch einmal dann nichts sagt, wenn der andere erwartet, dass man zu reden beginne, kann man jederzeit ausprobieren. Das allgemeine Vorverständnis unserer Kommunikationskultur ist geradezu überwältigend geprägt von der Idee, dass Gesprächspausen etwas Unangebrachtes wären. Schweigt man also, wenn der andere mit seinem Vortrag zu Ende gekommen ist, dann wird man bemerken: Er redet schon bald schlicht weiter. Sucht man dann noch den Blickkontakt mit ihm und nickt ihm gar ermunternd zu, dann wird er seinen eigenen Gedanken aus allen erdenklichen Blickwinkeln beleuchten und beschreiben. Der scheinbar passive Teil der Besprechungssituation steuert dadurch den Umfang seines eigenen Erkenntnisgewinns. Wer Pausen im Redefluss aushält, erhält so die umfangreicheren Informationen vom anderen.

Aus alledem wird auch deutlich: Es verschafft nur vordergründig diskursive Vorteile, die eigene Schlagfertigkeit im Gespräch zu trainieren. Schlagfertigkeit ist – wie das Wort bei genauerer Betrachtung verrät – die Bereitschaft, anderen Menschen verbale Schläge zu versetzen. Diese Art der scheinbar geistreichen Spontaneität erweckt vor manchem Publikum bisweilen den Eindruck eines beeindruckend agilen Intellekts. Tatsächlich aber verstellt sich ein solcher rhetorischer Schlägertyp immer wieder die Möglichkeit, zum eigenen Erkenntnisgewinn mehr von anderen zu erfahren.

Über den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt sagt man, dass er über die Fähigkeit verfügte, druckreife Sätze zu sprechen. Es empfiehlt sich, sein Verhalten insbesondere in Interview-Situationen zu betrachten. Zu der Zeit, als er amtierte, war noch üblich, auch in Fernsehstudios zu rauchen. Von dieser Möglichkeit machte Schmidt intensiv Gebrauch. Es existieren ungezählte Aufnahmen, die ihn mit Zigarette oder Tabakpfeife im Gespräch mit Journalisten zeigen. Konsequent nutzte Schmidt immer wieder die Möglichkeit, sich nach einer Frage, die ihm gestellt wurde, zuerst seiner Zigarette oder seiner Pfeife zu widmen. Während er die Glut des Tabaks anfachte und dann in großer Seelenruhe den inhalierten Rauch ausatmete, gewann er Zeit, den von seinem Gegenüber in den Raum gestellten Gedanken zu erfassen und seine Antwort zielgenau zu strukturieren. Was er dann antwortete, erklang als vollständiger Satz mit allseits fassbarem Inhalt. Der druckreif Redende war also primär ein konzentrierter Zuhörer.

Je länger und je aufmerksamer man anderen zuhört, desto mehr Informationen sammelt man über die Welt und desto klarer kann man sein eigenes gedankliches Bild von der Realität zeichnen. Da unsere kognitiven Aufmerksamkeitskapazitäten begrenzt sind, müssen wir lernen, sie möglichst gezielt einzusetzen. Während man redet, kann man anderen nicht zuhören. Das erste Mittel zum Verständnis der Umwelt ist also, selber zu schweigen und das Ohr in die richtige Position zu bringen. Die einzige Möglichkeit, beim eigenen Sprechen etwas Neues zu erfahren, bietet sich uns dann, wenn wir uns selbst oder anderen einen fremden Text vorlesen. Sobald wir beginnen, unsere eigenen Gedanken auszusprechen, schließen wir unsere Ohren für jeden möglichen Erkenntnisgewinn von außen. Will man es ökonomisch betrachten, ließe sich formulieren: Zuhören ist eine Art Ansparen von Wissen. Je mehr Wissen man sich auf diese Weise erhört hat, desto wertvoller werden später die eigenen Äußerungen.

Der bei all diesen oft unbedachten Fähigkeiten des Ohrs aber vielleicht faszinierendste Effekt des Zuhörens liegt nicht einmal in den intellektuellen Potenzialen für den Hörer, sondern in einer weiteren Konsequenz für den Sprecher in einem Dialog: Ihm wird durch die sachkundigen Redebeiträge seines Gegenübers klar, dass er mit seinen Gedanken verstanden wurde. Und genau dieses Verstandensein von anderen rührt an eine zentrale Emotion aller Menschen. Nicht nur Richter, die in guter juristischer Tradition rechtliches Gehör gewähren, müssen wissen: Anderen das Wort abzuschneiden ist immer auch ein Angriff auf das Selbstwertgefühl des Redenden. Also, aufgemerkt! Zuhören macht klug und beruhigt zugleich die Gemüter.

Über den Autor:

Carlos A. Gebauer arbeitet als Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht und Publizist in Düsseldorf. Er ist stellvertretender Senatsvorsitzender bei dem Anwaltsgerichtshof Nordrhein-Westfalen und Justiziar der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 62, vom 17. September 2022.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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