Wahrhaftigkeit, Unabhängigkeit – und etwas mehr

Der Philosoph und Publizist Carlos A. Gebauer lädt ein, über die rechte, sprich richtige Weise eines guten Umgangs miteinander zu reflektieren, darüber, welchen Befehlen es nottut zu folgen sowie über die Bedeutung eines demütigen Selbstzweifels – gerade für diejenigen, die sagen, wo es langgeht. Eine Rede anlässlich der Weihnachtsfeier der Epoch Times.
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Von 24. Dezember 2023

Ich danke für die freundliche Einladung zu Ihrer Weihnachtsfeier und für die besondere Ehre, bei dieser Gelegenheit einige weihnachtliche Jahresabschlussgedanken formulieren zu dürfen.

Mit der Redaktion war ich schnell einig, dass ein thematisches Anknüpfen an einen von mir mitveranstalteten Kongress des Jahres 2023 angemessen erscheint. Seine zentralen Themen waren: Wahrhaftigkeit und Unabhängigkeit. Die sogenannte „Zeitenwende“ imponiert nämlich offenkundig durch ihre politischen Bestrebungen, verhaltensleitende Narrative zu proklamieren und Bürger in neue Abhängigkeiten zu führen.

Mit unseren vertrauten Werten von Menschenwürde, Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit schwerlich zu vereinbaren tut ein Ausbalancieren dieser Tendenzen also Not. Zudem kann es nicht die Pflicht der Intelligenz sein, zu schweigen, weil die Dummheit sich sonst beleidigt fühlt.

Wenn man darüber nachdenkt, wie unsere Weltgesellschaft(en) aus ihren aktuell multiplen Krisen wieder auf den Pfad der guten Tugenden zurückfinden können, dann stößt der suchende Geist schnell auf Assoziationen zum buddhistischen „Wahrheitspfad“.

In dessen auf Deutsch übersetzter Formulierung liest man allerorten (u. a. bei „Wikipedia“): „Und dies ist die edle Wahrheit über den Pfad, der zur Beendigung von Leiden führt; genau dieser edle achtfache Pfad: rechte Ansicht, rechte Entschlossenheit, rechte Sprache, rechte Handlung, rechtes Leben, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit, rechte Meditation.“

Es bedarf in Ansehung dieser Richtungsweisungen keiner näheren Erläuterung, warum ich diesem achtfachen Pfad in Deutschland nicht folge. Denn hierzulande wird bekanntlich heute im allgemeinen Konsens ein dezidierter Kampf gegen jedwede rechten Tendenzen geführt. Ich wähle also aus Gründen der politischen Korrektheit ausdrücklich einen anderen Betrachtungswinkel.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Fragen wir zunächst, was „Wahrheit“ ist: Adaequatio rei et intellectus, definierte Aristoteles: Wahrheit ist dort, wo die Dinge und der Gedanke an diese einander entsprechen.

Wir Menschen sind allerdings endlich: Also haben wir alle nur eine unvollkommene Kopie des vergleichsweise großen Universums im Kopf.

Ein Einzelner kann „die“ (ganze) Wahrheit daher nicht kennen. Wir können uns ihr immer nur gemeinsam nähern.

Das aber setzt eine Verständigung über die Perspektiven der jeweils anderen voraus.

Wer in diesem Kontext Äußerungen über den Blickwinkel eines anderen zensiert, der limitiert mithin mögliche Wahrheitseinsichten.

„Wahrhaftigkeit“ ist das Ethos, die eigenen Erkenntnisperspektiven demütig und unverfälscht zu kommunizieren.

Einsicht in die stets mögliche eigene Fehlbarkeit bedeutet dabei: Man muss immer auch die Möglichkeit akzeptieren, dass der andere recht haben könnte.

Unabhängigkeit

Was bedeutet „Unabhängigkeit“ in diesem Zusammenhang?

Ein Bergsteiger, der sein Sicherungsseil nur an einen anderen Bergsteiger, aber nicht auch an den Berg selbst fixiert, ist von diesem anderen abhängig.

Eine Vielzahl von Bergsteigern, die teils am Berg, teils aber auch nur an anderen Bergsteigern hängen, diskutieren also nicht insgesamt unbefangen miteinander.

Die verlässlichsten Erkenntnisse über den Berg kommunizieren Bergsteiger, die sich unabhängig voneinander Berichte erteilen.

Denn jedwede sachfremde Einflussnahme auf die Erkenntnisse eines Menschen trübt sein Urteil.

Eine starke Gemeinschaft ist immer interessiert, Informationen aus unabhängigen Quellen zu beziehen.

Zeitenwende

Die Tugenden der Wahrhaftigkeit und der Unabhängigkeit sind gestört, wo Manipulation herrscht.

Wo Dinge „nicht infrage gestellt werden dürfen“, da ist ein Gemeinwesen in Not und in Gefahr.

Denn das Denken, das Reden und das Handeln entfernen sich von der kaschierten Wahrheit. Im schlimmsten Fall verteidigen die Manipulierten ihre Manipulierer, weil sie die Wahrheit für eine Manipulation halten.

Konfuzius sagt in seinem wohl bekanntesten Satz:

Wenn die Begriffe nicht richtig sind, dann stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, dann kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, dann gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, dann treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, dann weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Der Edle duldet also nicht, dass in seinen Worten irgendetwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.“

Begreift eine Gesellschaft nicht, was eine Krankheit ist, was das Wetter ist, was eine Frau ist, was eine Privatsphäre ist, was Geld und was Wirtschaft sind, dann benennt sie das, was sie nicht versteht, als Epidemie, als Erderhitzung, als willkürliches emotionales Konstrukt, als Digitalisierung, als Kryptowährung und als bedingungsloses, klimaneutrales Sozialgrundeinkommen.

Auf der Basis dieser Worte können intersubjektive Kooperationen nicht gedeihlich ausgeführt werden. Menschen beginnen, unnötige Heilmittel herzustellen, Karbon zu vergraben, Intimstes zu publizieren, Ersparnisse zu zerstören und Betriebe stillzulegen.

An die Stelle eines kultivierten und ästhetischen Miteinanders treten Streit und Hässlichkeit – zuweilen sogar Hass. Plötzlich sehen wir Unschuldige in den Händen der Strafjustiz und Schuldige ungestraft in entscheidenden Positionen. Im Ergebnis weiß das Volk nicht mehr, was es noch anfassen und wohin es noch gehen soll.

Abhängigkeiten im gesellschaftlichen Diskurs führen nicht zur Wahrheit, sondern von ihr weg.

Das Belohnen von Unwahrhaftigkeit und das Mundtotmachen von Kritikern verdummt das Volk.

Anmaßung von Wissen

Herrschaft über andere ist allenfalls kraft besseren Wissens legitim (wie bei Eltern gegenüber einem Kind).

Politische Führer sind aber auch immer nur Menschen – und also ebenso fehlbar wie jeder andere.

Den überzeugtesten Anführern fehlt es an Selbstzweifeln.

Die Selbstsicherheit eines Anführers, anstelle aller alleine nur das Licht gesehen zu haben, ist die Anmaßung seines vermeintlich besseren Wissens. Friedrich August von Hayek hat davor gewarnt.

Der „Dunning-Kruger-Effekt“ bezeichnet die kognitive Verzerrung im Selbstverständnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen. Georges Brassens formulierte den Effekt schon lange vor seiner psychologischen Beschreibung: „Pour reconnaître que l’on n’est pas intelligent, il faudrait l’être.“ Dieter Bohlen übrigens auch: „Das Problem ist: Mach‘ einem Bekloppten klar, dass er ein Bekloppter ist.“

Cancel Culture

Der sich selbst überschätzende Anführer zensiert „bona fide“ (im guten Glauben), um das allgemeine Glück herbeizuzwingen.

Er sagt Sätze wie: „Meine Anweisung darf überhaupt nicht infrage gestellt werden.“

Er fordert, „der Wissenschaft zu folgen“ – und kaschiert damit in der Sache tatsächlich nur einen auf blinden Gehorsam zielenden Unterwerfungsbefehl.

Gerade die selbst überschätzende Überzeugung des kognitiv verzerrten Inkompetenten von seiner eigenen, herausragenden Wahrheitskenntnis macht ihn gesellschaftlich so besonders gefährlich.

Denn sein selbst geflochtener Siegerkranz wirkt wie ein Magnet auf die Indifferenten.

Umgekehrt schreckt der leise Selbstzweifel des Demütigen den Unentschlossenen ab, ihm zu folgen.

So wird die Unterdrückung des gedeihlichen Diskurses zur Wahrheitsfindung noch als „Cancel Culture“ belobhudelt.

Genau das aber führt nahtlos zu der bitteren Frage von Robert F. Kennedy Jr.:

„Name a time in history where the people advocating for censorship were the good guys.“

Stoppen oder Abwarten

Keine Menschenkraft stoppt die sich anmaßend selbst überschätzende Organisation, die den Turmbau zu Babel mitsamt ihren ahnungslosen Helfern ins Werk setzt.

Die destruktive Gewalt des Turmbaus findet ihr Ende erst, wenn der Hochmut an sich selbst und an der Realität scheitert.

Der Wahrhaftige und der Unabhängige haben währenddessen nicht die Pflicht, sich dem Treiben aussichtslos entgegenzustemmen. Aber sie haben die Pflicht, zu reden.

Was tun?

Peter Hahne erinnerte mich vor ein paar Tagen wieder an die nur scheinbar heiteren Worte von Karl Valentin: „Ein Mann geht durch München und fragt Passanten: Können Sie mir sagen, wohin ich muss?“

Niemand kann uns sagen, wohin wir uns wenden und wohin wir gehen müssen. Jeder Mensch kann diese Frage nur für sich selbst beantworten. Und jeder Mensch muss sie für sich selbst beantworten. Die Bewältigung dieser Aufgabe macht uns zu erwachsenen, verantwortlichen und unabhängigen Persönlichkeiten. Maximen bei dieser Suche können sein:

Das eigene Denken ordnen.

Reden, um aufzuklären. Und dabei der Empfehlung von Valentin Braitenberg folgen: „Du sollst Deinen Gegnern nicht predigen!“

Freundlich sein und gelassen. Denn Verdrießlichkeit gewinnt keine Herzen.

Friedlich sein im Umgang, insbesondere auch in der Wortwahl. Gute Argumente sind erhellende Leuchtkugeln. Fäuste glänzen nicht und spenden auch kein Licht.

An Hannah Arendt denken: „Niemand hat das Recht, zu gehorchen.“ Will sagen: Man darf nur den Befehlen folgen, deren Inhalt man auch umsetzen wollte, hätte es den Befehl dazu erst gar nicht gegeben.

Demütig Selbstzweifel hegen. Sich aber nicht von ihnen auffressen lassen, sondern sich ihrer erfreuen. Denn Selbstzweifel sind ein Geschenk Gottes, um nicht im Dunning-Kruger-Sumpf zu versinken.

Kreativ sein im eigenen Handeln und Kreativität anderer nach Kräften zulassen.

Keine Siege während der eigenen Lebenszeit anstreben, sondern sie für andere vorbereiten.

Sich verschleißen im Dienst für andere und  – in Anlehnung an ein Wort Nikos Kazantzakis‘ – dem Tod nur eine Ruine hinterlassen.

Bis dahin: Tanzen. Wynton Marsalis hat mir beigebracht, dass Tanzen Traurigkeit unmöglich macht.

Im Übrigen: Trinken. Lachen. Und sich nicht fürchten. Fürchte Dich nicht! Fürchtet Euch nicht!

Frohe Weihnachten.

Über den Autor:

Carlos A. Gebauer arbeitet als Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht und Publizist in Düsseldorf. Er ist stellvertretender Senatsvorsitzender des Anwaltsgerichtshofes Nordrhein-Westfalen und Justiziar der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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