Argumentieren ist kein Luxus – Schweigen macht arm
Hat es Sinn, mit anderen über Themen zu reden, zu denen schon alles gesagt ist? Ist es im Gegenteil nicht sogar Zeitverschwendung, über Dinge zu sprechen, die bereits abschließend erörtert sind? Wozu sollte man Fragen stellen, auf die alle Antworten bereits gegeben sind und über die es sogar einen breiten wissenschaftlichen Konsens gibt?
In der juristischen Literatur gibt es seit Langem eine Standardformulierung, mit der man das Recht verteidigt, äußern zu dürfen, was einem gerade durch den Kopf geht. Sie lautet: Die Meinungsäußerungsfreiheit ist für eine freiheitliche Gesellschaft „schlechthin konstituierend“. Es war das deutsche Bundesverfassungsgericht, das diese geradezu architektonisch grundlegende Spielregel für das gesellschaftliche Gespräch in der prosperierenden Bundesrepublik in dieser Formulierung erstmals aussprach.
Man soll mithin nicht nur das Recht haben, über Tatsachen zu sprechen. Man soll vielmehr auch befugt sein, das eigene Empfinden und Einschätzen zum Gegenstand einer Botschaft an andere machen zu dürfen.
Genau diese Erweiterung des Rederechtes – über das bloße „Sagen, was ist“ hinaus – ist von eminenter Bedeutung für ganze Gemeinwesen. Wer nämlich von einem unbezweifelbar feststehenden Umstand berichtet, der gibt in der Sache nur wieder, was er gesehen oder sonst wie erkannt hat. Das ist zwar wichtig, weil es wahre Nachrichten von unwahren unterscheiden lässt.
Erkenntnisgewinn und Wohlstand
Bloße Vermutungen, Rückschlüsse oder Prognosen zu äußern, ist jedoch etwas anderes.
Wer so spricht, der teilt das eigene tastende Denken mit anderen, um auf diese Weise unfertige und unerprobte Gedanken außerhalb des eigenen Kopfes kundzutun oder solche – in umgekehrter Richtung – in Erfahrung zu bringen. Meinungsäußerungsfreiheit ist somit im Wesentlichen eine Methode, um zu bestätigen oder zu widerlegen, was man selbst zunächst nur unter Vorbehalt als richtig annimmt.
Indem dadurch auch die Erkenntnisse anderer für das eigene Erkennen fruchtbar gemacht werden, vergrößert sich nicht nur das eigene Wissen, sondern wechselseitig auch das der anderen.
Aus diesem Grunde sind Gesellschaften, in denen das prinzipielle Recht herrscht, seine Gedanken jederzeit und jedem gegenüber offen aussprechen zu dürfen, wohlhabender als Gesellschaften, in denen die freie Rede unterdrückt wird. Denn je mehr die Ideen der Einzelnen kreisen können, desto schneller setzen sich zutreffende Informationen durch und desto zügiger werden umgekehrt auch unzutreffende Informationen widerlegt.
Richtige Vermutungen können sich auf diese Weise schneller zu verwertbarem, sicherem Wissen verdichten, und auf unrichtige Spekulationen werden nicht länger vielerorts Ressourcen verschwendet. Im Ergebnis führt diese zunächst intellektuelle und dann verfassungsjuristische Entscheidung für ein Recht auf allgemein freie Rede damit sogar zu handfesten objektiven Effizienzgewinnen für jedermann.
Wo ein Konsens ist, soll nicht mehr diskutiert werden?
Dies auszusprechen, erscheint heute gerade deshalb von großer Bedeutung, weil im gegenwärtigen Debattenklima der Eindruck vorzuherrschen scheint, Argumentieren sei Zeitverschwendung. Namentlich dort, wo ein überragender wissenschaftlicher Konsens bestehe, hört man, müsse nicht mehr diskutiert werden.
Mehr noch: In solchen Situationen dürfe gar nicht mehr argumentiert werden, weil dadurch wertvolle Zeit verloren gehe. Die herrschende Meinung alleine weise bereits den richtigen Weg, Gegenrede störe nur und halte auf.
Abgesehen von der verfassungsjuristischen Problematik einer solchen Weltsicht führt das zwangsläufig zu einer Eingrenzung der Entwicklungspotenziale einer Gesellschaft. Wo Diskussionen inhaltlich gehaltloser werden, da verarmt eine Gemeinschaft bald auch ökonomisch.
Wirtschaftsgeografische Vergleichsbetrachtungen zeigen immer wieder: Wo der Bildungsstand hoch, das Rederecht frei und die dezentrale Kreativität unbeschränkt ist, da haben selbst Landstriche ohne natürliche Bodenschätze gute Aussicht auf eine materiell hohe Lebensqualität.
Argumentieren ist also kein Luxus. Argumentieren ist vielmehr eine zwischenmenschliche Notwendigkeit. Wer argumentiert, der legt seine Gedanken offen.
Die lateinische Mutter des Wortes, das Verb „arguere“, beschreibt die Tätigkeit des Beweisführens. Es geht um das allseits nachvollziehbare Zeigen einzelner Umstände und um das erläuternde Offenlegen von Zusammenhängen unter ihnen. Ein Nachweis im Rahmen der Beweisführung ist also eine kommunikative Darstellung dessen, was der Redner denkt und zeigen möchte.
Überzeugend ist eine Argumentation folglich, wenn sie ihren Sachverhalt schlüssig und widerspruchsfrei darstellen kann. Insofern hat das Argumentieren interaktionstechnisch gleich zwei wesentliche Funktionen: Es zwingt den Redner, seinen eigenen Vortrag zunächst selbst auf gedankliche Kohärenz zu prüfen. Ist er infolge dieser Prüfung davon überzeugt, dass sein Gedanke gut strukturiert ist, teilt er ihn anderen mit. Infolge dieser Offenlegung besteht dann für seine Diskutanten die Möglichkeit, die von ihm präsentierte Beweisführung gemeinsam zu prüfen und festzustellen, ob sie tatsächlich zutreffend ist und dadurch alle überzeugt.
Den Standpunkt wechseln
Es ist kein Zufall, dass uns genauer betrachtete Worte durchaus leiten können, wenn wir nach neuen Einsichten suchen. Wenn wir zum Beispiel den eigenen „Standpunkt“ verlassen und den eines anderen einnehmen, dann können wir einen Gegenstand nicht nur aus der eigenen, sondern auch aus der Perspektive des anderen betrachten. Dann gelingt jene „Offenlegung“, zu der uns das Argumentieren führt, durch neue Sichtweisen auf das Objekt unserer Überlegungen.
Sitzen zwei Menschen hingegen fest auf ihren Stühlen an einem Tisch und betrachten unbeweglich ein und dieselbe Münze in ihrer Mitte, werden sie den anderen nie davon überzeugen können, dass dort (nur!) ein Adler oder eine Zahl zu sehen ist. Erst wenn man beginnt, sich selbst zu bewegen, eröffnet man sich auch neue Erkenntnismöglichkeiten.
Argumentiert man aber nicht nur, sondern diskutiert sogar, dann zerlegt man den betrachteten Gegenstand auch noch in seine Einzelteile, um ihn dadurch in seinen zutage tretenden Bestandteilen detaillierter zu erfassen. Das lateinische „discutere“ bezeichnete nämlich ursprünglich den Vorgang des Zerlegens, da es auf das Wort „quatere“ (zerschlagen) zurückgeht.
„Erörtern“ umkreist einen Gedanken
Und auch in der gemeinschaftlichen „Erörterung“ eines Themas ist das Wort „Ort“ nicht ohne Grund enthalten: Die Diskutierenden umkreisen ihren Gegenstand in Gedanken gemeinschaftlich, um an ihm durch wechselseitige Kundgabe ihrer eigenen Eindrücke immer neue, bislang verborgene Dimensionen zu entdecken.
Selbst der nur imaginäre Rundgang um einen abstrakten Begriff kann so zu ungeahnten Einsichten führen. Lässt man sich darauf ein, den tastenden Gedanken und Darstellungen eines anderen zu folgen, so ist es bisweilen, als sei man zusammen mit einer Taschenlampe um eine monströse Maschine herumgewandert. Die Hinweise des anderen fördern dann oft Bestandteile und Funktionen des Betrachtungsgutes zutage, die man selbst bei ursprünglich noch so intensiver Untersuchung weder gesehen, ja nicht einmal erahnt hatte.
Nichts Neues mehr sehen ist Hochmut
Zu glauben, man könne durch einen offenen und vorurteilsfreien Austausch mit anderen in der Welt nichts Neues mehr sehen, ist nach allem schlicht Hochmut. Nur der Einfältige kann der Überzeugung sein, er wisse schon alles und seine Kenntnisse wären bereits abschließend.
Wer das neugierige Argumentieren mit anderen einstellt und skeptische Diskussionen für beendet erklärt, der verarmt. Erst selbst geistig. Und dann ganz praktisch mit seiner ganzen Gesellschaft auch wirtschaftlich. Jede Kreation lässt etwas Neues entstehen. Und neu ist es, weil es zuvor noch nicht existierte.
Erst im bohrenden Argumentieren und Diskutieren mit anderen lässt sich dann aber ermitteln, ob das Neue auch etwas Gutes und Sinnvolles ist. Denn der bloße Umstand, dass etwas neu Kreiertes zuvor zwangsläufig noch unbetrachtet gewesen war, bedeutet für sich noch nicht, dass es künftig auch für andere tatsächlich vorteilhaft wäre. Das lässt sich erst in der Erprobung ermitteln. Zunächst in der diskutierten Theorie und dann – vielleicht – in der experimentellen Praxis.
All diese Erkenntnisschritte sind für die Einführung eines neuen Gedankens oder eine ungesehene Erfindung unabdingbar. Sie lassen sich nicht umgehen, will man Katastrophen ernsthaft vermeiden.
Im Umkehrschluss gilt sogar: Je weniger die Beteiligten miteinander kommunizieren, desto rückständiger bleibt ihr Denken und desto wahrscheinlicher ist das Risiko für gesellschaftliche Katastrophen. Mit anderen Worten: Ohne freies und offenes Argumentieren gibt es keinen vernünftigen Fortschritt. Oder noch kürzer: Wer nicht fragt, bleibt dumm.
Über den Autor:
Carlos A. Gebauer arbeitet als Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht und Publizist in Düsseldorf. Er ist stellvertretender Senatsvorsitzender bei dem Anwaltsgerichtshof Nordrhein-Westfalen und Justiziar der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft.
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