Streiten ohne sich mehr als nötig zu ärgern – wie geht das?
Man muss nur wenig Zeitung lesen, um zu sehen: Unsere Gesellschaft ist auf das Äußerste zerstritten. Es gibt kaum noch ein Thema, bei dem nicht tiefe Gräben das Diskussionsfeld spalteten.
Von der Erdatmosphäre bis zur eigenen Nase, von der Lokal- bis zur Weltpolitik, vom Gaspreis heute bis zum Fleischkonsum in 50 Jahren – alles dies ist inzwischen Gegenstand erbitterter Debatten. Wer sich dem allgegenwärtigen Streit nicht aussetzen mag, hat längst die Flucht in das Schweigen angetreten.
Über die Ursachen dieser Verwerfungen ließe sich lange spekulieren. Weniger zeitintensiv könnte sein, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie eine Gesellschaft aus diesem Zustand wieder herausfindet.
Vielleicht ist der Sache dienlich, einen Blick auf jene zu werfen, die Streiten zu ihrem Beruf gemacht haben: Rechtsanwälte. Sie jonglieren täglich mit streitigem Vorbringen, sie bestreiten gegnerischen Vortrag und sie suchen nach der treffenden Antwort auf die streitentscheidende Frage.
Wie also handhaben Anwälte ihren Streitstoff, ohne selbst zu verzweifeln oder sich untereinander mehr als nötig zu ärgern?
Die Hauptsache voranbringen
Zum Selbstverständnis eines Anwaltes gehört, beim Streiten sachlich zu bleiben. Das Sachlichkeitsgebot stellt eine Kernvorschrift seines Berufsrechtes dar. Die Grundlage dieser Spielregel liegt in der Erkenntnis, dass die Auseinandersetzung mit Nebensächlichem nie einer Erledigung oder Bewältigung derjenigen Sache dient, die den eigentlichen Ursprung des Streites bildete.
Tatsächlich: Hat man einmal erkannt, dass das Unsachliche immer auch etwas ist, was neben der Sache liegt, dann sieht man: Es bringt die Hauptsache X nicht voran, wenn man sich der Nebensache Y widmet.
Welche schier unendlichen Verwirrungspotenziale es hat, wenn die Beteiligten eines Gerichtsverfahrens nicht mehr nur mit dem ursprünglich streitauslösenden Umstand befasst sind, sondern sich auf die sprichwörtlichen Nebenkriegsschauplätze begeben, zeigt schon die einfachste Grundkonstellation des Anwaltsprozesses: Sitzen ein Kläger und ein Beklagter im Beisein ihrer beiden Anwälte vor einem Richter, dann sollten diese fünf Menschen mit nichts anderem beschäftigt sein als mit der effizienten Klärung des einen Streits zwischen Kläger und Beklagtem.
Fangen die Anwälte aber untereinander an, sich Vorwürfe zu machen, lehnen sie den Richter als möglicherweise befangen ab oder äußert sich der Beklagte abfällig über den Klägerbevollmächtigten, dann tritt der Prozess in seiner Hauptsache bald auf der Stelle.
Die gesellschaftliche Debatte entwirren
Es wäre abwegig, wollte man annehmen, gesellschaftliche Streitigkeiten außerhalb eines Gerichtssaales unterlägen anderen Dynamiken.
Im Gegenteil. Je mehr potenzielle Streitparteien an einer Auseinandersetzung beteiligt sind und je weniger klare Prozessregeln es gibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Ausgangspunkt des Konfliktes in Vergessenheit gerät und an seine Stelle unzählbare weitere Nebenkämpfe treten.
Im Idealfall wird dies allen Beteiligten irgendwann klar, sie hören auf zu streiten und fragen sich gemeinsam, warum sie sich eigentlich ursprünglich aufgeregt hatten. Doch dieser Idealfall ist in der Praxis wohl noch nicht beobachtet worden. Mithin bleibt die Frage: Wie kann man eine gesellschaftliche Debatte mithilfe des anwaltsrechtlichen Sachlichkeitsgebotes entwirren?
Am Anfang alles Nachdenkens über eine Versachlichung von Streitereien muss die Erkenntnis stehen, dass Menschen keine kalten Automaten sind.
Wir sind lebendig. Wir haben Gefühle. Werden wir von einem anderen Menschen überzeugend – und also erfolgreich – darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns zuvor geirrt haben, springt in unserem Inneren also nicht nur ein Schalter um und unsere Ansicht ist geändert. Wir können uns dann vielmehr auch über uns selbst ärgern.
Bisweilen schämen wir uns sogar, einem Irrtum oder gar einer gezielten Täuschung durch andere aufgesessen zu sein. Bis wir diesen Ärger überwunden haben, neigen wir in solchen Fällen sogar dazu, demjenigen gegenüber negativ eingestellt zu bleiben, der uns von diesem Fehler befreit hat.
Fakten sind nämlich meist in ein Knäuel von subjektiven Befindlichkeiten eingewickelt. Drückt man bei einer Maschine auf einen falschen Knopf, funktioniert sie nicht. Begeht man unter Menschen Fehler, kann man sie dadurch zum Lachen bringen oder sie traurig machen.
Für alles Streiten bedeutet dies: Man muss die Emotionen des Gegenübers auch und gerade im eigenen Interesse einer zügigen Erledigung der Sache immer im Blick haben.
Siebenerlei für sachliches Streiten
Sieben Handwerkszeuge sind daher für sachliches Streiten hilfreich:
1.) Man soll im Streit penibel darauf achten, Tatsachen und Meinungen auseinanderzuhalten. Tatsachen lassen sich objektiv beweisen. Meinungen hingegen sind nur im Inneren des Meinenden real.
Bis heute gibt es erstaunlicherweise keine allgemein anerkannte Definition dafür, was eine „Meinung“ genau ist. Gerichte stellen auf ein „Dafürhalten“ oder auf den eigenen „Eindruck“ des Betreffenden ab. Am treffendsten dürfte wohl sein, auf das eigene Empfinden abzustellen: Gegenstände, die man noch nicht abschließend erkannt und erfasst hat, die man also nicht beweisen kann, die man aber schon für richtig oder falsch hält, sortiert man nach Maßgabe des eigenen Empfindens.
Damit muss aber zugleich klar sein: Der andere kann über den betreffenden Gegenstand anders empfinden. Sein subjektives Befinden als objektiv falsch oder richtig zu bezeichnen, ist folglich unsachlich.
Was wurde verstanden?
2.) Das, was der andere tatsächlich äußern wollte, und das, was wir verstehen, kann durchaus unterschiedlich sein. Bevor man dem Gegenüber also vorhält, er habe etwas Vorwerfbares gesagt, sollte man klären, ob das tatsächlich der Fall war.
Erweist sich, dass man den anderen nur falsch verstanden hatte, kann man vermeiden, ihn wegen einer reinen Unterstellung anzugreifen. Legt man dem anderen grundlos Skandalöses in den Mund, streitet man also schnell über Sachen, die es nicht gibt. Man ist folglich unsachlich.
3.) Präzision ist bei der sprachlichen Darstellung eines Sachverhaltes im Streit unverzichtbar. In der Realität besteht ein erheblicher Unterschied zwischen einer einzelnen klemmenden Küchenschublade einerseits und einem Zustand, die dem „alle Möbel kaputt sind“ andererseits.
Nicht aber so in der Sprache. Aus dem Fehlen einer Biene kann verbal schnell darauf geschlossen werden, dass „alle Insekten sterben“. Wer aber tatsächliche Mücken zu erzählten Elefanten macht, weil beide Beine haben, der streitet inakkurat und somit unsachlich.
Einzelfälle unbotmäßig verallgemeinert
4.) Der fehlenden Präzision verwandt ist die mangelnde Konkretheit: In der Emotion des Streites neigen Menschen dazu, Einzelfälle unbotmäßig zu verallgemeinern. In diese Kategorie fallen Sätze wie „Alle Soldaten sind Mörder“, „Jeder Mann ist ein Vergewaltiger“ oder „Alle Kreter lügen“.
Eine verlässlichere Möglichkeit, Debatten zu boykottieren, gibt es kaum. Soldaten, Männer im Allgemeinen oder Kreter im Besonderen werden hierdurch faktisch haltlos attackiert. Aus naheliegenden Gründen kann von allen Adressierten kaum erwartet werden, dass sie den Vorwurf übergehen und selbst ausschließlich zur Sache weiterreden.
Doch damit nicht genug: Auch derjenige, der einen solchen verallgemeinernden Angriffspfeil abgeschossen hat, stellt sich unwillkürlich selbst in das Feuer der entfesselten Aggression. Erfahrung beweist, dass auch das nüchterne Übergehen einer solchen Attacke durch den Angegriffenen den Streit in solchen Fällen nicht etwa abkühlt.
Der Angreifer ärgert sich vielmehr dann, dass der Gegner nicht plangerecht explodiert. Kurz: Unsachlichkeit hilft keinem.
Wertungen sind stets individuell
5.) In der Wortwahl ist der Unterschied zwischen sachlicher Kritik und abfälliger Bewertung zwar nur hauchdünn. Im Effekt aber unterscheiden sich beide kolossal. Fragt man einen Schreiner, warum ein Brett 5 Zentimeter kürzer ist, als man es bestellt hat, kann er einräumen, das Brett eines anderen Kunden präsentiert zu haben.
Fragt man ihn stattdessen, ob ihm Bretter nur gefallen, wenn sie zu kurz sind, stellt sich die Diskurssituation grundlegend anders dar. Einander objektiv zuwiderlaufende Interessen und Standpunkte müssen von subjektiven Wertungen unterschieden und von ihnen bestenfalls freigehalten werden, so lange es irgend geht. Da Wertungen stets individuell sind, wird der Disput über sie oft unsachlich.
Kritik an der Sache statt an der Person
6.) Aus dem gleichen Grund soll man alle Kritik auf den tatsächlichen Gegenstand des eigenen Missfallens beschränken, statt ihn auf die Person des Gegners auszuweiten. Argumente „ad hominem“ führen im Streit zu nichts Gutem. Ob der Gegner dick oder dünn, groß oder klein, rosa oder lila ist, hat in aller Regel mit seinem sachlichen Streitbeitrag nichts zu tun.
7.) Hat man sich dazu verleiten lassen, Vergleiche zu ziehen und deswegen den populären Vorwurf kassiert, der Vergleich sei unzulässig, so sollte man zügig klarstellen: Nur Vergleichen kann man schlechterdings alles mit allem. Illegitim kann allenfalls sein, ein Verglichenes mit einem anderen gleichzusetzen. Mit dieser Klarstellung findet man meist zurück zur Sache.
Die Antworten finden sich fast von selbst
Hält man sich an das Gebot sachlicher Debatten, mäßigt man sich selbst und kühlt man einen erregten Gegner beharrlich sachbezogen ab, finden sich die Antworten auch auf schwierigste Fragen fast von selbst.
Im Idealfall löst man dadurch nicht nur ein Problem, sondern lernt auch sein Gegenüber als Mitmenschen schätzen. Ändern nämlich beide ihre Perspektive und sehen sie die Welt aus dem Blickwinkel des anderen, keimt Verständnis füreinander auf. Was mehr kann man sich wünschen?
Über den Autor:
Carlos A. Gebauer arbeitet als Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht und Publizist in Düsseldorf. Er ist stellvertretender Senatsvorsitzender bei dem Anwaltsgerichtshof Nordrhein-Westfalen und Justiziar der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft.
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