Das Wirtschaftsministerium und die Deindustrialisierung Deutschlands

In einem Gastkommentar spricht der ehemalige Hamburger Umweltsenator Prof. Fritz Vahrenholt unter anderem über den deutschen Strommarkt der Zukunft, die vier Säulen der Stromversorgung aus Sicht des Wirtschaftsministeriums, ihre Kosten und Erfolgschancen sowie den wahrscheinlichen Auswirkungen für Hunderttausende Arbeitsplätze und noch mehr Bürger.
Der Strommarkt der Zukunft soll nicht mehr auf Kohle basieren. Viele Industriebetriebe könnten dadurch ebenfalls zum Denkmal – oder Mahnmal – werden.
Bereits heute ein Industriedenkmal: Historischer Bergbauturm in Oberhausen, Nordrhein-Westfalen.Foto: BerndBrueggemann / iStock
Von 7. August 2024

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Im Juli ist die Abweichung der globalen Temperatur vom 30-jährigen Mittel der satellitengestützten Messungen der University of Alabama (UAH) gegenüber Juni in etwa gleich geblieben. Der Wert beträgt 0,85 Grad Celsius und liegt damit 0,05 Grad Celsius über dem Wert von Juni (+0,80), aber 0,20 Grad Celsius unter jenem von April 2024 (+1,05).

Der El Niño, der diesen Erwärmungsausschlag verursacht hat, klingt seit März ab. Somit beträgt der langfristige Temperaturanstieg seit 1979 weiterhin 0,15 Grad Celsius pro Jahrzehnt und – setzt er sich so fort – 1,5 Grad Celsius pro Jahrhundert.

Die Temperaturen im Juli 2024 überstiegen das langfristige Mittel um +0,85 Grad Celsius. Das ist deutlicher weniger als in den letzten Monaten. Der langfristige Erwärmungstrend seit Januar 1979 liegt bei +0,15 Grad Celsius pro Jahrzehnt oder 1,5 Grad Celsius pro Jahrhundert.

Die Temperaturen im Juli 2024 überstiegen das langfristige Mittel um +0,85 Grad Celsius. Der langfristige Trend liegt unverändert bei +0,15 Grad Celsius pro Jahrzehnt oder 1,5 Grad Celsius pro Jahrhundert. Foto: Dr. Roy SpencerUniversity of Alabama, Huntsville

Vollständiger Umbau am deutschen Strommarkt

Das „Strommarktdesign der Zukunft“ liegt vor. Die vom Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck vorgelegten Handlungsoptionen beschreiben vier wichtige und für die Grundstoffindustrie existenzbedrohende Säulen des deutschen Strommarkts. Diese sind:

  • 100 Prozent erneuerbare Energien
  • Wasserstofffähige Kraftwerke als Back-up für Dunkelflauten
  • Lokale Flexibilisierung der Stromnachfrage
  • Flexibilisierung der Stromnachfrage der Industrie

Was in der Drucksache des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) technisch daherkommt, fordert und erfordert nichts Geringeres als den „nahezu vollständigen Umbau unserer Energieversorgung“, „umfangreiche Anpassungen in allen Bereichen der Stromerzeugung, -übertragung und -speicherung“ und „betrifft […] letztlich nahezu die gesamte Gesellschaft und Volkswirtschaft.“

Mit anderen Worten, die Regierung will die Art und Weise, wie wir leben, produzieren und arbeiten, vollständig umkrempeln. Wirtschaftliche Tätigkeit, aber auch die Bedürfnisse des Einzelnen haben sich dem Primat der 100-prozentigen Versorgung mit erneuerbaren Energien unterzuordnen. Freiheit und Wohlstand zählen dabei nicht mehr. Warum dieser Umbau scheitern wird, zeigt schon der erste Versuch des Wirtschaftsministers, Wasserstoff für Deutschland zu akquirieren.

Der angeblich größte Wasserstoffdeal aller Zeiten

Die Bundesagentur H2Global hat ihre erste Ausschreibungsrunde für grüne Wasserstoffderivate abgeschlossen. Sie importiert nun ab 2027 rund 259.000 Tonnen grünes Ammoniak aus Ägypten. Der Lieferant Fertiglobe, ein Unternehmen mit Hauptsitz in den Arabischen Emiraten, sagte einen Produktionspreis von 811 Euro pro Tonne Ammoniak zu.

Robert Habecks „Wasserstoff-Coup“ bedeutet, Ammoniak für 210 Millionen Euro einzukaufen, dessen Wasserstoffgehalt bei direktem Einsatz als Erdgasersatz neunmal so teuer wie Erdgas ist. Wenn man 210 Millionen Euro für einen Energieträger mit einem Marktwert von 23 Millionen Euro ausgibt, wird kein Industriebetrieb noch ein Kraftwerk mehr als diesen Marktwert bezahlen. Also müssen 187 Millionen Euro durch Habecks Ministerium subventioniert werden.

Beim nächsten angekündigten Wasserstoffeinkauf in Höhe von 3,5 Milliarden Euro reden wir dann über eine notwendige Subvention von rund 3,1 Milliarden Euro. Wie sagte Robert Habeck noch bei Maischberger: „Am Ende ist es nur Geld“. Ja – unser Steuergeld.

Warum aber ist diese hohe Subvention erforderlich? Eingekauft wird das Ammoniak für 811 Euro pro Tonne (€/t). Das sind umgerechnet 16 Cent pro Kilowattstunde (ct/kWh) Energieinhalt. Das Wirtschaftsministerium unterschlägt dabei die Kosten für den Transport, die Aufspaltung in Wasserstoff (das „Cracken“), die Kosten des Crackers sowie die Verluste bei der Stromerzeugung. Und diese Kosten sind gewaltig:

189 €/t für den Transport des Ammoniaks, 1,23 ct/kWh für die Kosten des Crackers und 25 Prozent Verluste bei der Wiederaufspaltung des Ammoniaks verteuern den Wasserstoff auf 27 ct/kWh. Wird daraus Strom gewonnen, ist dieser mit knapp 50 ct/kWh fünfmal teurer als der heutige deutsche Börsenstrompreis von neun Cent pro Kilowattstunde auf Erdgasbasis. Zum Vergleich liegt der US-Strompreis bei 3,5 ct/kWh. Damit wären die Stromerzeugungskosten des Wasserstoffstroms in Deutschland mehr als 14-mal so hoch wie der US-Strompreis.

Wenn das Back-up zum Regelfall wird

Zwar sind die wasserstofffähigen Kraftwerke eine zentrale Säule des Stromkonzeptes, aber in der Realität sind sie weit davon entfernt, gebaut werden zu können. Bislang gibt es nur einige wenige Pilotanlagen wie die RWE-Kawasaki-Wasserstoffturbine mit 1,8 Megawatt Leistung in Lingen. Als Back-up für Erneuerbare werden mehrere Dutzend Gigawatt benötigt. Diese Wasserstoffkraftwerke als Ersatz für das wegfallende Back-up von Kohle-, Kern- oder Gaskraftwerken befinden sich noch in der Entwicklung.

Damit das Problem eines nicht vorhandenen, aber jederzeit erforderlichen 100-prozentigen Ersatzsystems nicht zu offensichtlich wird, heißt es vielfach, die wasserstofffähigen Gaskraftwerke liefern im Jahr nur wenige Stunden Strom.

An 132 Tagen – also vier Monate – produzieren Windkraftwerke in Deutschland weniger als fünf Prozent ihrer Leistung. In den Wintermonaten November bis Januar fällt die monatliche Produktion einer Solaranlage auf zwei Prozent ihrer Jahresleistung zurück. An etwa 4.380 von 8.760 Stunden eines Jahres scheint in Berlin keine Sonne, weil es Nacht ist. Das ist alles andere als „nur wenige Stunden“.

Fünfmal so viel Wind- und Solarstrom

Die zentrale Säule des Energiekonzeptes ist es, Wind- und Sonnenenergie so auszubauen, dass 2045 fünfmal so viel Wind- und Solarstrom produziert wird wie heute, um auch die zukünftigen Bedarfe für E-Autos und Wärmepumpen abzudecken.

Dass der weitere Zubau von Solar- und Windenergie immer höhere Subventionen erfordert, kann der Bericht nicht in Abrede stellen. Dort heißt es, dass „Wind- und PV-Strom oft gleichzeitig mit hohen Volumina im Markt [sind], sodass die Strompreise günstig sind, gleichzeitig aber die Erneuerbaren keine Marktwerterlöse haben“. In so einem Fall sorgt die „gleitende Marktprämie“ für eine Entschädigung der Anlagenbetreiber.

Dies ist nichts anderes als eine Wortschöpfung für eine umfangreiche Subvention, deren Rahmen 2024 auf 20 Milliarden Euro geschätzt wird. Konkret bedeutet die gleitende Marktprämie: Sinkt der Börsenpreis unter diesen Wert, zahlt der Bundeshaushalt die Differenz, liegt der Börsenpreis über dem Basiswerte der EEG-Vergütung – bei Wind derzeit 7,35 ct/kWh – kassiert der Betreiber den Zusatzprofit.

Diesen Zusatzerlös beabsichtigt die EU ab 2026 abzuschaffen. Die Wind- und Solar-Lobby ist schon ganz nervös. Im Konzeptpapier des Wirtschaftsministers heißt es: „Perspektivisch werden Erneuerbare Energien keine Förderung erhalten, sobald der Strommarkt ausreichend flexibel und ausreichend Speicher zur Verfügung stehen.“ Dass es jemals so weit kommt, darf bezweifelt werden.

Strommarkt „flexibilisieren“

Und damit kommen wir zur beunruhigendsten Botschaft. In der Strommarktvision steht: „Das Stromsystem geht von inflexibler Nachfrage und ihr nachfolgender Erzeugung über in ein System flexibler Nachfrage, die variabler Erzeugung folgt.“ Den Satz soll wohl niemand verstehen. Er bedeutet: Bislang wurde jeder Strombedarf durch das Herauf- und Herunterfahren von Kraftwerken gedeckt. Wenn aber nur noch schwankende erneuerbare Energien vorhanden sind, muss sich der Strombedarf der Kunden flexibel an die schwankende Erzeugung von Wind- und Sonnenstrom anpassen.

Als Instrument dieser Umgestaltung sehen das Wirtschaftsministerium und die im unterstellte Bundesnetzagentur die Netznutzungsgebühr.

Unflexibles Abnahmeverhalten ist gesamtökonomisch zunehmend nachteilhaft und kann die Integration der Erneuerbaren Energien in den Strommarkt hemmen“, so die Bundesnetzagentur bei der Vorstellung ihrer „Eckpunkte zur Fortentwicklung der Industrienetzentgelte im Elektrizitätsbereich“.

Stromintensive, konstante Netznutzung durch die Industrie war bislang ein Vorteil für die Netzbetreiber, da sie mit einer gleichmäßig hohen und vorhersehbaren Netzbelastung verbunden war. 400 Industriebetriebe lasteten das Netz mehr als 7.000 Stunden von 8.760 Stunden im Jahr konstant aus. Sie bekamen daher bislang einen Netzrabatt von 80 Prozent. Denn so konnte eine günstige Abnahme für die Grundlastkraftwerke (Kernenergie, Kohle) gewährleistet werden. Die Bundesnetzagentur schreibt in ihrem Eckpunktepapier:

Der Anteil der Erzeugung aus klassischen Grundlastkraftwerken nimmt unter anderem durch den Ausstieg aus der Kernenergie und aus der Kohleverstromung stetig ab.“

Dadurch schwinde „erzeugungsseitig auch das Interesse an einer hohen, gleichmäßigen Leistungsaufnahme stromintensiver Letztverbraucher.“ Weiter heißt es:

Durch den Wegfall konventioneller Grundlastkraftwerke und den Zubau dezentraler Einspeisung aus Anlagen zur Erzeugung von EE-Strom wird die Einspeisung volatiler, was auch das Erfordernis flexibler Lasten wachsen lässt.“

Belohnt werden sollen demnach zukünftig diejenigen Kunden, die dann ihre Güter produzieren, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Dass dies für die energieintensiven Betriebe nicht möglich ist, ist deren Pech. Das betrifft die Aluminium-, Kupfer- und Stahlindustrie, die Chemieindustrie, die Papier- und Glasindustrie, aber auch die verarbeitende Industrie – kurz – alle Betriebe, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche in Schichten produzieren. Wären sie „systemdienlich“, so die Bundesnetzagentur, müsste man die Solar- und Windkraftanlagen bei Überschussproduktion nicht abregeln.

Das Ende vieler Arbeitsplätze in Deutschland

Auf den Punkt gebracht heißt dies: Die Politik hat sich zum Ziel gesetzt, regelbare Stromversorgung (Kernenergie und Kohle) als Rückgrat der Industrie zu ersetzen durch schwankende erneuerbare Energien. Die Folge ist, dass die Industriebetriebe jetzt gezwungen werden sollen, ihre Produktion dem schwankenden Stromangebot anzupassen oder höhere Netzkosten zu bezahlen, wenn sie es nicht tun. Was hier aufgeführt wird, geht an die Grundfesten der industriellen Produktion, die es in Deutschland wegen zu hoher Strompreise aufgrund der Energiewende ohnehin schwer hat.

Da stellt sich die Frage an die Industriegewerkschaften: Wie geht man in dieser Situation mit Arbeitnehmern um, die während Dunkelflauten wegen zu teurem Stroms nicht arbeiten können?

Auf die energieintensiven Betriebe kommt eine doppelte Mehrbelastung zu. So kann die Veränderung der Netzentgeltverordnung eine zusätzliche Belastung von 3,5 ct/kWh an Netzkosten ausmachen. Hinzu kommt, dass die Netzkosten wegen des teuren Netzausbaus auf bis zu zehn Cent pro Kilowattstunde ansteigen werden. In Summe führt das für die energieintensiven Betriebe zu Netzkosten pro Kilowattstunde von acht Cent, zuzüglich neun Cent für den heutigen Börsenstrompreis.

Ein Strompreis von 17 ct/kWh ist das Ende dieser Arbeitsplätze in Deutschland. Von einem der Industrie im Wahlkampf versprochenen „Industriestrompreis“ von vier Cent pro Kilowattstunde ist das weit entfernt. Und dabei sind die zusätzlichen Kosten für den Wasserstoffstrom nicht eingerechnet.

Über den Autor:

Prof. Dr. Fritz Vahrenholt ist promovierter Chemiker, SPD-Politiker, Manager, Wissenschaftler und Buchautor. Seit 1976 arbeitete er unter anderem im Umweltbundesamt, als Staatsrat bei der Umweltbehörde und als Umweltsenator in Hamburg. Er war Vorstand für erneuerbare Energien der Deutschen Shell AG sowie Gründer und Vorstand des Windenergie-Anlagenbauers REpower Systems.

Seit 1999 ist er Honorarprofessor im Fachbereich Chemie der Universität Hamburg. Sein Bestseller „Seveso ist überall“ (1978) war eines der wirkmächtigsten Bücher in den Anfangsjahren der Umweltbewegung. 2020 erschien sein Bestseller „Unerwünschte Wahrheiten“ und 2021 folgte „Unanfechtbar – Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zum Klimaschutz im Faktencheck“. www.vahrenholt.net

Prof. Dr. Fritz Vahrenholt Foto: privat

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