Was wäre, wenn John Lennon nach 1980 weitergelebt hätte? Wie KI unsere Geschichte verändert
In dem Film „Yesterday“ aus dem Jahr 2019 gibt es eine Szene, in der der Protagonist Jack von einem Treffen mit dem ehemaligen Beatle John Lennon derart überwältigt ist, dass dieser ihm rät, einen Psychologen aufzusuchen. Ganz anders als vermutet, lebt der in sich ruhende 78-jährige Sänger und Gitarrist ein beschauliches Leben ohne Starallüren in einem Landhaus am Meer. Die Musikgeschichte ist voll von solchen „Was-wäre-wenn“-Szenarien.
Was wäre, wenn die Beatles sich nie aufgelöst hätten? Was wäre, wenn John Lennon 1980 nicht erschossen worden wäre? Was wäre, wenn Brian Wilson von den Beach Boys sein Hauptwerk „Smile“ vollendet hätte und nicht geistig verwirrt gewesen wäre?
Klar, dass die Popmusik von heute eine andere Entwicklung genommen hätte. Auch wenn sich die Geschichte nicht zurückdrehen lässt: Der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz – insbesondere die Schaffung von Musik und Kunst mit Hilfe von KI – hat einige dazu veranlasst, sich mit den „Was-wäre-wenn“-Fragen der Musikgeschichte zu beschäftigen.
Was durch KI bereits möglich ist
KI kann nicht nur Songtexte schreiben, sondern auch die Stimmen berühmter Sänger der Vergangenheit imitieren. Sie muss dafür mit Hunderten Stunden vorhandener Aufnahmen „trainiert“ werden. Freddie Mercury, der 1991 verstorbene Leadsänger der britischen Rockband Queen, singt beispielsweise auf YouTube Michael Jacksons „Thriller“ 2022 und Ed Sheerans „Perfect“ 2023. – Wer genau hinhört, erkennt, dass die Tonlage und die Stimmlage den Originalen entsprechen.
Bei Social-Media-Apps wie TikTok wird häufig von KI erstellte Musik zur Untermalung der Nutzervideos verwendet. Im Bereich der klassischen Musik wurde die KI bereits eingesetzt, um völlig neue, anspruchsvolle Werke im Stil längst verstorbener Komponisten zu schaffen.
Zum Beispiel führte das chinesische Telekommunikationsunternehmen Huawei im Februar 2019 in der Londoner Cadogan Hall eine vollendete Version von Franz Schuberts (1797–1828) „Unvollendeter“ Sinfonie auf. Dafür wurde die KI im Huawei-Smartphone Mate 20 Pro mit Daten und Informationen gefüttert, einschließlich der Klangfarbe, der Tonhöhe und des Metrums von Schuberts Werken. Es erstellte dann – mithilfe des Komponisten Lucas Cantor – die Melodie für den fehlenden dritten und vierten Satz. Später wurden die Arrangements ergänzt.
Auch das Werk Ludwig van Beethovens (1770–1827) wurde 2021 auf diese Art und Weise erweitert. KI-Experten und Musikwissenschaftler schufen eine 10. Sinfonie, zu der der Komponist zu seinen Lebzeiten lediglich grobe Skizzen angefertigt hatte.
Damit erweiterten die Forscher die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz derart, dass sie nicht nur Beethovens Schaffensprozess „erlernen“ konnte, indem sie sie mit dem gesamten Repertoire des Komponisten „trainierten“, sondern sie auch eine völlig neue Sinfonie replizieren und schreiben konnte.
Beethovens 10. Sinfonie nicht innovativ genug
Die KI dazu entwickelte Ahmed Elgammal, Gründer des Labors für Kunst und künstliche Intelligenz an der US-amerikanischen Rutgers University. Der Zweck des Prozesses sei gewesen, zu zeigen, wie KI die Komponisten und Musikhistoriker unterstützen könne, erklärt er. „KI hat jetzt dieses Element der Kreativität, um ein großartiges Werkzeug in den Händen der menschlichen Kreativen zu sein, mit dem Projekte verwirklicht werden können, die für Menschen sehr schwierig sind“, sagt er gegenüber der Epoch Times.
Elgammal räumt ein, dass seine von der KI generierte 10. Sinfonie kritisiert wurde und nicht den „Erwartungen an Beethovens 10. Sinfonie entsprochen hat; sie klang eher wie [ein Werk] aus seiner mittleren [Periode] – wie seine sechste oder siebte Sinfonie“. Elgammal stimmt dem zu, „denn sie wurde mit Beethovens [existierender] Musik trainiert, weshalb sie eher wie ein typischer Beethoven klang und nicht darüber hinaus ging. Das war nicht unser Ziel.“
Dennoch ist es vorstellbar, dass die KI-Technologie in naher Zukunft die Grenzen überschreitet und Beethovens 11., 12. oder sogar 13. erschafft. In anderen Genres, wie etwa der Popmusik, könnte die KI potenziell „neue“ Beatles-Alben erstellen und die natürliche Entwicklung der Band nachvollziehen, wenn sie in den 70er-, 80er- oder 90er-Jahren zusammengeblieben wäre.
Im Bereich der bildenden Kunst, so Elgammal, sei der Schritt zu neuartigen Werken bereits gelungen. Das autonome, KI-gestützte Programm AICAN, habe man „so gestaltet, dass es innovativ sein muss“. Das vor rund fünf Jahren entwickelte Tool kann Gemälde erstellen. „Im Grunde haben wir der KI beigebracht, Kunst zu erzeugen, indem wir ihr Bilder aus den vergangenen 500 Jahren westlicher Kunst übermittelt haben“. Wenn man sie den Leuten zeigt, „können sie nicht sagen, ob [die Kunst] von einem Menschen oder einer Maschine geschaffen wurde, und sie war sehr neuartig – keine Nachahmung.“
Was KI kann und was der Mensch
Doch die Schlüsselfrage ist nach Elgammal die Frage nach dem Warum. „Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen dem, was wir tun, und dem, was KI tun kann. Wir Menschen sind diejenigen, die in der realen Welt leben, ein Bewusstsein haben, verstehen, was wir tun, und wir haben etwas zu sagen“, betont er. „Eine KI wird den Anweisungen folgen, die man ihr gibt. Sie wird nie die bewusste Erfahrung haben, uns von sich aus etwas Sinnvolles mitzuteilen.“
Die Regulierung und die Besorgnis über die Verbreitung von KI sei berechtigt, sagt er. Auch wenn es einen kommerziellen Anreiz für die Verbreitung von KI gibt, müsse der Mensch immer die Kontrolle behalten.
Dirigent: KI-Musik lässt die menschliche Verbindung vermissen
Der Orchesterdirigent Neil Flottmann, der für das Queensland Ballet und die Opera Australia gearbeitet hat, ist überzeugt, dass KI-gestützte Musik einen größeren Einfluss auf kommerzielle Musik, als auf künstlerische Werke haben wird.
„KI könnte für Leute nützlich sein, die das schreiben, was ich als ‚Tapetenmusik‘ bezeichne, also das, was man früher ‚Muzak‘ oder Werbejingles nannte – diese Art von Musik“, sagte er der Epoch Times. „Zeitgenössische populäre Musikstile sind ziemlich mechanisch, und wenn man der KI sagen würde: ‚Schreib einen Disco-Song‘, könnte sie wahrscheinlich etwas halbwegs Glaubwürdiges erfinden.“ Wenn es darum gehe, eine echte menschliche Verbindung zu schaffen, „dann können das nur Menschen“, glaubt er.
Am Beispiel der Filmkomponisten Hans Zimmer und John Williams macht Flottmann, jetzt Leiter des Fachbereichs Creative Arts am australischen West Moreton College, diese Verbindung deutlich: Beide schauen sich die Filme, die sie vertonen, an, wodurch ihre Kompositionen persönliche Reaktionen auf ihr Seherlebnis sind.
Ein weiteres Beispiel sind die Werke des italienischen Opernkomponisten Giuseppe Verdi aus dem 19. Jahrhundert, der in Opern wie La Traviata und Rigoletto einen besonderen Schwerpunkt auf Vaterfiguren legte.
„Dafür gibt es einen wirklich guten Grund: Als Verdi ein recht junger Mann war, starben seine Frau und seine beiden Kinder. Verdis Erfahrung der Vaterschaft war also von unerträglicher Traurigkeit geprägt, und das kommt in der Art und Weise, wie er für diese Vaterfiguren schreibt, zum Ausdruck. Ich glaube nicht, dass man das mit künstlicher Intelligenz reproduzieren kann“, betont Flottmann.
Kulturelles Erbe nicht einer emotionalen Erfahrung opfern
Der Geiger und Lehrstuhlinhaber für Streichinstrumente am Sydney Conservatorium of Music, Götz Richter, ist der Ansicht, dass die Verbreitung von KI grundlegende gesellschaftliche Fragen aufwirft.
„Ich glaube, wir haben die Tatsache aus den Augen verloren, dass Musik in der westlichen Tradition interpretiert werden muss, wenn sie aufgeführt wird. Sowohl der Interpret als auch der Zuhörer muss ein Bewusstsein für Interpretationen haben“, sagt er der Epoch Times.
„Es werden viele Dinge berücksichtigt, die nicht in der Partitur stehen; wir müssen bedenken, worauf sich die Noten auf dem Blatt in Bezug auf ihre Konzeption beziehen, zum Beispiel, wer war [der Komponist]? Wann hat er gelebt? Das sind alles Dinge, die von großer Bedeutung sind“, so Richter.
Es ist diese Fähigkeit, die westliche Institutionen und die Gesellschaft nicht zugunsten einer „klanglich-sinnlichen, emotionalen Erfahrung“ aufgeben sollten, die die KI schaffen wird, warnt er.
Die Gesellschaft muss ihr künstlerisches Schaffen bewahren
Richter, der auch Philosophie studiert hat, glaubt, dass der stetige Rückgang der musischen Erziehung dazu geführt hat, dass das Verständnis für die Bedeutung der westlichen Musiktradition schwächer geworden ist.
„Im 19. und frühen 20. Jahrhundert konnte jeder zweite Mensch Noten lesen und besaß ein Klavier“, sagt er. „Heute kann kaum noch jemand Musik lesen, der kein Musiker ist.“ Geht diese Entwicklung weiter, wäre das eine paradoxe Welt, „in der Literatur für eine Bevölkerungsmehrheit von Analphabeten existiert.“
Der Professor sieht einen gewissen Widerstand gegen die rasche Verbreitung von Musik, die durch KI erzeugt wurde. Er sieht Parallelen zum Kino, wo die Besucher die Verbreitung von CGI (insbesondere in den Marvel-Filmen) ablehnen und sich wieder Filmen mit echten Stunts und schauspielerischen Leistungen zuwenden (Top Gun und John Wick).
„KI zeigt uns die Grenzen auf, wie wir die Welt objektivieren“, sagt Richter und fügt hinzu, dass Kulturschaffende die westliche Musiktradition weiter fördern und nicht vor ihr zurückschrecken sollten.
„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Einzigartigkeit dieser Tradition hervorheben müssen, die einzigartigen Leistungen der Menschheit beim Erschaffen von Musik und dem Musizieren auf allen möglichen Ebenen“, sagt er.
„Die Menschheit ist enorm kreativ, belastbar und widerstandsfähig, und wir müssen an uns selbst als kreative Wesen und an unsere Vorstellungskraft glauben.“
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „Imagine If John Lennon Had Lived Past 1980: How AI Is Changing Our History“ (deutsche Bearbeitung mk)
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