Europas Stromnetz hängt am „kupfernen“ Faden

Europa hat kein gemeinsames Stromsystem, das bisherige ist 50 Jahre alt und hat lediglich die Funktion eines „Notfall-Unterstützungsnetzes“. Die Nachbarstaaten schotten sich gegenüber Deutschlands Energieideen ab – um die eigene, sichere Stromversorgung zu schützen.
Energieversorger und Stadtwerke geraten zusehends unter Druck. Das Stromnetz kommt an seine Grenzen.
Strommasten und Kraftwerke in Lingen, Emsland. Symbolbild.Foto: iStock
Von 17. Oktober 2022

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Vergleicht man das Stromnetz mit dem Gasnetz, dann erkennt man deutliche Unterschiede bei der Größe der verfügbaren Speicher. Während im Gasnetz der Bedarf über Monate aus den in Deutschland verfügbaren Speichern gedeckt werden könnte, reichen die Speicher im Stromnetz für lediglich 30 bis 60 Minuten.

Jedoch haben alle konventionellen Kraftwerke Energiespeicher in Form von Brennstäben, Kohlehalden sowie Gas- oder Öltanks unmittelbar vor Ort. Zudem hat man sehr gute Verfahren zur Vorhersage der Stromabnahme entwickelt und kann die Kraftwerksleistung entsprechend steuern. Aus diesem Grund waren im Stromsystem nur sehr geringe Speicher, meist in Form von Pumpspeicherkraftwerken, erforderlich, um die Frequenz stabil bei 50 Hertz zu halten. Infolge der reihenweisen Abschaltung zuverlässiger Kraftwerke hängt dieses System am sprichwörtlichen seidenen Faden.

Die Physik der Energiewende

Physikalisch bedingt müssen Stromerzeugung und Stromverbrauch in jedem Augenblick gleich sein. Die bisherigen Stromspeicher dienen in diesem System lediglich dazu, beispielsweise Prognosefehler bei der Stromabnahme auszugleichen.

Als Messgröße für diesen Ausgleich dient die Frequenz im Stromnetz (50 Hertz in Europa), die über die Drehzahl der Generatoren im Kraftwerk geregelt werden kann. Steigt der augenblickliche Strombedarf, werden die Generatoren stärker belastet. In der Folge sinkt deren Drehzahl – wie beim Auto am Berg – und man muss mehr „Gas geben“, um die Geschwindigkeit zu halten, beziehungsweise um die Frequenz wieder auf den Sollwert von 50 Hertz zu bringen.

Gerade die Unzuverlässigkeit der Stromerzeugung aus Wind und Sonne macht es sehr schwierig, diese als Basis für eine gesicherte Stromerzeugung zu nehmen.

Was ist die „gesicherte Leistung“?

Die Formulierung, „was machen wir, wenn keine Sonne scheint und kein Wind weht“ wird technisch beschrieben im Wert für die „gesicherte“ Leistung. Hierzu nimmt man eine Gruppe vergleichbarer Kraftwerke, beispielsweise Kernkraftwerke, Braun- und Steinkohlekraftwerke oder Gaskraftwerke. Schließlich ermittelt man, wie viel Prozent der installierten Leistung in jeder Minute des Jahres zur Verfügung steht.

Für die genannten Kraftwerkstypen sind dies rund 90 Prozent. Die restlichen zehn Prozent der Zeit werden Kraftwerke im Stromnetz beispielsweise gewartet oder haben Störungen. Sollte regelmäßiges Niedrigwasser in Flüssen die Versorgung zum Beispiel mit Steinkohle beeinflussen, würde dieser Wert absehbar kleiner werden.

Bei Photovoltaik ist die gesicherte Leistung Null Prozent, da nachts keine Sonne scheint. Die gesicherte Leistung von Wind-Onshore liegt bei ein Prozent und zwei Prozent bei Offshore-Anlagen.

Damit ist einfach nachvollziehen, dass es allein mit Windenergie und Photovoltaik niemals möglich sein wird, eine sichere Stromversorgung zu jedem Zeitpunkt und aus eigener Kraft in Deutschland zu ermöglichen.

Seit Beginn der Energiewende um 1990 ist es in Deutschland trotz Aufbau hoher Erzeugungskapazitäten aus Wind und Sonne zu jedem Zeitpunkt gelungen, mehr gesicherte Stromerzeugung im Land zu haben als den maximalen Strombedarf. Das heißt immer dann, wenn Wind und Sonne liefern konnten, wurde die konventionelle Erzeugung zurückgefahren. Andererseits konnten diese konventionellen Kraftwerke Deutschland auch dann zuverlässig versorgen, wenn die Erneuerbaren ausfielen.

Im Ernstfall fehlen bis zu 80 Prozent

Mit dem Ausstieg aus Kohle und Kernenergie werden jedoch genau diese gesicherten Erzeugungskapazitäten mit hoher Geschwindigkeit abgebaut. Eine Technologie, die diese Lücke zeitgleich schließen könnte, ist nicht erkennbar.

Insofern bleibt festzustellen, dass Deutschland – vorhersehbar – durch den gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle bis 2038 und Kernenergie bis Ende 2022 nicht mehr in der Lage ist, das eigene Land zu jedem Zeitpunkt sicher und aus eigener Kraft mit Elektroenergie zu versorgen.

Deutschland wird somit mehr und mehr darauf angewiesen sein, über den europäischen Strommarkt die Lücke zwischen dem Strombedarf und der Erzeugung im eigenen Land sicher und minutenscharf zu schließen.

Als große Industrienation wendet sich Deutschland somit von dem über 100 Jahre entwickelten und in allen anderen Industrienationen weiterhin praktizierten Grundsatz ab, dass die gesicherte Leistung der eigenen Stromerzeugung zu jedem Zeitpunkt größer als die Höchstlast, das heißt größer als der maximale Strombedarf, sein muss. Je nach Berechnungen fehlen im Winter 14 bis 65 Gigawatt (GW) Kraftwerkskapazität im Stromnetz. Zum Vergleich, die Höchstlast beträgt etwa 80 GW.

„Notfall-Unterstützung“ statt Dauerversorgung

Der Aufbau der Stromversorgung in Europa und Nordamerika begann vor mehr als 100 Jahren mit kleinen lokalen Versorgungsbereichen und sehr unterschiedlichen Netzspannungen. Zur Erhöhung der Versorgungssicherheit schlossen sich mehr und mehr dieser lokalen Kleinstnetze zu regionalen und später nationalen Mittel- und Hochspannungsnetzen zusammen.

Dabei wurde die Höhe der Spannungsebene jeweils im Bereich 100 bis 250 Kilovolt (kV) national festgelegt. Grenzüberschreitende Leitungen gab es bis Mitte der 1950er-Jahre nicht. Ende der 1960er-Jahre begann in Europa der Aufbau der Kernkraftwerke mit Blockleistungen von bis zu 1.300 MW. Dabei zeigte sich, dass für den wirtschaftlich optimierten Abtransport derartig hoher Leistungen von einem Einspeisepunkt die Einführung einer Spannungsebene oberhalb von 250 kV notwendig wurde.

Da dieses Problem in vielen Ländern Europas quasi gleichzeitig auftrat, wurde in den 1970er-Jahren der Aufbau eines grenzüberschreitenden europaweiten Höchstspannungsnetzes mit 380 kV vorangetrieben.

Um die Versorgungssicherheit in diesem europäischen Verbundnetz über die bisher nationalen Werte weiter zu erhöhen, sollten die Grenzkuppelleitungen so ausgelegt werden, dass der störungsbedingte Ausfall von bis zu zwei großen Kernkraftwerksblöcken in Grenznähe durch temporäre Energielieferungen aus dem Versorgungsnetz des Nachbarstaates ausgeglichen werden konnte. Das europäische Verbundnetz hat somit auch heute noch die Funktion eines „Notfall-Unterstützungsnetzes“ mit einer Transportkapazität von bis zu 3 GW pro grenzüberschreitender Leitung.

Diese Transportkapazität kann und wird auch genutzt werden, um in diesem Umfang elektrische Energie europaweit zu handeln. Das europäische Verbundnetz ist aber eben keine Kupferplatte, über die man riesige Leistungen zur temporären Versorgung ganzer Länder in Europa verschieben kann. Genau das aber benötigt Deutschlands Stromnetz in Zukunft immer dann, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht.

Zusammenbruch auf dem Balkan wegen Deutschland und Frankreich

Ein großer Störfall mit massiven Auswirkungen auf das europäische Verbundnetz ereignete sich am 8. Januar 2021. Durch die Abschaltung erster Kohlekraftwerke und weiterer Kernkraftwerke, sehr geringe Einspeisung aus Wind und Photovoltaik und eine hohe Stromabnahme war Deutschland nicht mehr in der Lage, diesen Bedarf aus dem eigenen Land zu decken und hat in großem Stil Leistung in Kohlekraftwerken in Bulgarien und Rumänien gekauft.

Auch Frankreich hatte ein Problem mit der gesicherten Leistung und hatte ebenfalls, ähnlich wie Spanien, in diesen Ländern gekauft. Somit wurden knapp 7.000 MW quer durch Europa transportiert und alle Elemente des Verbundnetzes auf dem Balkan waren extrem hoch belastet.

Durch Überlastung fiel eine Schaltanlage in Kroatien aus und dieser Stromfluss verteilte sich auf die angrenzenden Leitungen, was diese ebenfalls in die Überlastung trieb und abschaltete. Innerhalb einer Minute kam es dadurch zur Abschaltung aller 380 kV Leitungen auf dem Balkan, die die oben genannte 7.000 MW nach Deutschland, Frankreich und Spanien transportieren sollten.

Diese Systemauftrennung hatte auch massive Auswirkungen auf die Systemstabilität, also das minutenscharfe Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch. In Südosteuropa gab es nun wesentlich mehr Erzeugung als Last im Stromnetz. Die Frequenz als Maß für dieses Gleichgewicht schoss nach oben und es mussten zahlreiche Kraftwerke in kürzester Zeit abgeschaltet werden.

Im Nordwesten Europas war schlagartig zu wenig Erzeugung, die Frequenz sackte nach unten. Nur durch Aufbietung aller verfügbaren Reserven konnte eine Zwangsabschaltung von Verbrauchern auf ein Minimum reduziert werden. Im südöstlichen Teilnetz, maßgeblich in Rumänien, erlebten die Endkunden einen temporären Stromausfall. Die Abkopplung entsprach einer Leistung von rund 225 MW.

Ähnliche Fälle gab es 2006, als es einen Systemsplitt von der Nordsee zur Adria gab und bei dem es zu regionalen Stromausfällen in Süddeutschland und Frankreich kam, sowie 2004, als Italien einen längeren Stromausfall erlebte.

Energienetze nicht dafür ausgelegt

Aus diesen Beispielen sieht man eindeutig die Risiken, wenn europaweit Strom in einer Größenordnung in einem technischen System gehandelt wird, wofür dieses nicht geplant und gebaut wurde. Natürlich kann das europäische Verbundnetz weiterentwickelt und von der Leistungsfähigkeit angepasst werden. Dabei reicht es allerdings nicht, nur die Transportkapazität der Grenzkuppelleitungen zu erhöhen.

Natürlich müssten auch die jeweils nationalen 380-kV-Netze in den einzelnen europäischen Ländern angepasst werden, um Energiemengen von nationaler Größenordnung quer durch Europa zu transportieren.

Im Gegensatz zu allen anderen großen Industrienationen in Europa ist Deutschland das einzige Land, das sich auf dem Weg in eine Versorgungsstruktur befindet, in der das eigene Land nicht mehr aus eigener Kraft zu jedem Zeitpunkt versorgt werden kann. Daher ist das Interesse der deutschen Nachbarn eher gering, die eigene Netzstruktur für diesen deutschen Sonderweg umzubauen.

Diese Zurückhaltung gegenüber dem „German Way of Doing“ zeigte sich in den zurückliegenden zehn Jahren mit dem Aufbau der sogenannten Phasenschiebertransformatoren. Hierbei handelt es sich um ein spezielles Gerät, mit dem man den Stromfluss auf einer Leitung von 100 Prozent stufenlos auf Null Prozent herunterregeln kann. Auslöser für den Einbau dieser Transformatoren war der Aufbau regenerativer Erzeugung in Deutschland jenseits der Grundregeln einer sicheren Stromversorgung.

Problem beim Verursacher lassen: Nachbarländer schotten sich ab

Durch die deutsche Förderpolitik wurde etwa im Nordosten Deutschlands eine extreme Anzahl an Windkraftanlagen und großen PV-Anlagen geschaffen, die temporär zu einer massiven Überspeisung in diesem Stromnetz führt. Sollte ein derartiger Überschuss beispielsweise in Süddeutschland genutzt werden, müsste dieser über das deutsche 380 kV Netz von Nord nach Süd transportiert werden.

Nach den physikalischen Grundregeln würde eine solche Übertragung aber auch ihren Weg über das polnischen, tschechische, slowakisch, ungarische und österreichische Stromnetz suchen. Solche unerwarteten Transitflüsse durch die Netze der Nachbarn sind dort in höchsten Maße unerwünscht, denn sie gefährden dort die sichere Stromversorgung.

Deshalb haben inzwischen alle Nachbarländer Deutschlands ihre grenzüberschreitenden Leitungen mit den oben genannten Phasenschiebertransformatoren ausgerüstet, um derartig unerwünschte Stromflüsse auf Null zu begrenzen und das Problem „verursachergerecht“ in Deutschland zu belassen.

In diesem Fall müsste die gesamte regenerative Übererzeugung im deutschen Teil des 380-kV-Netzes transportiert werden. Dafür ist dieses jedoch bislang und auch auf absehbare Zeit nicht ausgebaut. Um dann eine Überlastung und Abschaltung von Leitungen zu vermeiden, würde der sogenannte Redispatch greifen. Das heißt, Kraftwerke im Nordosten, die aufgrund von Stromlieferverträgen ebenfalls nach Süden liefern, würden zwangsweise heruntergefahren werden, um Leitungsüberlastungen im Stromnetz zu vermeiden. Kraftwerke mit freien Reserven im Süden müssten hochgefahren werden, beides natürlich mit entsprechender finanzieller Kompensation.

Durch die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke und die geringen Wasserstände zur Belieferung der Kohlekraftwerke ist diese Redispatchfähigkeit in Süddeutschland derzeit jedoch ohnehin gering, verbunden mit deutlich erkennbaren Risiken für die Netzstabilität.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 66, vom 15. Oktober 2022.



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