Zeigt ein Graffiti einen verlorenen Tempel der Akropolis?
Die Akropolis von Athen ist eine der bekanntesten und meistbesuchten archäologischen Stätten der Welt. Doch der felsige Hügel und sein ikonischer Parthenon-Tempel halten immer noch neue Erkenntnisse bereit.
Eine davon ist die historische Detektivgeschichte über einen verlorenen Tempel an der Stelle des Parthenon, die mein Kollege Merle Langdon von der University of Tennessee und ich in einem Beitrag der Fachzeitschrift „American Journal of Archaeology“ festhielten. Alles begann mit der Entdeckung eines antiken Graffitis.
Das Graffiti eines Schafhirten
Das winzige Werk wurde auf einem Marmorfelsen in Vari, zwanzig Kilometer südöstlich von Athen, gefunden. Es gehört zu einer größeren Gruppe von mehr als 2.000 Graffitis, die griechische Schafs- und Ziegenhirten anfertigten. Diese entdeckte Merle Langdon in den vergangenen Jahren und untersuchte sie. Sie enthalten sowohl Text als auch Zeichnungen, die Schiffe, Pferde und erotische Szenen zeigen, und stammen aus dem 6. Jahrhundert vor Christus.
Bei dem neu entdeckten Werk handelt es sich um das grobe, in den Fels gehauene Graffiti eines Gebäudes. Obwohl die Details der Zeichnung nicht vollständig bekannt sind, kann sie aufgrund der Säulen und Stufen als Tempel identifiziert werden.
Um das Gebäude herum befindet sich eine griechische Inschrift mit der Aufschrift „An Hekatompedon … Mikonos“ – auf Deutsch: „Das 100-Fuß-Gebäude … von Mikon“. Zu der Person namens Mikon ist in der Archäologie und antiken Geschichte nichts weiter bekannt. Am wahrscheinlichsten ist es daher, dass Mikon ein Hirte war und das Graffiti während des Hütens seiner Tiere anfertigte. Die verwendete Version des griechischen Alphabets ist sehr alt und macht deutlich, dass die Zeichnung aus dem 6. Jahrhundert vor Christus stammt.
Doch was hat es mit dem Begriff „Hekatompedon“ auf sich?
Der verlorene Tempel
Dieses Wort ist von großer archäologischer Bedeutung, denn es heißt übersetzt „100-Füßer“ und bezieht sich auf ein Bauwerk von enormer Größe. Hekatompedon ist außerdem der offizielle antike Name des Parthenon – jenem berühmten Tempel, der der griechischen Göttin Athene geweiht war. Athene gilt nicht nur als Göttin der Weisheit, sondern ist auch Namensgeberin und Schutzgöttin der griechischen Hauptstadt.
Es ist also wahrscheinlich, dass Mikon ein Gebäude auf der Akropolis von Athen abbilden wollte. Da das von ihm verwendete Alphabet im 6. Jahrhundert vor Christus (599–500 v. Chr.) verwendet wurde, muss die Zeichnung mindestens 50 Jahre älter sein als der Parthenon, dessen Bau erst um 450 vor Christus begann.
Der Parthenon mag ein sehr alter Tempel sein, aber er war nicht der Erste. Archäologen gehen seit Langem davon aus, dass auf der Akropolis noch ältere Tempel gestanden haben, obwohl Daten, Aussehen und genaue Lage auf dem Hügel umstritten sind. Hinzu kommt ein – aus griechischer Sicht – historisches Unglück: 480 vor Christus zerstörten die einfallenden Perser im Krieg gegen Griechenland viele Gebäude in Athen – auch jene auf der Akropolis.
Das Akropolismuseum in Athen beherbergt große zerbrochene Skulpturen, die Szenen aus der griechischen Mythologie darstellen. Diese waren einst Teil der Tempeldekoration, wurden aber zu einem unbekannten Zeitpunkt schwer beschädigt.
Könnte das Graffiti also einen verlorenen, 100 Fuß (circa 30 m) großen Tempel und damit den Vorläufer des heutigen Parthenon zeigen?
Ein Ort voller Schätze?
Ein wichtiger Teil des Rätsels ist ein altgriechisches Dekret aus der Zeit vor dem persischen Angriff und vor dem Bau des Parthenon. In dieser Schrift wird auch ein Hekatompedon auf der Akropolis erwähnt, der zur „Schatzaufbewahrung“ genutzt wurde. Das Dekret ist schon seit Langem bekannt, aber Historiker stritten darüber, was das darin erwähnte Hekatompedon gewesen sein könnte.
Einige glauben, dass es sich um einen Tempel handelte, da griechische Tempel normalerweise zur Aufbewahrung von Schätzen dienten, die den Göttern geopfert wurden. Viele andere sind jedoch der Meinung, dass sich das Wort Hekatompedon gar nicht auf einen Tempel beziehen kann, sondern dass es sich um einen offenen Hof auf der Akropolis gehandelt haben muss.
Das Graffiti von Mikon könnte daher Aufklärung bringen. Wenn Mikon seinen gezeichneten Tempel als Hekatompedon bezeichnete, dann ist es wahrscheinlich, dass sich der Begriff im Dekret ebenfalls auf einen Tempel bezog.
Auch wenn das Gebäude von Mikon verschwunden ist, könnten einige der Tempelskulpturen im Parthenon-Museum zu ihm gehören. Da beide Gebäude an der Stelle standen beziehungsweise stehen, wäre dies zumindest möglich.
Graffiti beweist: Hirten konnten lesen und schreiben
Die Inschrift ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie zeigt, dass einfache Hirten – anders, als man normalerweise annimmt – schon zu dieser Zeit lesen und schreiben konnten. Dabei war in dieser frühen Zeit die Alphabetisierung Griechenlands noch nicht weit fortgeschritten. Warum die Hirten so viele Graffitis anbrachten, ist nicht bekannt – vielleicht war es einfach eine Form der Flucht in den langweiligen Momenten ihrer Arbeit.
Das Graffiti zeigt aber, dass auch ein kleines Gekritzel abseits großer Metropolen der Schlüssel zu großen historischen Rätseln berühmtester archäologischer Stätten sein kann.
Über den Autor:
Janric van Rookhuijzen ist ein klassischer Archäologe und Postdoktorand der Universität Radboud, Niederlande. Im Rahmen eines Forschungsstipendiums der deutschen Gerda Henkel Stiftung erforscht er derzeit die Symbolik, Archäologie und Rezeptionsgeschichte der Akropolis von Athen, insbesondere des Parthenon und seiner Vorgänger sowie des Tempels der Athena Polias.
Dieser Artikel erschien im Original auf theconversation.com unter dem Titel „Shepherd’s graffiti sheds new light on Acropolis lost temple mystery – new research“. (Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Redaktionelle Bearbeitung kms)
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