Weit gereiste Europäer statt blonde Skandinavier: Heutige Vorstellungen über Wikinger stammen eher aus Filmen
Geschichtsbücher lehrten einst, dass die Wikinger blonde, großgewachsene, furchterregende Eindringlinge, Piraten und Krieger waren. Auf dem Seeweg reisten sie vom heutigen Skandinavien aus mit ihren Langbooten über die (sieben) Weltmeere, um zu plündern und zu überfallen.
Doch unsere heutigen Vorstellungen über die Wikinger stammen sehr wahrscheinlich eher aus Filmen als aus der Geschichte, wie eine aktuelle Studie in dem Fachblatt „Nature“ zeigt.
In einem sechsjährigen Forschungsprojekt, geleitet von Professor Eske Willerslev der Universität Cambridge, hinterfragte ein internationales Team von Wissenschaftlern das moderne Bild der Wikinger. Professor Eske Willerslev erklärt:
Wir haben dieses Bild von gut organisierten Wikingern, die gemeinsam Handel trieben und auf Raubzüge gingen, um Könige in ganz Europa zu bekämpfen, aus Fernsehen und Büchern. Genetisch gesehen konnten wir nun zum ersten Mal zeigen, dass ihre Art von Welt eine völlig andere war. Diese Studie verändert die Wahrnehmung dessen, wer ein Wikinger tatsächlich war.“
Zeitalter der Erforschung
Das Wort Wikinger stammt von dem skandinavischen Begriff „vikingr“, was „Pirat“ bedeutet. Die Wikingerzeit beginnt im allgemeinen rund 800 n. Chr. und somit einige Jahre nach dem frühesten dokumentierten Überfall. Nach fast 300 Jahren mit Handel, Reisen und Überfällen endete ihre Ära kurz vor der normannischen Eroberung Englands von 1066.
Während dieser Zeit veränderten die Wikinger den politischen und genetischen Lauf Europas und darüber hinaus. So wurde beispielsweise Knut (ein Wikinger) der Große König von England. Zudem soll Leif Eriksson der erste Europäer gewesen sein, der Nordamerika erreichte – 500 Jahre vor Christoph Kolumbus. Olaf Tryggvason wird außerdem zugeschrieben, das Christentum nach Norwegen gebracht zu haben.
Oft gelten Raubzüge in Klöstern oder Städten als Expeditionen der Wikinger. Dabei war der Handel mit Waren wie Pelzen, Stoßzähnen und Robbenfett meist das ursprünglichere Ziel. Und auch die Wikinger kamen aus aller Herren Länder. Eske Willerslev:
Wir wussten genetisch bis jetzt nicht, wie die Wikinger tatsächlich aussahen. Wir fanden genetische Unterschiede zwischen den verschiedenen Populationen innerhalb Skandinaviens […] und widerlegten sogar das moderne Bild von Wikingern mit blonden Haaren.“
Weit gereiste Europäer statt blonde Skandinavier
Zu Beginn des Forschungsprojektes extrahierten und analysierten die Forscher DNA aus Knochen und Zähnen von 442 Männern, Frauen und Kindern. Die Toten aus den Gräbern waren archäologischen Untersuchungen zufolge alle im wikingerzeitlichen Stil bestattet worden. So reichten die Funde von riesigen Bootsgräbern in Estland bis hin zu kleineren Gräbern in Großbritannien, Grönland und Asien.
Bei ihren Untersuchungen stellten die Wissenschaftler unter anderem fest, dass der Anteil an nicht skandinavischen Genen wesentlich höher ist als bisher bekannt.
Die Wikinger hatten viel mehr Gene aus Süd- und Osteuropa, als wir erwarteten. Sie hatten häufig Kinder mit Menschen aus anderen Teilen der Welt. Tatsächlich neigen sie auch dazu, eher dunkelhaarig als blond zu sein.“
Bauern haben die Bronzezeit verpasst
Weiterhin zeigen die Ergebnisse, dass es regionale Unterschiede bei den Reisen der Wikinger gab. Menschen aus dem heutigen Norwegen zogen eher nach Irland, Schottland, Island und Grönland, während die Wikinger aus dem heutigen Dänemark nach England reisten. Wikinger aus dem heutigen Schweden reisten hingegen in die baltischen Länder.
„Die Wikinger aus diesen drei ‚Nationen‘ vermischten sich jedoch nur sehr selten genetisch. Vielleicht waren sie Feinde oder vielleicht gibt es eine andere vernünftige Erklärung. Wir wissen es einfach nicht“, erklärt Ashot Margaryan, Mitverfasser der Studie.
Alles in allem waren die Wikinger genetisch vielfältiger als die bäuerlichen Gesellschaften.
„Die Wikinger lebten in Küstengebieten. Genetisch gesehen waren sie ein völlig anderes Volk als die bäuerlichen Gesellschaften, die weiter im Landesinneren lebten. Die Bewohner des Festlandes hatten viel weniger mit den Wikingern gemeinsam als die Bauern, die vor Tausenden von Jahren in Europa lebten. Man könnte fast sagen, dass die Bauern genetisch gesehen die gesamte Bronze- und Eisenzeit verpasst haben“, ergänzte Margaryan.
Von Beruf Wikinger
Die Analyse ergab außerdem, dass Pikten zu Wikingern „wurden“, ohne sich genetisch mit Skandinaviern zu vermischen. Die Pikten waren keltisch sprechende Menschen, die während der späten britischen Eisenzeit und des frühen Mittelalters im heutigen Schottland lebten.
Diese Menschen nahmen vermutlich im Laufe der Zeit den Lebensstil oder den Beruf als seefahrende Händler oder Räuber an. Dies zeigt sich besonders gut an einem Grab in Schottland: ein Wikinger von außen, ein Schotte von innen. So konnten die Forscher beweisen, dass der Tote genetisch aus England stammt, aber mit Schwertern und anderen Wikinger-Erinnerungsstücken begraben wurde.
Dieses Phänomen trat in weiteren Fundstätten in Norwegen auf. Hier lagen mehrere Personen als Wikinger begraben, ihre Gene identifizierten sie jedoch als Saami, eine indigene Gruppe, die den Ostasiaten und Sibiriern genetisch näher steht als den Europäern.
„Diese Identitäten sind nicht genetisch oder ethnisch, sie sind sozial“, sagte die Archäologin Cat Jarman.
Familientragödie in Estland und ein weit entferntes Wikinger-Band
Dass Reisen nicht immer positiv enden mussten, zeigen zwei Bootsgräber aus Estland. 2008 entdeckten Arbeiter bei Bauarbeiten an einem abgelegenen Strand in der Nähe der Stadt Salme die Skelette von mehr als 40 kräftig gebauten Männern. Diese wurden um 750 n. Chr. mitsamt ihren Waffen und Schätzen in zwei Schiffen nach typischem Wikinger-Stil begraben. Offenbar sind diese Bestattungen die Nachwirkungen eines missglückten Überfalls.
Erst ein Blick in die DNA der Toten liefert ein genaueres Bild: „Mindestens fünf der Wikinger in diesem Grab sind eng miteinander verwandt. Vielleicht haben Sie einfach Ihre Familie mitgenommen, als Sie auf einen Raubzug gingen“, erklärt Willerslev.
„Die übrigen Insassen des Bootes waren genetisch ähnlich, was darauf hindeutet, dass sie alle wahrscheinlich aus einer kleinen Stadt oder einem Dorf irgendwo in Schweden stammten“, sagte Margaryan.
Wikinger wurden jedoch nicht immer ermordet; an anderen Orten erging es ihnen besser. So konnten die Wissenschaftler zwei männliche Verwandte an zwei unterschiedlichen Orten identifizierten: einem in Dänemark und einen in England.
Professor Søren Sindbæk vom Moesgaard-Museum in Dänemark erläutert:
Die skandinavischen Auswanderer etablierten Handel und Siedlungen, die sich vom amerikanischen Kontinent bis in die asiatische Steppe erstreckten. Sie exportierten Ideen, Technologien, Sprache, Überzeugungen und Praktiken und entwickelten neue sozio-politische Strukturen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die ‚Wikinger‘-Identität nicht auf Menschen mit skandinavischer Herkunft beschränkt war.“
Komplettes Mysterium noch nicht gelöst
Die neue Studie trägt nicht nur zum Überdenken und Ablegen des bisherigen Bildes der Wikinger und einer Aktualisierung der Geschichtsbücher bei, sondern bietet auch eine Reihe neuer Diskussionsansätze für die Forschungswelt.
Andere Rätsel bleiben weiterhin bestehen. So lieferten die Wikinger-Siedlungen in Amerika bislang keine Knochen, sodass die Identität der ersten europäischen Siedler in Amerika ein Rätsel bleibt.
„Einige Forscher waren der Meinung, dass wir im Norden die Tendenz haben, die Wikingerzeit überzubewerten, weil es unsere eigene und sehr spezifische Geschichte ist. Mit dieser neuen Studie können wir jedoch zeigen, dass die Wikingerzeit tatsächlich etwas Besonderes war. Die Wikinger hatten viele südeuropäische Gene und waren sehr wahrscheinlich Teil eines viel umfassenderen kulturellen Austauschs mit dem Rest der Welt als jede zeitgenössische Bauerngesellschaft“, so Eske Willerslev.
Fest steht allerdings: Der Mythos und das genetische Erbe der Wikinger leben weiter. Noch heute tragen sechs Prozent der Menschen in Großbritannien die Wikinger-DNA in ihren Genen – in Schweden sind es dagegen nur 10 Prozent.
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