„Substanz der Industrie bedroht“: Energiepreise treiben Mittelstand zu Produktionsstopp

Die hohen Energiepreise machen den Standort Deutschland zunehmend unattraktiv. Der weltgrößte Stahlkonzern ArcelorMittal schaltet vorerst zwei Anlagen ab. Im Mittelstand schließen einige aufstrebende Unternehmen zum Teil vollständig oder planen die Flucht ins Ausland.
Steigende Energiepreise könnten energieintensive Unternehmen ins Ausland zwingen.
Steigende Energiepreise zwingen Unternehmen zum Umzug oder zur Aufgabe.Foto: iStock
Von 6. September 2022

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Bereits vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges und der daraus entstandenen Gaskrise waren die Energiepreise in Deutschland im weltweiten Vergleich auf höchstem Niveau. Nun droht ein Ausmaß, das an die Grenzen der Resilienz des Produktionsstandortes geht.

Immer mehr mittelständische Unternehmen stellen temporär oder dauerhaft die Produktion ein. Einige denken an eine Abwanderung ins Ausland. Mittlerweile sehen sich sogar Weltkonzerne von den hohen Preisen beeinträchtigt.

Bayern: 14 Prozent aller Betriebe schränken Produktion ein

Wie das „Manager-Magazin“ berichtet, wird der weltgrößte Stahlkonzern ArcelorMittal als Reaktion auf die hohen Energiekosten mit Beginn des vierten Quartals an zwei Standorten Anlagen abschalten – „vorübergehend“, wie es hieß. Die Entscheidung betrifft einen von zwei Hochöfen am Flachstahlstandort Bremen und die Direktreduktionsanlage in Hamburg. An den Standorten Duisburg und Eisenhüttenstadt gibt es bereits jetzt Kurzarbeit.

Derzeit beschäftigt der Konzern etwa 8.500 Menschen in Deutschland. Als energieintensive Branche leidet die Stahlindustrie neben hohen Energiekosten auch an steigenden Rohstoffpreisen und den Kosten des CO₂-Zertifikatehandels.

Unterdessen sind auch in Bayern bereits 14 Prozent der Industriebetriebe gezwungen, ihre Produktion zurückzufahren oder Geschäftsbereiche aufzugeben. Das meldet der „BR“ unter Berufung auf das aktuelle Energiebarometer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags (BIHK).

Zudem habe erst die Hälfte der Betriebe ihren Gasbedarf für den bevorstehenden Winter über Verträge gedeckt. Drei Viertel seien zudem nicht für den Fall eines Gas-Lieferstopps abgesichert. Das stellt BIHK Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl warnend fest. Jedes fünfte Unternehmen plant ihm zufolge, Kapazitäten ins Ausland zu verlagern oder hat das bereits getan.

Zwei Weltkriege Corona überlebt – durch Energiepreise gescheitert

Betriebsstilllegungen werden unterdessen auch aus anderen Bundesländern gemeldet. Im thüringischen Triptis schließt zum Jahresende der Porzellanhersteller Eschenbach mit 100 Mitarbeitern. Nach zwei Insolvenzen hatte sich das Unternehmen seit 2005 dauerhaft stabilisiert. Nach den coronabedingten Einschränkungen konnte der Betrieb wieder volle Auftragsbücher aus Hotellerie und Gastronomie verzeichnen. Die Gaspreisentwicklung bedeutet jedoch das Aus für das Traditionsunternehmen – nach über 140 Jahren.

In Sachsen-Anhalt hat der Phosphatdüngemittelproduzent Seraplant im Südhafen von Haldensleben Insolvenz angemeldet. Und das nur ein Jahr nach Inbetriebnahme der Produktionsstätte, die auf der Grundlage einer innovativen Recycling-Technologie funktionierte. Zumindest vorläufig hat zum 1. September auch der führende Tondachziegelhersteller Nelskamp an seinen drei Standorten die Produktion eingestellt. Für mehr als 300 Mitarbeiter bedeutet dies das Eintreten in die Kurzarbeit.

Die Einkaufspreise für Gas hätten sich im Zweijahresvergleich um den Faktor 16 und die für Strom um den Faktor 15,5 verteuert, heißt es von Nelskamp. Ab Oktober kommen zusätzliche Umlagen ins Spiel. Diese extremen Umstände sorgen dafür, dass die Betriebe zukünftige Kosten nicht zuverlässig kalkulieren könnten, hieß es in einer Erklärung.

In dieser benennt das Unternehmen auch Verantwortliche für die Entwicklung: „Das sind die Folgen der Energiepolitik, die Gas und Strom künstlich verknappt und damit die gegenwärtig untragbare Preisexplosion herbeigeführt hat.“

Mittelstand wirft Politik Versagen vor

Marc S. Tenbieg, der Geschäftsführende Vorstand des Deutschen Mittelstandsbundes (DMB), spricht gegenüber der „Berliner Zeitung“ von „düsteren“ Geschäftsaussichten bei vielen Unternehmen. Bereits zehn Prozent der vom DMB befragten Geschäftsführer sprachen von Existenzsorgen.

„Das Vertrauen in die wirtschaftliche Krisenkompetenz der Bundesregierung schwindet und insbesondere KMU fühlen sich von der Politik alleingelassen“, erklärte Tenbieg. „Die hohen Energiepreise ziehen immer deutlichere Spurrillen in die Unternehmenslandschaft kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland. Die Preissensibilität der Verbraucher lässt es kaum noch zu, Mehrkosten mit Produktpreiserhöhungen auszugleichen.“

Insgesamt bescheinigten 95 Prozent der befragten Unternehmen mit Einzelbetrieben bis zu 500 Mitarbeitern den politischen Verantwortlichen eine mangelhafte bis ungenügende Entlastung für den Mittelstand. Rund 73 Prozent der befragten Mitgliedsunternehmen gaben an, von den derzeitigen Energiepreisen stark bis sehr stark belastet zu sein. Dazu kämen in 48 Prozent der Fälle deutlich gestiegene Lohnforderungen vonseiten der Belegschaft, die ebenfalls unter den Folgen der Preisexplosion zu leiden habe.

Am Rande der jüngsten Kabinettsklausur in Meseberg räumte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck gegenüber der „Financial Times“ ein, dass es im Bereich der Industrie nicht nur zu einer Umstrukturierung kommen könnte, sondern zu einem „Strukturbruch, der unter enormem Druck geschieht“. Auch die „Berliner Zeitung“ schreibt unter Berufung auf Unternehmerkreise, dass einige Unternehmen bereits konkrete Vorbereitungen für eine Verlagerung der Produktion ins Ausland träfen.

FDP-Politiker: Politisch herbeigeführte Preisexplosion schafft Innovationsdruck

Scharfe Kritik an der Energiepolitik der Bundesregierung und an den Russland-Sanktionen kommt unter anderem aus der AfD. Deren Magdeburger Stadtrat Ronny Kumpf erklärte auf Instagram: „Erst wenn der letzte Produktionsbetrieb geschlossen, der letzte Spargroschen außer Landes geschafft und das letzte Regal leer ist, werdet ihr merken, dass man ‚Moral‘ und ‚Werte‘ nicht essen kann.“

Deutlich entspannter sieht die Lage hingegen Uwe Probst, der stellvertretende Vorsitzende des Landesfachausschusses „Nachhaltigkeit durch Innovation“ der FDP Bayern und frühere Kandidat für das EU-Parlament. Er geht davon aus, dass ein gutes Produkt in der Lage ist, sich auch zu einem Vielfachen des Preises auf dem Markt zu behaupten.

Auf Facebook äußert er: „Wenn das Produkt gut ist, dann sollen sie die gestiegenen Produktionskosten auf den Verkaufspreis draufschlagen. Wird es dann nicht mehr verkauft, dann ist die Nachfrage zu niedrig.“

Auch eine durch politische Interventionen herbeigeführte Vervielfachung der Produktionskosten ist aus seiner Sicht mit der „Idee von Marktwirtschaft“ vereinbar. Auf diese Weise werde nämlich „verhindert, dass Produkte erzeugt werden, für die es zu wenig Nachfrage gibt“. Individuell möge dies „schmerzhaft“ sein. „Die Gesellschaft hat aber dadurch den Vorteil, dass ein Innovationsdruck geschaffen wird.“



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