Die deutsche Industrie steht auf dem Spiel
In den vergangenen Wochen machte vermehrt das Schlagwort der „Deindustrialisierung“ in Deutschland die Runde. Ein Wegzug von weiten Teilen der Industrie, die seit dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Wiederaufbau ein verlässliches Rückgrat der deutschen Wirtschaft bildete, würde laut Experten mit anhaltenden Wohlstandsverlusten im Land einhergehen.
Industrielle Betriebe und deren Zulieferer, allen voran in den Bereichen Energie, Chemie, Fahrzeuge und Maschinen, erwiesen sich über die letzten Jahrzehnte nicht nur als die mit größten Arbeitgeber, sondern auch als zuverlässigste Quelle der staatlichen Steuereinnahmen und Innovationen.
Wohin zieht die Industrie?
Anders als eine Reihe von anderen westlichen Industrienationen wusste sich Deutschland seine industrielle Struktur als Motor der heimischen Wirtschaft zu bewahren – bis heute. Die USA setzten spätestens seit der Jahrtausendwende verstärkt auf eine Auslagerung von industriellen Produktionskapazitäten samt Arbeitsplätzen nach China, Südostasien oder Mexiko.
Die enorm gestiegenen Preise im Energiebereich, allen voran die anhaltende Rekordjagd der Erdgas- und Strompreise, bringen dieses Gerüst nun ins Wanken. Denn mehr und mehr wird ersichtlich, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu einem guten Teil von der Veredelung günstiger Energie aus der Russischen Föderation – wie zuvor schon während des Kalten Krieges aus der inzwischen untergegangenen Sowjetunion – abhängig ist.
Auf welche Weise sich die immense Verteuerung der Energiepreise auf die Aktivitäten in der deutschen Wirtschaft auszuwirken droht, lässt sich beispielsweise anhand der in den letzten Monaten publizierten Handelsdaten ablesen. Trotz einer auf Talfahrt befindlichen Euro-Währung ist der Exportweltmeister Deutschland international ins Straucheln geraten.
Einerseits mag der extrem schwache Euro Unterstützung dabei leisten, die Auftragsbücher in der deutschen Industrie zu füllen. Andererseits hat die Währungsschwäche auch eine Kehrseite der Medaille. Denn auf Basis des US-Dollars fakturierte Rohstoffe verteuern sich durch die Schwäche des Euros noch mehr. Ebenso klettern die Einfuhrpreise für andere Vorprodukte.
Auf die heimische Inflation hat diese Entwicklung schwerwiegende Auswirkungen, wenn bedacht wird, dass die Produzentenpreisinflation in Deutschland zuletzt um 37 Prozentpunkte höher als in derselben Periode des Vorjahres lag.
Werden die negativen Effekte aus einer viel zu hohen Inflation, einem sich parallel in vielen Branchen verschärfenden Arbeitskräftemangel, dem sich unter immer mehr Arbeitnehmern ausbreitenden Phänomen einer inneren Kündigung (Stichwort: sinkende Produktivität) und der extrem hohen Energiepreise also zu einer erhöhten Wegzugbereitschaft unter bislang in Deutschland beheimateten Industrieunternehmen führen?
Es sieht zumindest danach aus. Unter den Konzernen, die sich jüngst mit einer Abwanderung aus Deutschland beschäftigt haben, gehören beispielsweise auch Infineon, Oetker oder TDK Electronics (EPCOS). Allerdings, so das „Handelsblatt“, erweise sich eine komplette Aufgabe des Unternehmenssitzes in Deutschland nicht nur als kompliziert, sondern auch als teuer.
Morgan Stanley warnte vor globaler Rezession
Wie dem auch sei, letzten Endes handelt es sich aus unternehmerischer Sicht im Fall von solchen Erwägungen und Entscheidungen um pure Kosten-Nutzen-Abschätzungen. Denn verändern sich neben dem Umfeld auch die Bedingungen an einem wirtschaftlichen Standort auf eine solch dramatische Weise wie zurzeit in Deutschland, so wird die Standorttreue auf eine schwerwiegende Probe gestellt.
Zugute lässt sich aus Sicht des deutschen Standorts halten, dass die ökonomische Entwicklung in vielen anderen Teilen unserer Welt auch nicht viel besser aussieht. China mag mit weitaus geringeren Arbeitslöhnen locken, setzt jedoch Teile seiner heimischen Wirtschaft großen und unabsehbaren Gefahren aufgrund der sich fortsetzenden „Null-COVID-Strategie“ der Pekinger Regierung aus.
Während weite Teile der Nordhalbkugel, allen voran der Mittlere Westen und Westen der USA, die südeuropäischen Länder sowie China unter bislang ungeahnten Dürren und einem dadurch mitverursachten Energiemangel leiden, warnte die US-Großbank Morgan Stanley kürzlich vor dem Aufziehen einer globalen Rezession.
Es stellt sich aus diesem Blickwinkel die Frage, wo und ob es noch Nationen auf unserer Erde gibt, die gegenüber westlichen Industrieländern über exorbitante – und einen Unterschied ausmachende – Standortvorteile verfügen, zumal auch die Löhne und Gehälter in China im Verlauf der letzten Jahre aufgrund einer stark zunehmenden Arbeitskräftenachfrage fast nur noch den Weg nach oben kannten.
Japan setzt auf neue Kernkraftwerke
Eine wachsende Anzahl Experten warnt vor dem schleichenden Prozess einer Deindustrialisierung in Deutschland, der ab einem bestimmten Zeitpunkt deutlich an Fahrt aufnehmen könnte.
Mit Hauptgrund hierfür ist die Energiepolitik der deutschen Bundesregierung, heißt also eine überhastete Fokussierung auf alternative Energieformen wie Wind und Solar, die bis dato nicht die in sie gesetzten Hoffnungen zu rechtfertigen wussten.
Wachsende Zweifel an der Energiewende kommen mittlerweile in weiten Teilen der Welt auf, was ausgerechnet in dem durch die Fukushima-Katastrophe heimgesuchten Japan jüngst zur Ankündigung einer verstärkten Rückwendung zum Bau von Atommeilern geführt hat.
Die angesichts des Einmarschs von russischen Truppen in die Ukraine verhängten Sanktionen der G7-Nationen gegenüber der Moskauer Kreml-Regierung haben ihren eigenen Beitrag zu einer Verschärfung der Energiekrise geleistet. Denn insbesondere Deutschland und die Länder der Europäischen Union sehen sich nun von zuvor günstigen Energielieferungen durch die Russische Föderation abgekoppelt.
Kaum ein Wunder also, dass die Erdgas- und Strompreise in den vergangenen Wochen an den europäischen Börsen von einem Rekordhoch zum nächsten geeilt sind. Der Moskauer Kreml scheint sich darüber im Klaren zu sein, Energielieferungen seinerseits als Waffe gegen Deutschland und Europa einsetzen zu können, so dies aus russischer Sicht notwendig werden sollte.
Ein Drittel der Industrie hat Energiepreisprobleme
Interessant liest sich eine am 25. Juli veröffentlichte Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Aus dieser geht hervor, dass sich zum Stichtag bereits sechzehn Prozent der deutschen Industriebetriebe zu einer Senkung der eigenen Produktion aufgrund der hohen Energiepreise gezwungen sahen.
Entscheidungen zu einer zunehmenden Aufgabe von Geschäftssparten stünden unter den befragten Unternehmen danach inzwischen auf der Tagesordnung. Energieintensive Unternehmen, die unter anderem in der Glas-, Chemie-, Stahl-, Aluminium- und Zinkindustrie verortet sind, sehen sich in einem noch stärkeren Ausmaß betroffen. Dort liegt der Anteil unter Bezugnahme auf den DIHK bereits bei 32 Prozent.
Gut ein Viertel der befragten Unternehmen in energieintensiven Branchen habe zudem nicht nur die eigene Produktion gedrosselt, sondern zudem auch bestimmte Unternehmensteile ins Ausland verlagert.
Die Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung (https://akademie-bergstrasse.de/deindustrialisierung) dokumentiert die beginnende Deindustralisierung und betroffene Unternehmen wie Kostal (E-Automobilzulieferer), Hellma Materials (Chip-Zulieferer), Delkeskamp (Papierfabrik), die Otto Fuchs Gruppe (Aluminium), die Brauerei Bischoff (Bier) oder den Düngemittelhersteller SKW. Was bedeutet die sich abzeichnende Deindustrialisierung konkret?
Angenommen die SKW Düngemittelwerke in Piesteritz würden ihre Produktion zum 1. Oktober aussetzen, wie wegen der erhöhten Energiepreise durch die Gasumlage der Ampel-Koalition befürchtet. Dem Werk drohen monatliche Zusatzzahlungen von 30 Millionen Euro allein für die Gasumlage, was finanziell kaum stemmbar wäre.
Zunächst würden 860 Arbeitsplätze wegfallen, Zulieferbetriebe müssten ausweichen oder ihren Betrieb ebenfalls pausieren. Das bedeutet auch: Die Arbeitslosigkeit in der Region steigt, der Einzelhandel in der Region würde noch weiter einbrechen, andere Branchen mitgerissen, bis hin zur Gastronomie. Möglicherweise wäre sogar die weitere wirtschaftliche Existenz des gesamten Agro-Chemieparks mit 1.700 Mitarbeitern bedroht.
Es fällt gewiss nicht schwer sich vorzustellen, dass sich für die hiervon betroffenen Regionen in Deutschland eine ernst zu nehmende Strukturfrage stellen wird. Denn die Steuereinnahmen aus dem Unternehmen werden dringend benötigt, da sich das Werk als einer der größten regionalen Gewerbesteuerzahler erweist. Wegbrechende Steuereinnahmen brächten wiederum die Gemeindefinanzen, ohnehin bereits vielerorts in Deutschland in Schieflage, ins Schlingern.
Bei einer Stilllegung wäre die Grundstoffindustrie betroffen, die Auswirkungen sind kaum überschaubar. Erwähnt sei, dass SKW zu den Hauptherstellern von AdBlue in Deutschland gehört.
Ohne AdBlue bewegt sich kein Diesel-Lkw. Entweder haben die Speditionen genug davon gebunkert oder sie müssten anderswo – vermutlich teurer – einkaufen. Was ein Rückfahren des Frachttransportes allein bei Nahrungsmitteln oder Obst und Gemüse bedeutet, weiß jeder, der im Supermarkt ein leeres Regal anschaut. Zumal überdies die Frage im Raum steht, ob Supermärkte ihre Kühlregale im Falle eines Mangels noch weiter werden betreiben können.
Gleichzeitig wird die Land- und Agrarwirtschaft mitgerissen. Denn das Werk Piesteritz ist einer der wichtigsten Düngemittelhersteller in Deutschland. Ohne Stickstoffdünger gehen die Ernten zurück oder verteuern sich noch mehr, wenn Landwirte Düngemittel von anderswo zukaufen müssen.
Hinzu kommt eine ungewisse Ölversorgungslage
Dass sich die Ölversorgungslage ab Dezember – dann nämlich, wenn das Rohöl-Embargo der Europäischen Union gegenüber Russland in Kraft treten wird – zusätzlich verschlechtern wird, steht für Energiemarktexperten außer Frage. Hingewiesen sei hier auch auf die Öl-Raffinerie im brandenburgischen Schwedt. Dass der Nachbar Polen der deutschen Raffinerie nun Erdöl-Lieferungen verweigert, erweise sich aus Sicht von Schwedt als ein Albtraum.
Um die Auswirkungen aus dem seitens der EU beschlossenen Erdölembargo abzufedern, arbeiten die G7-Staaten unter Federführung der amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen zurzeit an einer sogenannten Ölpreisobergrenze.
Das heißt, dass die Erdölnachfrager in den westlichen Industrieländern der Russischen Föderation ihre Öl-Verkaufspreise mittels einer Kappung ihrer Abnahmepreise zu diktieren versuchen. Ob das funktionieren wird? Analysten der amerikanischen Großbank JPMorgan haben daran große Zweifel.
Bei JPMorgan wurde vor einigen Wochen davor gewarnt, dass die Russische Föderation in einem solchen Fall ihre Rohölförderung drosseln dürfte – und zwar um zwei bis 5 Millionen Fass pro Tag. Ergebnis wäre, dass die internationalen Erdölpreise auf 150, 200 oder gar 380 US-Dollar pro Fass steigen könnten. Russland hat inzwischen mitgeteilt, ab dem kommenden Jahr eine eigene Öl-Referenzsorte zu lancieren.
Wovon will Deutschland künftig leben?
Sollte diese Entwicklung anhalten, so stellt sich automatisch die Frage, wovon Deutschland in der Zukunft zu leben gedenkt, welche wirtschaftlichen Alternativen sich zu einer im Land an Fahrt aufnehmenden Deindustrialisierung böten und ob das Geschäftsmodell, das Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs seinen ökonomischen Erfolg bescherte, nicht auf dem Spiel steht.
Die sich hieraus ableitenden Konsequenzen werfen ihre Schatten voraus. Es handelt sich um einkommensschwache Haushalte, die ihre Energierechnungen nicht mehr begleichen können. Hinzu kommen weite Teile des Mittelstandes, bei denen sich nach den Entbehrungen der Corona-Krise die wachsende Furcht ausbreitet, den bisherigen Lebensstandard nicht mehr aufrechterhalten zu können.
All das belastet selbstverständlich die Konsum- und Investitionsfreude in Deutschland, was schlimmstenfalls eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Abwärtsspirale in Gang zu setzen droht. Noch stehen wir am Beginn dieser Entwicklung.
Spätestens zur Jahreswende wird sich der Nebel lichten. Zu diesem Zeitpunkt wird sich wohl schärfer heraus konturiert haben, ob sich die aktuellen Warnungen als überzogen oder doch eher den realen Gegebenheiten gemäß erwiesen haben.
Über den Autor:
Roman Baudzus studierte Wirtschaftsinformatik und nach verschiedenen Tätigkeiten in der Marketing-, Technologie- und Softwarebranche sowie einer Reihe von Auslandsaufenthalten, gründete der Wirtschafts- und Afrika-Kenner im Jahr 2004 sein eigenes Unternehmen. Schon seit vielen Jahren lebt er in Afrika.
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