Medikamentenmangel: Deutschland ist in einer „Aufwachphase“
Von therapierelevanten Arzneimitteln wie Antibiotika bis hin zu einfachen Erkältungsmitteln – die Liste der in Deutschland nicht lieferbaren Arzneien wird länger. Medien schlagen Alarm. Meldungen vom „Medikamentenmangel“, „Apotheken-Notstand“ und dergleichen fluten aktuell die Nachrichtenwelt. Gesundheitsminister Karl Lauterbach will nun mit einer Gesetzesänderung gegensteuern, während viele Bürger zu Hamsterkäufen neigen. Alles Panikmache?
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt derzeit etwa 300 Meldungen zu Lieferengpässen auf. Die Dunkelziffer dürfte aber weitaus höher liegen, da pharmazeutische Unternehmen und Großhandel nicht dazu verpflichtet sind, Lieferengpässe zu melden.
Gelistet sind beispielsweise morphiumhaltige Schmerzmittel sowie Antibiotika mit den Wirkstoffen Amoxicillin, Penicillin und Mitomycin. Engpässe gibt es auch bei Hydrocortison, Insulin-Präparaten wie NovoRapid oder beim Arzneistoff Fluorouracil, der zur Behandlung verschiedener Krebsarten angewendet wird.
Grund zur Panik sei das trotzdem nicht. Für viele knappe Medikamente gebe es Alternativen. Einen Versorgungsengpass* sieht die Behörde daher nicht. In letzter Zeit sei der Verbrauch jedoch überproportional gestiegen. Das Institut schließt daraus, dass Apotheken und Verbraucher vermutlich Medikamente hamstern.
Oft gibt es für fehlende Medikamente keine Alternativen
Und wie sehen es die Apotheken? Jana Schwiek, Inhaberin der Benno-Apotheke in Dresden, erklärte gegenüber Epoch Times, dass Lieferengpässe schon seit Jahren beständen. „Immer mal wieder, aber meistens nicht alternativlos“.
Aktuell zählt sie rund 300 Produkte aus ihrem Lagerbestand, die schlecht oder gar nicht lieferbar sind – allen voran Ibuprofen- und Paracetamol-Säfte sowie Zäpfchen. Viel kritischer sei der Engpass bei manchen Antibiotika. Insbesondere das Penicillin in Tablettenform ist derzeit kaum verfügbar. Für die Apotheken ist das ein Ärgernis, da sie mit viel Aufwand die fehlende Arznei anderswo auftreiben, Alternative suchen oder teilweise selbst herstellen müssen.
Vor zwei Jahren waren nur etwa 100 Produkte von Lieferdefiziten betroffen, erinnert sich die Apothekerin. Die Lage habe sich auch dahingehend verschärft, dass oftmals keine Alternative für das fehlende Medikament gefunden werden könne. Sie betonte aber auch, dass die Situation regional sehr unterschiedlich sein kann.
Enormer Kostendruck
Ursachen für die angespannte Lage sind vielfältig – manche sind strukturell, manche situativ. Ein wesentlicher Faktor für den Medikamentenengpass sei der enorme Kostendruck im Gesundheitswesen, erklärte die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Die Krankenkassen würden jedes Jahr Rabatte mit den Pharmaherstellern verhandeln.
Oftmals geht es dabei um Generika, also um Nachahmerprodukte mit demselben Wirkstoff. Diese dürfen auf den Markt, wenn das Patent für das Original abgelaufen ist. Generika sind um ein Vielfaches günstiger als die Originalpräparate. Laut dem Verband Pro Generika decken sie in Deutschland knapp 80 Prozent des gesamten Arzneimittelbedarfs ab – Tendenz steigend.
Ein Kostenvergleich: Im Jahr 2019 lag der Preis pro Tagesdosis für ein patentgeschütztes Arzneimittel bei 84 Cent, für Generika bei nur 17 Cent, abzüglich der Rabatte. Die Krankenkassen schließen ihre Verträge in der Regel mit dem günstigsten Anbieter ab, und so wird der Preis abermals nach unten gedrückt.
Welche Preiskondition jeweils für ein Arzneimittel ausgemacht worden ist, bleibt ein wohlbehütetes Geheimnis der Kassen. Weil Unternehmen nicht wissen, wer wie viel bietet, lässt sich der bestmögliche Rabatt für die Krankenversicherungen herausschlagen.
Rabattverträge: An der Grenze zur „Schenkung“
Im Oktober 2021 passierte der AOK-Gesundheitskasse ein gravierender Kommunikationsfehler, bei dem konkrete Zahlen geleakt wurden. Laut dem Fachportal „Apotheke Adhoc“ lagen die Angebote je nach Wirkstoff an der Grenze zur „Schenkung“.
Demnach gewährte das indische Pharmaunternehmen Glenmark der AOK einen Rabatt von über 99 Prozent für das Schmerzmittel Buprenorphin. Eine Tablette soll rund einen halben Cent gekostet haben. Auch Wirkstoffe aus der Gruppe der Sartane zur Behandlung von hohem Blutdruck wurden mit einem Preisnachlass von rund 80 Prozent angeboten.
Progenerika-Chef Peter Stenico erklärte dazu:
Entweder man ist der Günstigste, oder man ist raus.“
So würden Unternehmen, die den Zuschlag nicht bekommen, häufig ganz aus der Produktion aussteigen, „da alles andere unwirtschaftlich wäre“, heißt es beim deutschen Pharmagroßhändler Noweda. Das hat seine Konsequenzen: Es blieben letztlich nur sehr wenige Hersteller für den ausgeschriebenen Wirkstoff übrig. Mögliche Engpässe, etwa durch Verunreinigungen oder verspätete Transporte, könnten folglich nicht mehr aufgefangen werden.
Deutschland hängt am Tropf von China
Um Kosten zu sparen, setzten Hersteller zudem auf Produktionen in Asien. Rund zwei Drittel der Produktionsstätten, die Wirkstoffe für den europäischen Markt herstellen, liegen in China und Indien, so die Studie des Pharmaverbands vfa.
Wie Daten des International Trade Centers zeigen, dominiert China vor allem den Antibiotika-Markt. Mit einem weltweiten Export-Anteil von 42,4 Prozent lässt das Reich der Mitte seine Konkurrenz weit zurück. Zum Vergleich: Italien rankt auf Platz zwei mit nur 10 Prozent Marktanteil, gefolgt von Indien (8,8 Prozent) und der Schweiz (8,4 Prozent).
Auch viele Vorprodukte für die Herstellung von Antibiotika stammen aus Fernost. Laut dem Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) bezieht Deutschland rund 80 Prozent der Rohstoffe für seine eigene Antibiotika-Herstellung aus China.
Diese Abhängigkeit birgt enorme Risiken, worauf Apotheken, Ökonomen und auch deutsche Pharmahersteller seit Jahren hinweisen. In Zeiten geopolitischer Spannungen wird befürchtet, dass das Herstellerland Arzneimittel zurückhält, um politischen Druck auszuüben.
Dies machte die emeritierte Pharmazieprofessorin Dr. Ulrike Holzgrabe im Jahr 2020 in einem oft zitierten Statement klar: „Die Chinesen brauchen gar keine Atombombe. Sie liefern einfach keine Antibiotika […], dann erledigt sich Europa von ganz allein.“
Nun reagiert auch die deutsche Politik. Künftig sollen die Krankenkassen nicht länger gezwungen werden, Medikamente und Wirkstoffe dort einzukaufen, wo sie am billigsten sind. Das Problem des Medikamentenmangels sei „gravierend und hat sich zugespitzt“, sagte Gesundheitsminister Lauterbach gegenüber der ARD vor knapp zwei Wochen. Die Lösung liege in der „Diversifizierung der Einkäufe“. Dafür kündigte der Minister eine Änderung des Vergaberechts an.
Es braucht staatliche Subvention – und mehr Panik im System
Hoffnungslos sei die Lage laut dem Vorstand des Wirkstoffherstellers EUROAPI jedoch nicht. Es sei denkbar, die Produktion von Wirkstoffen und Medikamenten wieder nach Europa zu holen. „Die Kapazitäten sind da, das Wissen ist da, wir können da als Industrie wieder mehr machen“, sagte Dr. Kai Rossen bei einer Podiumsdiskussion von Pro Generika.
Politische Rahmenbedingungen müssten hierfür aber geschaffen werden. Es bedarf staatlicher Unterstützung in Innovation und Verbesserung der Verfahren. Nur so könne man mittelfristig wieder wettbewerbsfähig werden.
Auch die Pharmaindustrie sieht die einseitige Abhängigkeit von China kritisch und spricht sich für eine stärkere Diversifizierung aus. Doch das derzeitige System lasse es teilweise nicht zu, kritisierte Progenerika-Chef Stenico.
„Solange in Europa nur der Preis zählt, wird jede Firma immer nur schauen: Wie kann ich meine Kosten optimieren?“ Unternehmen müssten davon wegkommen. Er fügte hinzu: „Noch ist zu wenig Panik im System“. Das könne sich aber bald ändern.
Mit Blick auf die Unruhen in China und die wachsenden Spannungen zwischen der kommunistischen Führung und Taiwan sagte Stenico:
Wir sind in einer Aufwachphase.“
*Unterschied zwischen Lieferengpass und Versorgungsengpass
Von einem Lieferengpass spricht das BfArM, wenn die Unterbrechung einer üblichen Auslieferung über voraussichtlich zwei Wochen hinausgeht oder eine deutlich vermehrte Nachfrage besteht, die das Angebot übersteigt. Aus dem Lieferengpass wird ein Versorgungsengpass, wenn keine gleichwertigen Alternativarzneimittel zur Verfügung stehen.
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