Goodbye, Deutschland: Unternehmen auf gepackten Koffern – wie ernst ist es wirklich?
Das Vertrauen der deutschen Wirtschaft in die Politik ist auf dem Tiefpunkt. Seit Monaten drehen sich in Deutschland die wirtschaftspolitischen Diskussionen um Deindustrialisierung und Abwanderung – insbesondere von energieintensiven Unternehmen. Die Auswirkungen der Energiekrise, überbordende Bürokratie, der immer offensichtlichere Mangel an Fachkräften und die Inflation sind für Unternehmen im Land so spürbar, dass sie laut über eine Abwanderung ins Ausland nachdenken. Ist das alles nur Gerede? Sind die Pläne, dem Wirtschaftsstandort Deutschland den Rücken zu kehren, tatsächlich ernst zunehmen?
Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos im Auftrag der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung ist genau dieser Frage auf den Grund gegangen. Befragt wurden 600 Personalverantwortliche aus Unternehmen mit mindestens 200 Beschäftigten in Deutschland und Großbritannien. Über das Ergebnis berichtete die „Welt“ schon vor der Veröffentlichung.
In der Studie geht es um zwei Standortfaktoren, die in der Wirtschaftsdebatte in letzter Zeit etwas in den Hintergrund getreten sind: die Demografie und der Arbeitsmarkt. Diese zwei Standortbedingungen werden Deutschland in den kommenden Jahrzehnten mit Sicherheit mehr Sorge bereiten als Energie und Inflation.
Personalmangel größtes Unternehmensrisiko
Wie andere europäische Länder auch ist Deutschland überaltert. Auch wenn die Erwerbsbevölkerung in den vergangenen zehn Jahren aufgrund der guten Konjunktur auf ein Rekordhoch gestiegen ist, wird diese in den kommenden Jahren spürbar schrumpfen. So meldete das Bundesamt für Statistik (Destatis) für das dritte Quartal rund 46,1 Millionen Erwerbstätige mit Wohnort in Deutschland. Bis ins Jahr 2060, so die Destatis-Prognose aus dem Jahr 2020, werde die Erwerbspersonenzahl ohne Nettozuwanderung auf knapp 28,2 bis 30,6 Millionen fallen.
Gleichzeitig steigt – auch bedingt durch höhere Lebenserwartungen – die Zahl der Menschen in Rente und Pension an. Während Staat und Steuerzahler für Sozialleistungen also zunehmend tiefer in die Tasche greifen müssen, gibt es immer weniger Menschen, die durch ihre Arbeit das Gemeinwesen finanzieren und zum Wirtschaftswachstum beitragen. Ökonomen halten daher Personalmangel auf langfristige Sicht für das größte Geschäftsrisiko für die deutsche Wirtschaft. Unternehmen machen sich daher Gedanken, wie sie sich zukünftig auf dem Markt aufstellen möchten.
Über die Hälfte der Firmen denkt an Auslagerungen ins Ausland
Laut der Ipsos-Studie halten in Deutschland 58 Prozent – in Großbritannien sogar 70 Prozent – der Befragten ein Outsourcing von Arbeitsprozessen ins außereuropäische Ausland für denkbar. Neun Prozent der Personalverantwortlichen in Deutschland und Großbritannien denken wegen des Arbeitskräftemangels daran, ihr Unternehmen ganz ins außereuropäische Ausland zu verlegen. Elf Prozent der Befragten könnten sich diese Option teilweise vorstellen. Am wahrscheinlichsten könnten diese Szenarien laut der Studie bei Software-Entwicklern, Experten für IT-Sicherheit, aber auch in der Beratung und Kundenbetreuung sowie Kommunikation und im Marketing eintreten.
Zunehmend sind die befragten Unternehmen zwar bemüht, neues Personal auf dem heimischen Arbeitsmarkt anzuwerben. Dafür bieten sie potenziellen Bewerbern schon heute eine bessere Bezahlung oder flexiblere Teilzeitmodelle. Doch reicht die Anwerbung vor Ort nicht aus, um die Bedarfe zu decken. Deshalb richtet sich der Blick zunehmend ins Ausland. Dort stoßen sie aber zunehmend auch auf Probleme: Andere westliche Industrieländer haben genau die gleichen demografischen Probleme. Daher sind die alternativen Standorte im Ausland sehr begrenzt.
Der Globale Süden hat nach wie vor hohe Geburtenraten zu verzeichnen. „Das daraus resultierende Bevölkerungswachstum in Verbindung mit einem verbesserten Zugang zu Bildung führt zu einem erheblichen Anstieg der Erwerbsbevölkerung“, schreiben die Studienautoren Stefan Schott und Alphonce Shiundu. Trotz wachsender BIP-Raten entstehen in den meisten Ländern aber nicht genügend Arbeitsplätze. „Typische Folgen sind soziale Instabilität und ungesteuerte Migration in den vermeintlich vielversprechenden Norden.“
In Europa nehme aber inzwischen die Bereitschaft der Aufnahme neuer Flüchtlinge immer mehr ab. „Die Angst vor einer vermeintlichen Überfremdung treibt die Umfragewerte von populistischen Parteien der extremen Rechten auf Rekordhöhen“, schreiben die Autoren. Helfen könne deshalb die grenzüberschreitende Zusammenarbeit über digitale Netze. Das heißt, dass Menschen zunehmend vor Ort in ihrer Heimat für deutsche Unternehmen arbeiten könnten.
Lohnkosten sind ein wichtiges Argument
Dieses Szenario ist keinesfalls nur Zukunftsmusik. Schon heute werden Kunden deutscher Unternehmen von Callcentern in Osteuropa oder der Türkei betreut. Software-Unternehmen setzen auf Entwickler im südindischen Bangalore oder auf erstklassigen Support bei IT-Problemen auf den Philippinen. Bisher waren es nicht ausschließlich Personalprobleme, die deutsche Unternehmen zu solchen Entscheidungen trieben. Vielmehr waren es Kostenargumente, die Outsourcing attraktiv machten.
Geld spielt auch weiterhin eine große Rolle, wie die Studie zeigt. 43 Prozent der deutschen und 41 Prozent der britischen Befragten halten um ein Viertel niedrigere Arbeitskosten bei einer Verlagerung von Arbeit ins nichteuropäische Ausland für ein wichtiges Argument.
Unternehmen, die schon heute dorthin outsourcen, berichten von überwiegend positiven Erfahrungen. Aber es gibt auch Probleme. Häufig werden in diesem Zusammenhang fehlende Sprachkenntnisse, schlechte Einarbeitung, schwierige rechtliche Anforderungen in den Ländern und fehlende Geschwindigkeit genannt. Auch sei Arbeitsethik und Qualität nicht immer mit den bisherigen Standards vergleichbar.
Trotzdem könnten solche Arbeitsverhältnisse ein Modell der Zukunft für Unternehmen sein, wenn sie nicht abwandern möchten. Bei der Naumann-Stiftung spricht man daher von „Arbeitsteilung zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden über digitale Netze“. Dieser Prozess habe das Potenzial, zum „Win-win-Modell“ zu werden, schreiben die Studienautoren Schott und Shiundu. So könne gleichzeitig der Arbeitskräftemangel im Norden bekämpft und mehr hoch qualifizierte und gutbezahlte Beschäftigung im Süden geschaffen werden – ohne große Migrationsströme auszulösen.
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