Es können nicht alle Weltbürger sein

Warum braucht die schweigende bürgerliche Mehrheit mehr Realitätssinn sowie Mut für den Wiederaufbau einer freiheitlichen Ordnung von unten? Prof. Dr. Heinz Theisen im Interview mit Epoch Times.
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„Bürger kommt von Burg. Das Angebot, dass wir den kleinen Leuten machen müssen, ist Schutz vor dem totalen Wettbewerb und einer überfordernden Überfremdung.“ Prof. Dr. Heinz Theisen. Symbolbild.Foto: iStock
Epoch Times11. Juli 2022

Auf ein starkes Europa als Gegenpol zur Globalisierung setzt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Heinz Theisen. Dafür sieht er das Bürgertum in der Pflicht. Theisen lehrte bis 2020 Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und hatte Lehraufträge in Osteuropa sowie im Nahen Osten. 

Braucht es eine neue alte Bürgerlichkeit? Falls ja, warum?

Wir haben den Aufbau der Industriegesellschaft und der Sozialen Marktwirtschaft, von Sozialstaat und Demokratie dem Bürgertum zu verdanken. Die Kernidee des Bürgertums ist es, Gegensätze in Gegenseitigkeiten zu verwandeln, wie etwa bei Kapital und Arbeit, Rechten und Pflichten, Eigeninteressen und Gemeininteressen. Diese Dialektik stellt die größte kulturelle Errungenschaft der westlichen Welt dar.

Seit den 68er-Jahren ist alles Bürgerliche negativ besetzt. Das Bürgertum ist am Boden – auch durch den eigenen Erfolg. Dieser schlägt leicht in Dekadenz um, in den Glauben, nicht mehr kämpfen zu müssen.  

Vergaß das Bürgertum vielleicht gerade wegen des Drucks und aus Angst vor Machtverlust, sich zu erneuern? Können Sie ein Aufwachen bei den Bürgerlichen feststellen?

Wer beim vorherrschenden Diskurs nicht mitsingt, gehört nicht mehr dazu. Eine solche Haltung zerstört die offene Gesellschaft und ihre Kreativität.

Ein neues Bürgertum muss sich heute von unten neu organisieren. Keine der etablierten Organisationen, ob Staat oder Kirchen werden dabei helfen. Für diese Selbstorganisation gibt es auch schon erste Ansätze, wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit oder den Verein Bürgerlich-Freiheitlicher Aufbruch.

Durch die Gespräche mit Menschen nach Vorträgen oder mit Freunden und Bekannten weiß ich, dass die schweigende Mehrheit das ähnlich sieht. Die meisten sagen das aber nur privat. So ist es einer Minderheit mithilfe der links-grünen Medien gelungen, die Meinungsmacht zu übernehmen. 

Wer hat Interesse an der Dekonstruktion der Kulturen, an der Selbstverleugnung?

Auch wenn ich jetzt wie ein Verschwörungstheoretiker klingen mag, ich habe keine andere Erklärung dafür als die neue Weltanschauung des Globalismus. Von der neuen Koalition aus Export-Industrie und humanitären Linken werden alle, die an den eigenen Schutzräumen – von den Familien bis zum Nationalstaat – festhalten wollen, als „rechts“ diffamiert. 

In Wirklichkeit sind all jene vor allem protektionistisch, sie wollen bewahren und schützen – das steht der ideologisierten Weltoffenheit des Globalismus entgegen. 

Wie kann eine Gegenstrategie aussehen? Welche Bereiche gilt es zu schützen und wo muss Europa offen bleiben? 

Durch die Selbstabschottung Chinas und die Abkoppelung Russlands vom Westen seit dem Krieg in der Ukraine kommt die Globalisierung an ihr Ende. Diese Deglobalisierung bedeutet eine Zeitenwende, die neue Antworten erfordert, wie eben die einer Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung.  

Der europäische Binnenmarkt ist wichtig. Wir dürfen nicht den Fehler machen, wieder in nationalistisches Denken überzugehen – das wäre Regression als Gegenextrem zum utopischen Globalismus. Nur in einem großregionalen Raum, der sich selbst zu begrenzen versteht, haben wir eine Chance zur Selbstbehauptung. Das wäre ein Mittelweg zwischen Globalismus und Nationalismus.

Viele bezeichnen die EU als undemokratisch. Wenn Sie auf Europa setzen, können EU-Institutionen dann so bleiben, wie sie sind? 

Der Brüsseler Zentralismus treibt umgekehrt den Nationalismus voran. Die EU muss sich auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren. Das bedeutet: Vielfalt nach innen, und – im Binnenmarkt auch in der Handelspolitik – Einheit sowie Stärke nach außen, angefangen mit der Kontrolle der Außengrenzen. 

Europa sollte, so heißt es auch in den Verträgen, subsidiär von unten nach oben aufgebaut werden. Durch den Globalismus ist diese Idee umgedreht worden. Die dezentralen Forderungen der sogenannten Rechten sind durchaus berechtigt, aber eine bloße Rückkehr zum Nationalismus wäre, wie gesagt, ein Gegenextrem. Der Brexit schadet der EU und dem Vereinigten Königreich gleichermaßen.

Andererseits: Nur wer die eigene Kultur selbstbewusst hochhält, kann auch in diese integrieren. Deutschland hat über seine Selbstverleugnung seine potenzielle Führungsrolle in der EU verspielt. 

Wie kann ein Diskurs wieder stattfinden, wenn politisch Andersdenkende diffamiert und ausgegrenzt werden? 

Indem wir mit denen, die Ängste artikulieren und mehr Schutz fordern, reden und dabei mit ihnen gemeinsam nach dritten Wegen zwischen Offenheit und Abschottung suchen.

Statt einer Vielfalt der Meinung gibt es heute eine Vielfalt von angeblichen Geschlechtern. Solche Narreteien schwächen den Sinn für wirklich wichtige Aufgaben. Durch die globalen Angleichungszwänge entstehen zudem atomisierte Individuen, die überall einsetzbar sind. Diese Menschen sind aber einsam, weil jeder gegen jeden kämpft. Dem gegenüber müssen wir wieder Gemeinschaft fördern.  

Wer hat Interesse an dieser Spaltung?

Die Globalisten kämpfen gegen jede Form von begrenzendem Protektonismus, ob der eigenen Gesellschaft, des Nationalstaates oder der Kultur. Durch die als liberal geltenden Entgrenzungen wird übersehen, dass der stärkste Antrieb des Globalismus eine neue Form des Sozialismus ist, die jetzt gleich die ganze Welt ihren Einheits- und Gleichheitsdiktaten unterwerfen will.

Die Erinnerung an alle lokalen Besonderheiten und ihre Freiheiten wird verteufelt. Leider gelingt dies mit geschickter Begrifflichkeit wie „Regenbogen“ und „Eine Menschheit“ bis weit in ehemals bürgerliche Kreise hinein.

Gegen diese faktische Aufhebung der offenen Gesellschaft müsste sich die schweigende Mehrheit wehren, ob am Arbeitsplatz oder in den Bildungsstätten. Sie müsste sodann die utopische Weltoffenheit um Realitätsoffenheit ergänzen.   

Sind die alten ideologischen Begriffe „Links und Rechts“ eigentlich noch gültig?    

Die einander widerstreitenden ideologischen Gegensätze unserer Zeit sind Globalismus und Protektionismus, Offenheit oder Schutz umgrenzter Räume. Sie lassen sich nicht mehr nach Links und Rechts unterteilen. Wenn dänische Sozialdemokraten mit neuen begrenzenden Asylgesetze den eigenen Sozialstaat schützen wollen, sind sie dann links oder rechts? Und ist, wer den Rechtsstaat vor Islamisten schützen will, nicht sowohl liberal als auch konservativ? Es wird Zeit nach neuen Orientierungen und Begriffen zu suchen, die  unsere Zeit besser begreifen helfen.

Vor allem brauchen wir neuen Realismus. Dies bedeutet zunächst einmal, von alten linken und rechten Illusionen gleichermaßen Abschied zu nehmen. Weder wendet sich die Menschheit einer neuen moralischen One-World zu,  noch kann uns ein zu eng umgrenzter Raum Schutz vor globalen Bedrohungen bieten. Die Weltflucht in den reinen Moralismus wird einer realistischen Ethik des Möglichen und Machbaren weichen müssen.

In Ihrem Buch gehen Sie auf das Verhältnis zwischen Nationalstaat und EU ein. Wie kann das aussehen? Sie bringen es auf die Formel „Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung.

Selbstbehauptung bezieht sich sowohl auf die alten Links-Rechts Spaltungen als auch neue Spaltungen auf nationalen, europäischen und westlichen Ebenen. Also das positive Erbe der Nationalstaaten, insbesondere des Rechts- und Sozialstaates und seiner liberaldemokratischen Strukturen.

Es bezieht sich ebenso auf die europäische Kultur der Freiheit, der individuellen Rechte und anderer von Christentum, Naturrecht und Aufklärung gelegten Grundlagen sowie auf die von der westlichen Welt gemeinsam zu bewahrenden Rolle gegenüber autoritären und totalitären Weltmächten. Überall sollte es um eine defensive, selbstbegrenzende Haltung gehen.

Nach innen sollte die EU Vielfalt gewähren, auch um dann nach außen stark sein zu können. Beispielsweise überhöht sich die EU, wenn sie etwa meint, beim Sexualkundeunterricht in Ungarn ein Mitspracherecht zu haben. Wir brauchen ein Europa der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung. Das gilt für den ganzen Westen. Ein Zehntel der Weltbevölkerung kann nicht global herrschen. Diese Utopie musste scheitern. 

Das Wort Bürger kommt von Burg“. Das Angebot, dass wir den kleinen Leuten machen müssen, ist Schutz vor dem totalen Wettbewerb und einer überfordernden Überfremdung. Und statt nur Akademiker sollten wir auch Handwerker mehr fördern. Wir müssen Heimatbewusstsein wertschätzen, es können nicht alle Weltbürger sein.

Damit sich die ländlichen Gebiete nicht immer stärker entleeren, müsste das Regionale mehr geschützt, lokales Engagement gestärkt und das Landleben revitalisiert werden, zum Beispiel auch der öffentliche Nahverkehr in ländlichen Regionen. Das Lokale sollte mindestens so wichtig sein wie das Globale.

Ein bürgerliches Bewusstsein sollte also überleiten zu einem Europa, das schützt. Was wären wichtige Ziele, um dahin zu kommen? 

Wiederbesinnung auf die eigene westliche Kultur, um diese dann auch von anderen Kulturen abgrenzen zu können. Auf die Idee, die Türkei in die EU aufzunehmen, käme dann niemand mehr. Und wir brauchen Strukturen, die unsere Selbstbehauptung ermöglichen, kontrollfähige Grenzen, mehr Autarkie in lebenswichtigen Bereichen und eine Armee, die einsatzfähig ist.  

Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas

Über den Autor:

Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft und Autor, zuletzt erschien sein Buch „Selbstbehauptung“. Er lehrte als Gastdozent auch in Osteuropa und im Nahen Osten, darunter in Bethlehem und Jordanien.

In seinem neuen Buch „Selbstbehauptung: Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“ beschreibt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Heinz Theisen eine multipolare Welt, in der Kulturen und Mächte koexistieren und eine Strategie der Eindämmung gegenüber feindseligem Totalitarismus verfolgen. Olzog edition im Lau Verlag, Reinbek. Weitere Informationen unter www.lau-verlag.de/titel/selbstbehauptung/

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 52, vom 9. Juli 2022.



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