Damoklesschwert Goodwill in DAX-Unternehmen
Ende 2021 betrugen die Goodwillpositionen der seinerzeit 30 DAX-Unternehmen 336,4 Milliarden Euro. Das entspricht einem Anstieg von 116 Prozent gegenüber 2007, als es noch 155,5 Milliarden waren. Der Anteil der Geschäfts- oder Firmenwerte an der gesamten Bilanzsumme betrug Ende 2021 5,9 Prozent. 2007 hatte er noch 3,3 Prozent betragen. Das entspricht einem Anstieg um 80 Prozent. Die Höhe der durch die DAX-Unternehmen ausgewiesenen Geschäfts- oder Firmenwerte hat in den 14 Jahren seit der Finanzkrise also sehr stark zugenommen.
Falls ein Wirtschaftsabschwung einsetzen sollte und die DAX-Unternehmen gezwungen würden, ihre Goodwillpositionen abzuschreiben, könnte es zu erheblichen Börsen-Kursturbulenzen kommen.
Denn eine außerplanmäßige Abschreibung der Geschäfts- oder Firmenwerte würde unmittelbar das ausgewiesene Eigenkapital vermindern. Bei vier DAX-Unternehmen sind die Goodwillwerte höher als das Eigenkapital. Wenn diese Unternehmen wegen eines schwierigen weltweiten ökonomischen Umfeldes gezwungen würden, ihre Goodwillpositionen komplett abzuschreiben, wären sie über Nacht bankrott.
„Peanuts“ von 1.500 Milliarden Euro
Die in den letzten 14 Jahren stark gestiegenen Goodwillpositionen stellen daher ein erhebliches Risiko für die Stabilität einiger DAX-Unternehmen und die Börsenbewertung des DAX insgesamt dar.
Um eine Größenordnung anzugeben: Die Marktkapitalisierung aller (mittlerweile 40) DAX-Unternehmen betrug Mitte März knapp 1.500 Milliarden Euro.
Dem stehen 336 Milliarden Euro Geschäfts- oder Firmenwerte gegenüber (Stand Ende 2021, nur 30 DAX-Unternehmen). Der Goodwill beträgt also derzeit über 23 Prozent des gesamten Börsenwertes.
Bei Total-Abschreibung dieser Positionen würden folglich die Aktienkurse rein rechnerisch im Durchschnitt um mindestens 23 Prozent sinken müssen. Wegen der ungleichen Verteilung der Goodwillbeträge auf die einzelnen DAX-Unternehmen ist diese Zahl jedoch irreführend.
Mehrere Unternehmen könnten einen Komplett-Aktiencrash erleiden, andere DAX-Unternehmen wären von einer solchen Total-Korrektur der Geschäfts- oder Firmenwerte kaum betroffen.
Am Rande sei bemerkt, dass allein Apple (2.457 Milliarden Dollar) oder Microsoft (2.043 Milliarden Dollar) deutlich mehr kosten als alle 40 DAX-Unternehmen zusammen. Aus US-Sicht handelt es sich beim DAX also eher um „Peanuts“.
Was ist Goodwill oder der Geschäfts- oder Firmenwert?
Goodwill oder der Geschäfts- oder Firmenwert ist ein immaterieller Vermögenswert ohne physische Substanz. Er kommt im Wesentlichen dann zustande, wenn ein Unternehmen ein anderes Unternehmen kauft und der Kaufpreis höher ist als der Buchwert des Eigenkapitals des gekauften Unternehmens. Die Differenz zwischen Kaufpreis und Eigenkapital wird als Geschäfts- oder Firmenwerte aktiviert.
Dahinter steht die Erwartung, dass der über den Eigenkapitalwert hinausgehende höhere Kaufpreis durch die geschätzten künftigen Erträge aus dem gekauften Unternehmen gerechtfertigt ist. Geschäfts- oder Firmenwerte stellen also eine Art Erwartungswert dar, die Hoffnung oder Zuversicht, dass hohe zukünftige Erträge aus dem gekauften Unternehmen kommen werden.
Die Ertragsschätzungen für das gekaufte Unternehmen müssen mindestens einmal im Jahr neu vorgenommen werden. Kommt der DAX-Vorstand zu dem Ergebnis, dass die erwarteten künftigen Erträge nach wie vor so hoch sind, dass der Goodwill gerechtfertigt ist, dann bleibt der Geschäfts- oder Firmenwert in unverminderter Höhe bestehen.
Zeichnet sich ab, dass die künftigen Erträge schwächer werden oder gar ausbleiben, muss der Goodwill abgeschrieben werden. In diesem Fall wird ein außerordentlicher Verlust ausgewiesen, der unmittelbar den Gewinn und das Eigenkapital vermindert.
Das Risiko
Und hier liegt das eigentliche Risiko der in den letzten 14 Jahren stark gestiegenen Geschäfts- oder Firmenwerte: Falls sich die (Welt-)Wirtschaftslage eintrübt, falls ein weltweiter Wirtschaftsabschwung kommt, führt dies normalerweise zu stark sinkenden Gewinnen, wie beispielsweise die Finanzkrise 2008/9 gezeigt hat.
Dadurch könnten einige der DAX-Unternehmen gezwungen werden, ihre Goodwillpositionen abzuschreiben, weil die Hoffnungswerte, die Erwartungen nicht aufrechterhalten werden können. Das würde die DAX-Unternehmen in sehr unterschiedlichem Ausmaß betreffen.
Von den insgesamt 336 Milliarden Euro Geschäfts- oder Firmenwerte entfallen etwa 235 Mrd. oder knapp 70 Prozent auf neun Unternehmen, nämlich Bayer (40 Mrd.), SAP (31 Mrd.), Siemens (29,7 Mrd.), Fresenius SE & Co. KGaA (29 Mrd.), VW (26,2 Mrd.), Linde (23,8 Mrd.), Deutsche Telekom 20,5 Mrd.), E.ON (17,4 Mrd.) und Merck KGaA (17 Mrd.).
Die Hälfte der DAX-Unternehmen mit den niedrigsten Goodwillpositionen hatten gemeinsam lediglich einen Wert von 31 Milliarden, das heißt weniger als 10 Prozent aller Goodwillpositionen. Das heißt, eine Korrektur der Goodwillwerte würde die DAX-Unternehmen sehr unterschiedlich stark treffen.
Fresenius, E.ON, Bayer
Besonders interessant ist das Verhältnis von Geschäfts- oder Firmenwert zu Eigenkapital, da außerplanmäßige Goodwillabschreibungen direkt das Eigenkapital aufzehren. Vier DAX-Unternehmen hatten Ende 2021 Geschäfts- oder Firmenwerte, die höher als das Eigenkapital waren: Bei Fresenius SE & Co. KGaA betrug der Geschäfts- oder Firmenwert 152 Prozent vom Eigenkapital, bei E.ON 144 Prozent, bei Bayer 121 Prozent und bei Fresenius Medical Care AG 113 Prozent.
Falls diese vier Unternehmen ihre Geschäfts- oder Firmenwerte in voller Höhe abschreiben müssten, wäre über Nacht das gesamte Eigenkapital vernichtet und sie wären überschuldet beziehungsweise insolvent. Die Aktienkurse dieser Unternehmen könnten entsprechend auf null fallen.
SAP, Merck, Börse, Siemens, Henkel
Aber auch bei einigen weiteren Unternehmen bestehen große Risiken. Bei SAP und Merck KGaA betrug der Geschäfts- oder Firmenwert Ende 2021 80 Prozent vom Eigenkapital, bei der Deutsche Börse AG 78 Prozent, bei Siemens und Henkel KGaA 67 Prozent.
Bei diesen fünf Unternehmen würden also bei Vollabschreibung der Goodwillwerte zwischen 67 und 80 Prozent des Eigenkapitals vernichtet. Was das für die Aktienkurse bedeutet, kann man nur erahnen.
Bei Deutsche Post (60 Prozent), Linde (54 Prozent), HeidelbergCement (53 Prozent) und Infineon (52 Prozent) betrugen die Goodwillwerte über 50 Prozent des Eigenkapitals. Im Krisenfall könnte bei diesen vier Unternehmen also mehr als die Hälfte des Eigenkapitals über Nacht verschwinden. Das dürfte die Aktienkurse ebenfalls stark nach unten ziehen.
Möglichst positiv statt realistisch darstellen
Bei der jährlichen Neueinschätzung der Geschäfts- oder Firmenwerte gibt es trotz der Kontrolle durch die Wirtschaftsprüfer erhebliche Bewertungsspielräume für die Vorstände, weil die künftigen Erträge objektiv sehr schwer zu kalkulieren sind.
Eine außerplanmäßige Abschreibung ist für den amtierenden Vorstand normalerweise sehr unangenehm, weil dadurch der Gewinn vermindert wird. Ein Blick auf den Umgang der DAX-Konzerne mit der Bewertung der Goodwillwerte deutet darauf hin, dass derzeit erhebliche Überbewertungen vorliegen dürften.
Beispielsweise hat die Gesamtsumme der von den DAX-Unternehmen verbuchten Geschäfts- oder Firmenwerte von 2007 bis 2009, dem Jahr der größten Nachkriegsrezession, von 155 auf 172 Milliarden Euro zugenommen. Der Anteil des Goodwills an der Bilanzsumme ist zwischen 2007 und 2009 von 3,3 auf 4,7 Prozent gestiegen, obwohl sich 2008 und 2009 die Ertragsaussichten weltweit dramatisch verringert hatten. Das zeigt, wie groß der Widerstand der verantwortlichen Vorstände war, außerplanmäßige Abschreibungen vorzunehmen.
Von 2019 bis 2021 stiegen die Geschäfts- oder Firmenwerte von 315 auf 336 Milliarden, ihr Anteil an der Bilanzsumme ging allerdings leicht von 6,2 auf 5,9 Prozent zurück.
Also auch in den beiden lockdownbedingt schwierigen Jahren 2020 und 2021 wurden in Summe netto keine nennenswerten Goodwillabschreibungen vorgenommen, trotz Lieferengpässen, Produktionsstillständen, 2021 beginnender Inflation und so weiter. Auch das deutet darauf hin, dass die Vorstände die Bewertungsspielräume nutzen, um die Performance der Unternehmen möglichst positiv statt realistisch darzustellen, möglichst hohe Gewinne auszuweisen statt vorsichtig zu bilanzieren.
Was wäre, wenn die Abschreibungen planmäßig abgeschrieben worden wären?
Im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung [siehe Hinweis] wurde für die drei Unternehmen Bayer, E.ON und SAP berechnet, wie groß der Unterschied der aktuellen Geschäfts- oder Firmenwerte zu einer Bilanzierung wäre, wenn die Geschäfts- oder Firmenwerte planmäßig über 10 Jahre abgeschrieben würden. Die Ergebnisse sind folgende:
Bayer: Verlust von 1 Milliarde statt 3 Milliarden Gewinn
Bei Bayer würden die Geschäfts- oder Firmenwerte bei planmäßiger Abschreibung über 10 Jahre Ende 2021 22,845 Milliarden Euro betragen statt der nach IFRS tatsächlich ausgewiesenen 40,106 Mrd. Euro. IFRS führt also zu einer Erhöhung der Position Geschäfts- oder Firmenwerte um 17,261 Mrd. Euro beziehungsweise um etwa 76 Prozent gegenüber planmäßiger Abschreibung.
Das Eigenkapital wäre Ende 2021 bei planmäßiger zehnjähriger Goodwillabschreibung um 52 Prozent niedriger gewesen, die Eigenkapitalquote würde 15,3 Prozent betragen statt der 27,5 Prozent, die tatsächlich im Geschäftsbericht 2021 ausgewiesen wurden.
2021 wären statt eines Gewinns von 3,353 Mrd. Euro (EBIT) ein Verlust von 1,048 Mrd. Euro ausgewiesen worden. Hauptverantwortlich für die rekordhohen Goodwillpositionen bei Bayer ist die Akquisition von Monsanto 2016.
E.ON: 53 Prozent höher als bei planmäßiger Abschreibung
Bei E.ON würden die Geschäfts- oder Firmenwerte bei planmäßiger Abschreibung über 10 Jahre Ende 2021 11,388 Milliarden Euro betragen statt der nach IFRS tatsächlich ausgewiesenen 17,408 Mrd. Euro.
Die Geschäfts- oder Firmenwerte nach IFRS wird also um 53 Prozent höher ausgewiesen als bei planmäßiger Abschreibung. Bei Bilanzierung mit planmäßiger Abschreibung würde das Eigenkapital Ende 2021 6,031 Mrd. statt 12,053 Mrd. Euro betragen. Damit wäre sie also nur halb so hoch, die Eigenkapitalquote würde 5,3 Prozent betragen statt der 10,1 Prozent, die tatsächlich im Geschäftsbericht 2021 ausgewiesen wurden. 2021 wäre statt eines EBIT von 6,509 Mrd. Euro ein EBIT von 4,888 Mrd. Euro ausgewiesen worden.
SAP: Eigenkapital um 51 Prozent niedriger
Bei SAP würde der Geschäfts- oder Firmenwert bei planmäßiger Abschreibung über 10 Jahre Ende 2021 11,225 Milliarden Euro betragen statt der nach IFRS tatsächlich ausgewiesenen 31,090 Mrd. Euro. IFRS führt also zu einer Erhöhung der Geschäfts- oder Firmenwerte um enorme 19,865 Mrd. Euro beziehungsweise der Geschäfts- oder Firmenwert wird nach IFRS um 177 Prozent höher ausgewiesen als bei planmäßiger Abschreibung.
Das Eigenkapital hätte bei SAP Ende 2021 bei planmäßiger zehnjähriger Goodwillabschreibung 18,988 Mrd. Euro statt 38,853 Mrd. Euro betragen, wäre also um 51 Prozent niedriger gewesen, die Eigenkapitalquote würde 37,0 Prozent betragen statt der 54,6 Prozent, die tatsächlich im Geschäftsbericht 2021 ausgewiesen wurden. 2021 wäre statt eines Gewinns von 4,656 Mrd. Euro (EBIT) einer von 1,543 Mrd. Euro ausgewiesen worden.
Das sind beeindruckende Zahlen. Sie geben ein Gefühl dafür, wie viel Hoffnung derzeit in den ausgewiesenen Geschäfts- oder Firmenwerten bilanziert wird.
Viel Hoffnung eingepreist, die sich als Illusion herausstellen könnte
Die heute von vielen DAX-Unternehmen ausgewiesenen hohen Geschäfts- oder Firmenwerte dürften einen erheblichen Anteil an Hoffnung enthalten, der sich sehr schnell als Illusion herausstellen könnte.
Sollte die Weltwirtschaft in eine starke Rezession geraten, könnten mehrere DAX-Unternehmen existenzgefährdet sein, insbesondere die beiden Fresenius-Unternehmen Bayer und E.ON, da deren Geschäfts- oder Firmenwerte höher sind als ihr Eigenkapital.
Aber auch SAP, Merck KGaA, Deutsche Börse, Siemens und Henkel könnten von einer weltweiten längeren Rezession dramatisch nach unten gerissen werden.
Wegen der in den letzten 14 Jahren weit überproportional stark gestiegen Geschäfts- oder Firmenwerte sind die DAX-Unternehmen heute sehr viel stärker gefährdet als bei Ausbruch der Finanzkrise 2007. Daher könnte auch ein Börsenabschwung deutlich stärker ausfallen als damals. Die stark gewachsenen Geschäfts- oder Firmenwerte stellen im Falle einer Konjunktur- und Börsenbereinigung einen Verstärker, einen Turbo dar.
Wenn es nach unten geht, dann kann das leicht eine sich immer weiter verstärkende Abwärtsspirale auslösen. Das könnte dann auch gesamtwirtschaftlich sehr negative Folgen haben, insbesondere hohe Arbeitslosigkeit nach sich ziehen.
Wenn dieser Fall eintritt, leiden schließlich fast alle Menschen in unserem Land unter der zu laxen, den Gewinnausweis maximierenden Goodwillbilanzierung der letzten 14 Jahre.
Hinweis
Die Begriffe „Goodwill“ und „Geschäfts- oder Firmenwerte“ wurden synonym verwendet. Die Ausführungen beruhen auf den Ausarbeitungen einer ganz ausgezeichneten wissenschaftlichen Masterthesis vom 8.11.2023.
Der Titel lautet: „Goodwillbilanzierung nach IFRS/ IAS als Verzerrungsfaktor der Bilanzkennzahlen deutscher DAX-Konzerne – Eine Quantifizierung der abschreibungsmodellspezifischen Verzerrung ausgewählter Bilanzkennzahlen anhand eines Vergleichs des Impairment-Only-Approaches mit einer Modellierung planmäßiger Goodwillabschreibungen“ eines Master-Studenten, der nicht namentlich genannt werden möchte.
Derjenige nahm Hunderte von Unternehmensbilanzen akribisch unter die Lupe und analysierte diese mit größtem Sachverstand und Expertise. Fast alle Zahlen, Daten und Fakten sind dieser ganz ausgezeichneten Masterthesis entnommen.
Zum Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß (geb. 1962), Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Er ist Autor von sieben Büchern. www.menschengerechtewirtschaft.de
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