Deutschlands Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr

Was war das Geheimnis des Erfolgs der deutschen Wirtschaft?
Titelbild
Ein Blick auf Wolfsburg: die Volkswagen Arena und das Industriegebiet von VW.Foto: iStock
Von 6. Mai 2023

Bereits im Oktober 2022 warnte der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Gerald Haug: „Ich mache mir große Sorgen, dass wir, wenn wir jetzt nicht handeln, ganze Industriestränge verlieren – gerade in der Grundstoffindustrie […] Das würde eine noch viel höhere Abhängigkeit von Asien und vor allem China bedeuten.“

Die Sorge Gerald Haugs ist mehr als berechtigt. Der Welthandel hat Deutschland reich gemacht. Das Geheimnis des Erfolgs war es, aus günstig erworbenen Rohstoffen und Vorprodukten kraft menschlicher Intelligenz, einer guten Infrastruktur, Top-Unternehmen und billiger Energie hochwertige Produkte zu fertigen.

Wenn Energie jedoch im internationalen Vergleich am Wirtschaftsstandort Deutschland viel teurer oder im Extremfall kaum noch verfügbar ist, dann helfen auch die besten Spezialisten und die fortschrittlichste Unternehmensinfrastruktur nicht mehr weiter.

Substanz der Industrie ist bedroht

Der Wirtschaftsstandort Deutschland steckt heute in puncto Energie in einem, wie es das ifo Institut (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.) treffend beschreibt – Energie-Trilemma: Der Bedarf steigt rasant an, es gibt zu wenig nachhaltig produzierte Energie und sie ist zu teuer.

Das hat Folgen für die unterschiedlichen wirtschaftlichen Akteure und deren Wettbewerbsfähigkeit: Laut einer Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) vom August 2022 sahen bereits 58 Prozent des industriellen Mittelstands starke oder existenzielle Herausforderungen. BDI -Präsident Siegfried Russwurm formulierte es so: „Die Substanz der Industrie ist bedroht. Die Lage ist für viele Unternehmen schon jetzt oder in Kürze toxisch, nicht nur wegen des Gasmangels, sondern vor allem wegen der aberwitzigen Preissteigerungen.“

Gefahr der Deindustrialisierung ist real

Das Wort Deindustrialisierung ist in Deutschland mittlerweile in aller Munde. Das Thema ist bereits knapp 80 Jahre alt, hatte aber in früheren Zeiten vollkommen andere Gründe. Damals tobte der vom Deutschen Reich angezettelte Zweite Weltkrieg. Der ehemalige amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau schlug in einer Denkschrift im Jahr 1944 vor, dass Deutschland zerstückelt und die Wirtschaftsregionen an Rhein und Ruhr sowie die Nordseeküste internationalisiert werden sollten.

„Im Zuge der völligen Entwaffnung und Abrüstung Deutschlands und großer Reparationsleistungen (auch durch Zwangsarbeit) sollten nach dem Morgenthau-Plan Industriebetriebe demontiert, die Bergwerke stillgelegt und zerstört werden. Bei Kontrolle der ganzen Wirtschaft auf 20 Jahre würde Deutschland ein Agrarstaat sein.“

So weit ist es glücklicherweise nicht gekommen. Hingegen findet seit Jahrzehnten eine schleichende Abwanderung der deutschen Industrie statt. Dem Statistischen Bundesamt zufolge ist der Anteil der Waren ausländischen Ursprungs an den deutschen Exporten von ungefähr 10 Prozent im Jahr 1990 auf bereits 24,5 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. Tendenz weiter steigend.

Lars Klingbeil, SPD-Bundesvorsitzender, äußerte sich im November 2022 wie folgt: „Die Gefahr einer Deindustrialisierung in Deutschland ist real. Die Lieferketten sind stellenweise gebrochen, wir haben Fachkräftemangel und hohe Energiepreise. Deswegen treffen manche Unternehmen Investitionsentscheidungen gegen Deutschland.“

Besser kann man die Gründe für eine drohende Deindustrialisierung kaum zusammenfassen. Deutschland steht erstmals vor der ernsthaften Gefahr einer immensen Deindustrialisierung. Knapp jedes fünfte Unternehmen beabsichtigte bereits Ende Oktober 2022, energieintensive Geschäftsfelder in Deutschland aufzugeben.

BASF verkleinert sich in Europa „dauerhaft“

Markus Steilemann, Präsident des Verbands der Chemischen Industrie, bezeichnet die Lage als „dramatisch“ und teilt „die Sorge vor einer Deindustrialisierung“, und laut Nikolas Stihl, Vorsitzender des Beirats der Stihl Holding AG & Co. KG und des Aufsichtsrats der Stihl AG, ist die Gefahr einer Deindustrialisierung nicht von der Hand zu weisen.

Tanja Gönner, Hauptgeschäftsführerin des BDI, sagte im November 2022, dass derzeit „jedes vierte deutsche Unternehmen über eine Produktionsverlagerung ins Ausland nachdenke … Die hohen Energiepreise und die schwächelnde Konjunktur treffen die deutsche Volkswirtschaft mit voller Wucht und belasten unsere Unternehmen im Vergleich zu anderen internationalen Standorten sehr. Das deutsche Geschäftsmodell steht enorm unter Stress.“

Im Oktober 2022 erklärte der nach Umsatz größte Chemiekonzern der Welt, BASF, dass er sich in Europa „dauerhaft“ verkleinern müsse, da die hohen Energiekosten die Region zunehmend wettbewerbsunfähig machten.

Die Erklärung erfolgte, nachdem BASF einen Monat zuvor den ersten Teil seiner neuen 10-Milliarden-Euro-Anlage für Kunststofftechnik in China eröffnet hatte. Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender der BASF SE, sagt dazu: „Der europäische Chemiemarkt ist seit etwa einem Jahrzehnt nur schwach gewachsen, und der deutliche Anstieg der Erdgas- und Strompreise im Laufe dieses Jahres setzt die Wertschöpfungsketten der Chemieindustrie unter Druck.“

Im Dezember 2022 war es bereits so weit, dass fast jeder vierte Betrieb in der Chemieindustrie Kapazitäten ins Ausland verlagerte und in jedem zehnten Unternehmen hierzulande Anlagen stillgelegt wurde – und zwar dauerhaft.

Es werden drastische Auswirkungen folgen

Eine Deindustrialisierung hätte für Deutschland aufgrund des noch immer hohen Anteils der Industrie an der Wirtschaftsleistung drastische Auswirkungen. Im Jahr 2022 arbeiteten in Deutschland allein in Betrieben des Verarbeitenden Gewerbes mit 50 und mehr Beschäftigten knapp 5,5 Millionen Menschen.

Hinzu kommen weitere Millionen Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt vom Verarbeitenden Gewerbe abhängen. Obendrein bestreitet die Industrie den Großteil der Ausgaben deutscher Unternehmen für Forschung und Entwicklung.

Auch die Arbeitnehmervertreter haben die Brisanz des Themas mittlerweile erkannt. Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB): „Es ist wirklich nach wie vor existenzbedrohend, was sich derzeit in der Industrie abspielt.“ […] „Je tiefer die Schnitte in die Wertschöpfungskette werden, je mehr Unternehmen der Wertschöpfungskette Deutschland verlassen, desto dramatischer wird der Dominoeffekt sein“, sagte Fahimi. „Und das ist keine Frage von zwei, drei Jahren. Das ist eine Frage von ein bis drei Quartalen im Jahr 2023. Das muss allen politisch Verantwortlichen klar sein.“

Fakt ist: Die explodierenden Energiekosten setzen nicht nur die Bürger, sondern auch Deutschlands große und mittelständische Unternehmen immens unter Druck.

Das Wirtschaftsmodell Deutschland steht und fällt mit günstiger Energie. Ohne sie ist der Standort Deutschland für viele Wirtschaftszweige nicht mehr wettbewerbsfähig.

Die USA locken mit billiger Energie

Große Unternehmen mit hohem Energieverbrauch werden die Produktion in Länder mit günstigeren Energiepreisen verlegen; Unternehmen, denen diese Möglichkeit nicht offensteht, werden schließen müssen. Laut „Business Insider“ zahlt die deutsche Industrie inzwischen im Großhandel für 2023 einen Gaspreis, der um den Faktor acht höher liegt als in den USA.

Bereits Ende September 2022 schrieb das „Handelsblatt“, dass Washington deutsche Firmen mit billiger Energie und niedrigen Steuern lockt. Der Gouverneur von Oklahoma, Kevin Stitt, sagte: „Wir hatten zuletzt in elf von 14 Quartalen die niedrigsten Energiekosten der USA.“

Pat Wilson, Wirtschaftsminister von Georgia, argumentiert: „Unsere Energiekosten sind niedrig und die Netze stabil.“ Der Kohleausstieg sei ferner beschlossene Sache, bis 2024 nehme Georgia zwei neue Kernkraftwerke ans Netz. Wilson: „Unternehmen, die nach Georgia kommen, verringern ihren Klimafußabdruck.“

Ausweg: Rasch günstige Energie beschaffen

Ob es in Anbetracht dieser für den Wirtschaftsstandort Deutschland dramatischen Situation tatsächlich zielführend ist, nicht alle möglichen Energieressourcen auszuschöpfen, sondern stattdessen aus politisch-ideologischen Gründen sich von der Kernenergie zu verabschieden, ist fraglich.

Zweifellos kommt Deutschlands Geschäftsmodell abhanden, ohne dass ein Ersatz in Reichweite wäre.

Gelingt es nicht, rasch günstige Energie zu beschaffen, so werden die Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland und somit auch für seine Unternehmen und seine Bürger desaströs sein. 

Grafik: Matthias Weik

Zum Autor

Matthias Weik befasst sich seit über zwei Jahrzehnten mit dem Thema Finanzen und ist Experte für Exitstrategien. Er zählt seit Jahren, mit sechs Bestsellern in Folge, zu den verlässlichsten Bestseller-Autoren im Bereich Wirtschaft und Finanzen. Im März ist sein sechster Bestseller „Die Abrechnung“ erschienen. Matthias Weik bezeichnet sich selbst nicht als Pessimist, Optimist, sondern als Realist. Bei dem Text handelt es sich um einen aktualisierten Auszug aus seinem Bestseller „Die Abrechnung“. Weitere Informationen unter www.matthias-weik.com.



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