Studie: Antipsychotika verschlimmern Verhaltensprobleme bei Pflegeheimbewohnern
Bereits 1999 titelte der „Norddeutsche Rundfunk“: „Vollgepumpt mit Psychopharmaka – Alte Menschen in Pflegeheimen“. Doch auch 25 Jahre später erhalten Pflegeheimbewohner ohne Indikation Psychopharmaka – besonders bei Menschen mit Demenz ist das oft der Fall. Laut der „Apotheken Umschau“ bekommen 40 Prozent von ihnen langfristig Antipsychotika verschrieben, um aggressives oder auffallendes Verhalten zu kontrollieren.
Allerdings zeigen die Medikamente nicht die erhoffte Wirkung. Ganz im Gegenteil: Bei fast drei Vierteln der Bewohner, die antipsychotische Medikamente einnehmen, treten vermehrt Unruhe und Reizbarkeit auf. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie mit fast 500.000 Pflegeheimbewohnern in Kanada.
Antipsychotika als Beruhigungsmittel
„Antipsychotika werden in Pflegeheimen immer noch recht häufig eingesetzt, um Verhaltensauffälligkeiten zu behandeln, insbesondere bei Bewohnern mit Demenz“, erklärte Jasmine Travers in einer E-Mail an Epoch Times. Sie ist Assistenzprofessorin am Rory Meyers College of Nursing der New York University.
Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken. Die Krankheit tritt auf, wenn die Nervenzellen im Gehirn nicht mehr funktionieren, was zu einer allmählichen Abnahme der Fähigkeit führt, klar zu denken und alltägliche Aufgaben zu erledigen. Dies kann problematische Verhaltensweisen verursachen wie Umherwandern, Verweigern der Pflege oder Aggression.
In Pflegeheimen werden diese Verhaltensweisen manchmal mit Beruhigungsmitteln oder Medikamenten behandelt, die als „chemische Zwangsmaßnahmen“ eingesetzt werden, so Travers, die nicht an der Studie beteiligt war.
Die neue Studie deutet allerdings darauf hin, dass dieser Ansatz möglicherweise mehr Schaden als Nutzen bringt. Diese Erkenntnisse sind auch für Deutschland relevant.
Antipsychotika und Verhaltensauffälligkeiten
Die Längsschnittuntersuchung analysierte Daten aus Pflegeheimen in ganz Kanada aus den Jahren 2000 bis 2022. Das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer lag bei 83 Jahren; etwa 64 Prozent von ihnen waren Frauen.
Demnach verschlechterte sich das Verhalten bei etwa 70 Prozent der Bewohner, die Antipsychotika erhielten. Bei Bewohnern, die diese Medikamente einnahmen, war die Wahrscheinlichkeit einer Verhaltensverschlechterung um 27 Prozent höher als bei Bewohnern, die diese Medikamente nicht einnahmen.
Ferner litten Personen, die Antipsychotika einnahmen, zusätzlich zur Demenz mit größerer Wahrscheinlichkeit an Depressionen, kognitiven Beeinträchtigungen und Gebrechlichkeit. Außerdem hatten sie ein höheres Risiko für Stürze und Delirium, heißt es in der Studie.
Zu den Beispielen für ein sich verschlechterndes Verhalten der Bewohner gehörten Veränderungen bei Appetit oder Schlaf, unangemessenes Sexualverhalten und die Tatsache, dass sie die gleichen Fragen immer wieder stellten.
26 Prozent der Antipsychotika außerhalb der Zulassung verschrieben
Die Studie ergab auch, dass mehr als ein Viertel (26 Prozent) der Pflegeheimbewohner Antipsychotika „off-label“ verschrieben bekamen. Das bedeutet, dass die Antipsychotika auch bei Beschwerden zum Einsatz kamen, für die die Gesundheitsbehörden sie nicht zugelassen hatten.
Antipsychotika sind zwar für Krankheiten wie Schizophrenie zugelassen, werden aber häufig auch bei demenzbedingten Verhaltensweisen eingesetzt. Den Studienautoren zufolge ergibt dieser häufige „Off-Label“-Einsatz keinen Sinn, da die Arzneimittel bei der Änderung von Verhaltensweisen nicht sehr wirksam sind und ernsthafte Risiken mit sich bringen.
„Die Realität ist, dass diese Medikamente Behinderungen und kognitive Beeinträchtigungen verschlimmern können“, meinte John Hirdes in einer Presseerklärung. Er ist Mitautor der Studie und Professor an der University of Waterloo in Waterloo, Kanada.
Der Trend, Antipsychotika „off-label“ zu verschreiben, zeigt sich wie oben erwähnt auch in Deutschland, in den USA aber ebenfalls. Laut einer Analyse von mehr als 12.000 Pflegeheimen in den USA vom September 2023 erhielt mehr als jeder fünfte Pflegeheimbewohner, bei dem keine Psychose diagnostiziert wurde, Antipsychotika.
Laut Travers, die im April 2024 eine ähnliche Studie mitverfasste, verschreiben Ärzte insbesondere in unterbesetzten Pflegeheimen ihren Bewohnern zu viele Antipsychotika. In solchen Einrichtungen seien die Ressourcen begrenzt und das Personal habe möglicherweise nicht die Zeit oder die Ausbildung, um alternative, nichtmedikamentöse Interventionen einzusetzen, so Travers.
Dopaminstörungen und Nebenwirkungen
Die aktuelle Studie stellt zwar fest, dass sich das Verhalten aufgrund von Antipsychotika verschlechtert. Allerdings gibt sie keinen genauen Grund für diese Wirkung an. Eine Studie aus dem Jahr 2019 deutet jedoch darauf hin, dass eine Kombination von Faktoren einschließlich einer Dopaminstörung dafür verantwortlich sein könnte.
Dopamin ist ein Botenstoff, der über die Nerven elektrische Impulse vom Gehirn zu den Muskeln überträgt. Antipsychotische Medikamente greifen in diese Funktionsweise ein, was zu unerwünschten Wirkungen führen kann.
Nach Angaben der Studienautoren gehören zu den häufigen Nebenwirkungen von Antipsychotika Zittern, Muskelsteifheit und verlangsamte Bewegungen, die die Handlungsfähigkeit von Menschen mit Demenz erschweren können. Diese Medikamente können auch den kognitiven Verfall verschlimmern, was erhöhte Unruhe und anderes Problemverhalten verursacht.
Alternativtherapien ohne Medikamente
Deshalb sollte das Pflegepersonal mehr auf die Bewohner eingehen, die Ursachen für ihr Verhalten verstehen und nichtmedikamentöse Maßnahmen anbieten, empfehlen die Forscher.
„Wir müssen den Einsatz von Antipsychotika bei Menschen, die nicht an einer Psychose leiden, ernsthaft überdenken“, meinte Studienautor Hirdes in der Pressemitteilung weiter.
Den Wissenschaftlern zufolge gehören zu den wirksamen nichtmedikamentösen Strategien Verhaltens-, Musik– und Kunsttherapie sowie angemessene körperliche Bewegung. Diese Ansätze verringern nachweislich Symptome wie Unruhe und Aggression und verbessern das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Bewohner.
Auch die anfangs erwähnte Assistenzprofessorin Travers äußerte sich dazu. Ihrer Meinung nach gibt es viele umwelt- und verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die Pflegeheime durchführen können. Doch viele Faktoren könnten eine Entwicklung dahin erschweren. Dazu gehörten unter anderem Personalknappheit, mangelnde Ausbildung und manchmal auch der Widerstand der Familien, „die auf medikamentöse Lösungen drängen“, insbesondere wenn sie über das Verhalten ihrer Angehörigen besorgt sind.
Trotz dieser Herausforderungen ist es laut Travers wichtig, die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Bewohners zu erkennen. Verhaltensweisen wie Unruhe oder Herumlaufen sind oft die Folge von Schmerzen, Hunger oder Überreizung. Sie empfiehlt, kleine Anpassungen vorzunehmen, beispielsweise die Essenszeiten oder den Tagesablauf an die Vorlieben der Bewohner anzupassen, was einen großen Unterschied machen könne.
Ferner könnten Angehörige und Betreuer wertvolle Einblicke in die Bedürfnisse der Bewohner geben, fügte sie hinzu.
Dieser Artikel ersetzt keine medizinische Beratung. Bei Gesundheitsfragen wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder Apotheker.
Zuerst erschienen auf theepochtimes.com unter dem Titel „Antipsychotics Worsen Behavior in Nursing Home Residents, Especially Those With Dementia: Study“. (redaktionelle Bearbeitung as)
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