Dramatischer Fachkräftemangel in der Pflege – Ampel will Verstärkung aus Brasilien holen
Fehlende stationäre Plätze, fehlende Fachkräfte, finanziell klamme Einrichtungen, aber eine steigende Nachfrage: Diese Situation kennzeichnet die Pflege in Deutschland. Die Ampel arbeitet an einem Reformpaket, um die Lage zu stabilisieren. Zudem will man in Brasilien schon kurzfristig Fachkräfte anwerben.
Wie die „Rheinische Post“ berichtet, steht die geplante Reform noch im Laufe dieser Woche auf der Tagesordnung im Bundestag. Die Bundesregierung sieht ihre Prioritäten vor allem in der Entlastung der Pflegebedürftigen und der Sicherung der Einnahmen aus der sozialen Pflegeversicherung. Zudem wollen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im Juni nach Brasilien reisen. Dort, so die Hoffnung, lasse sich kurzfristig Personal anwerben, um dem Mangel an Fachkräften in der Pflege entgegenzuwirken.
Häusliche Betreuung bleibt der Regelfall
Bereits im Jahr 2021 hatte es in Deutschland knapp 4,9 Millionen Menschen mit einem Pflegegrad gegeben. Bis zum Jahr 2030 geht die Barmer von einem Anstieg auf etwa sechs Millionen aus. Derzeit existieren ihrem Pflegereport zufolge etwa 16.000 Heime, die 793.000 Menschen versorgen.
Dem Spitzenverband Zentraler Immobilienausschuss (ZIA) müssten, um den prognostizierten Bedarf zu decken, jährlich bis zu 390 neue Heime entstehen. Allerdings habe sich bereits die finanzielle Lage bestehender deutscher Pflegeheime seit 2016 stetig verschlechtert. Ohne wirksame Maßnahmen könnten bis 2030 etwa 293.000 stationäre Plätze in der Pflege fehlen.
Dabei ist die stationäre Pflege nicht einmal der Regelfall bei der Betreuung Pflegebedürftiger. Teils aus Kostengründen oder Platzmangel, oft aber auch, weil die Betroffenen es bevorzugen, ist die Pflege zu Hause der Regelfall. Etwa vier von fünf Pflegebedürftigen befinden sich in der Obhut von „Sorgenden und Pflegenden Angehörigen“ (SPA). Nur knapp eine Million befindet sich in stationärer Unterbringung.
Ausländisches Personal in der Pflege immer bedeutsamer
Sowohl in der stationären Pflege als auch in der häuslichen Assistenz werden ausländische Pflegekräfte in Deutschland immer bedeutender. In der Altenpflege ist der Anteil nichtdeutscher Staatsangehöriger an allen Beschäftigten von 2015 bis 2020 von acht auf 15 Prozent gestiegen. In der Krankenpflege erhöhte er sich im gleichen Zeitraum von fünf auf neun Prozent. Tendenz: weiter deutlich steigend.
Vor drei Jahren waren Polen, Bosnien und Herzegowina, die Türkei, Kroatien und Rumänien die Hauptherkunftsländer ausländischer Pflegekräfte. Mittlerweile steigt der Anteil von Pflegekräften aus Nicht-EU-Staaten immer stärker an. Im März 2021 lag dieser bei etwa 60 Prozent der ausländischen Pflegekräfte. Von Januar bis Oktober 2021 nahmen etwa 24.400 Krankenpflegekräfte aus Drittstaaten ihre Arbeit auf. Im gesamten Jahr 2020 waren es im Vergleich dazu etwa 23.100 gewesen.
Immerhin arbeiten dem Statistischen Bundesamt zufolge mittlerweile über 70 Prozent mehr Arbeitskräfte in stationären Pflegeheimen als Anfang der 2000er. In der ambulanten Pflege sind es sogar mehr als doppelt so viele. Allerdings verfüge ein Viertel davon über keinen Berufsabschluss im Pflegebereich.
Zum Fachkräftemangel kommt zunehmender Krankenstand in der Pflege
Dazu wirken sich hohe Anforderungen, starke Belastung und schwierige Arbeitsbedingungen auf die Pflegekräfte aus. Die Anzahl der Krankenstände ist deutlich im Steigen begriffen. Sogenannte Gesundheitsarbeiter hatten 2022 fast 60 Prozent mehr Fehltage als der Durchschnittsarbeitnehmer. Neben Rückenproblemen sind dabei sehr häufig psychische Erkrankungen die Gründe für den Ausfall.
Im Schnitt waren Altenpflegekräfte zuletzt sogar viereinhalb Tage pro Jahr länger krank als Pflegekräfte in Krankenhäusern. Bereits in den vorangegangenen zehn Jahren waren es dreieinhalb gewesen: Altenpflegekräfte hätten etwa 25 Fehltage im Jahr zu verzeichnen gehabt. Bei Beschäftigten in der Krankenpflege waren es etwa 21,5.
Die Gewerkschaft Verdi verweist auf Mehrarbeit unter schwierigen Bedingungen bei Beschäftigten in der Pflege. Der Alltag der derzeit 1,7 Millionen Beschäftigten in der Branche sei von hoher Belastung, Zeitdruck und Überstunden gekennzeichnet. Verdi beziffert den Personalbedarf auf 110.000 zusätzliche Pflegefachkräfte, bis 2030 rechnen Experten mit einem noch einmal fast dreimal so hohen Mehrbedarf. Stattdessen hatte die Politik die Reihen der Beschäftigten in der Pflege in den Corona-Jahren durch Maßnahmen wie die einrichtungsbezogene Impfpflicht weiter ausgedünnt.
Arbeitgeberverband fordert Rechtsanspruch auf Pflegeheimplatz
Zum 1. Juli 2023 soll der Beitrag zur gesetzlichen Pflegeversicherung um 0,35 Punkte auf 3,4 Prozent steigen. Die Bundesregierung soll zudem das Recht bekommen, den Beitragssatz bei kurzfristigem Finanzierungsbedarf mittels Rechtsverordnung anzupassen.
Auch soll der Beitragssatz stärker nach der Anzahl der Kinder ausdifferenziert werden. Weitere Vorgaben sollen die Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens optimieren. Zudem will die Ampel ein „Kompetenzzentrum Digitalisierung und Pflege“ schaffen. Bis Ende des Jahrzehnts soll es zusätzlich bis zu 300 Millionen Euro für ein Förderprogramm geben. Dieses soll digitalen und technischen Anschaffungen in Pflegeeinrichtungen zugutekommen.
Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) hat unterdessen einen Rechtsanspruch auf einen Pflegeheimplatz gefordert. Vorbild soll jener auf einen Kitaplatz für Kinder ab einem Jahr sein, so Präsident Thomas Greiner. Betroffene könnten den Anspruch einklagen oder Kostenerstattung für alternative Betreuungsmodelle fordern. So würden Kommunen in die Pflicht genommen, trotz Fachkräftemangels Betreuung sicherzustellen.
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