Energiewende und Stromnetz: „Eine zentrale Steuerung ist ein absolutes No-Go“ – Sicherheitsexperte

Herbert Saurugg unterstützt unter anderem Behörden, Ministerien und Unternehmen bei der Blackout- und Krisenvorsorge. Epoch Times sprach mit dem ehemaligen Major des österreichischen Bundesheeres über die deutsche Energiewende – und ob diese noch zu retten ist. Unser Gesprächspartner ist zuversichtlich, aber Geld allein könne es nicht richten.
Nur ein milliardenschwerer Netzausbau könne die Energiewende zu retten, aber ist das wirklich so?
Nur ein milliardenschwerer Netzausbau könne die Energiewende retten, aber ist das wirklich so?Foto: iStock
Von 28. März 2024

Unser Stromnetz stößt nach jüngsten Berichten immer mehr an seine Grenzen. Wie ernst die Lage inzwischen ist, lässt sich daran erkennen, wer warnt: Waren es vor einigen Jahren einzelne Fachleute, sind es heute die Chefs der Übertragungsnetzbetreiber und der Bundesrechnungshof. Andere Akteure, hauptsächlich Unternehmen, „stimmen mit den Füßen ab“ und verlassen das Land, weil die Strompreise im Rahmen der Energiewende immer weiter und weiter steigen.

Epoch Times sprach in diesem Zusammenhang auch mit dem österreichischen Blackout- und Krisenvorsorgeexperten Herbert Saurugg. Als Major a. D. des österreichischen Bundesheeres lagen seine Hauptaufgaben im Bereich der militärischen Sicherheit, aber auch in Sensibilisierungs- und Präventionsmaßnahmen.

Saurugg hat zudem einen Studienabschluss mit Schwerpunkt „Sicherheitsforschung, kritische Infrastruktur sowie systemisches Risiko- und Krisenmanagement“. Seit 2019 ist er außerdem Präsident der Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV) und hilft Unternehmen und Interessierten sowie Gemeinden und Staatsministerien, sich und die Bevölkerung „auf das Unerwartete vorzubereiten“.

Epoch Times: Herr Saurugg, im Volksmund heißt es: „Jetzt haben wir den Salat.“ Gibt es bezogen auf die Energiewende eine einfache Lösung?

Saurugg: Kurzfristig könnte man alle noch verfügbaren fossilen Kraftwerke reaktivieren. Das ist aber nicht gewollt. Ebenso wird der Ausbau des Übertragungsnetzes als einzige mittel- bis langfristige Lösung, die hohen Kosten für Redispatch-Maßnahmen zu reduzieren, beschrieben. Diese Eingriffe sind nötig, um das Stromnetz stabil zu halten. 2023 gab es über 15.000 solcher Eingriffe. Dieses Jahr sind es bis Ende März bereits 4.200. Das ist mehr als 2014 im ganzen Jahr (3.456).

Stattdessen heißt es, nur durch den Ausbau von Leitungen und Umspannwerken könne die Energiewende erfolgreich umgesetzt werden. Aber nicht nur die Begründungen, sondern auch die Zahlen variieren je nach Verfasser. Die eigentliche Frage wird dabei jedoch geschickt vermieden: Ist dieser Netzausbau wirklich unumgänglich oder gibt es Alternativen?

Darüber wird kaum berichtet. Auch eine kritische Reflexion ist kaum wahrnehmbar. Als interessierter Laie könnte man daher schnell zu dem Schluss kommen: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“

Und was ist der Hammer in diesem Fall?

Gabriel Felbermayr fragt in einem aktuellen Bericht, wie „der Staat“ die absehbar starken Strompreiserhöhungen durch steigende Netzentgelte infolge des geplanten massiven Infrastrukturausbaus stoppen kann. [Anm. d. Red.: Gabriel Felbermayr ist ehemaliger Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Ökonom und Direktor am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien)]

Die derzeit kommunizierten Zahlen schwanken zwischen 20 und 60 Milliarden Euro allein für den Netzausbau. In Deutschland sind die Zahlen nochmals um ein Vielfaches höher. Die Kosten für die dann zusätzlich notwendigen Erzeugungsanlagen und die noch viel höheren Investitionen für die Speicherung von Strom aus volatilen – schwankenden – Erzeugungsanlagen sind darin noch gar nicht enthalten. Das ist nötig, denn Wind und Sonne sind sprichwörtlich Launen der Natur.

Ein Gesamtkonzept scheint es nicht zu geben, stattdessen wird an einzelnen Baustellen herumgedoktert. So wird die Energiewende aber weder technisch funktionieren noch bezahlbar bleiben.

Das Problem liegt also gar nicht in der Energiewende selbst, sondern in der Umsetzung?

So könnte man es sagen. Das Konzept des getrennten Denkens und Handelns, das mit der Marktliberalisierung vor mehr als 20 Jahren EU-weit eingeführt wurde, um die Kosten zu senken, hat sich voll und ganz durchgesetzt. Niemand ist wirklich für das System als Ganzes verantwortlich und jeder versucht, für seinen Bereich das Beste herauszuholen.

Dazu wurden in den vergangenen 20 Jahren die von den Vorgängergenerationen in weiser Voraussicht aufgebauten Reserven still und heimlich abgebaut und gleichzeitig gute Geschäftsergebnisse erzielt und die Kosten gesenkt. Doch langsam kommt der Zahltag – und der wird teuer. Jetzt müssen nicht nur neue Elemente auf allen Ebenen hinzugefügt werden, sondern auch die zum Teil kaputt gesparte, überalterte Infrastruktur muss gleichzeitig und schnell an die neuen Herausforderungen angepasst werden.

Um bei all dem die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, fordert die EU einen massiven Ausbau des grenzüberschreitenden Stromhandels, der zwar im Alltag zu günstigeren Ausgleichsmaßnahmen führt, aber die Störanfälligkeit des Systems nicht verringert. Der Markt hat höchste Priorität, ein systemisches Denken ist nicht erkennbar und wesentliche Nebenwirkungen werden ausgeblendet.

Aus Sicht der Netzbetreiber ist der Netzausbau selbstverständlich unverzichtbar. Hier schlägt dann das Bild von Hammer und Nagel voll zu, weil die Regulierung sehr enge Grenzen setzt. Netzbetreiber dürfen keine netzdienlichen Speicher betreiben, weil das Gesetz die Entflechtung von Stromerzeugung, -transport und -vertrieb vorsieht.

Die Angst, Netzbetreiber hätten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen und davor, dass sie Speicher nutzen könnten, um andere Unternehmen zu benachteiligen, verhindert sinnvolle Entwicklungen. Als Ergebnis wird die Regulierung des Marktes immer komplexer. Ganz nebenbei wird der Netzausbau auch noch mit sehr hohen Renditen vergütet. Ohne Risiko, denn die Kosten tragen die Endkunden.

Jetzt haben wir drei Akteure: Staat, Netzbetreiber und Endkunden. Wo liegt das Problem?

Es wäre unfair, den Netzbetreibern böse Absichten zu unterstellen. Denn auch wir alle haben unseren Anteil an der Misere, weil die wenigsten die wirklichen systemischen Zusammenhänge kennen. Wenn überhaupt, interessieren sie sich nur für den eigenen „Vorgarten“ oder besser, das eigene Dach. Es reicht aber eben nicht, eine Photovoltaikanlage zu installieren.

Für das gesamte Funktionieren braucht es dezentrale Funktionseinheiten, also Systeme, in denen Erzeugung, Speicherung und Verbrauch dezentral ausbalanciert werden können, und zwar zu möglichst jedem Zeitpunkt. Denn diese Balance muss in über 31,5 Millionen Sekunden pro Jahr sichergestellt werden können.

Für ein sektorübergreifendes Energiemanagement fehlen Lösungen und die Fähigkeit zum vernetzten Denken. Und solange dies nicht in den Köpfen angekommen ist und entsprechende Lösungsansätze fehlen – beziehungsweise diese nicht großflächig umgesetzt werden –, bleibt wohl nur ein überdimensionierter Netzausbau. Dieser wird daraufhin optimiert, praktisch jede Ausnahmesituation abfedern zu können, auch wenn diese nur für eine sehr überschaubare Anzahl von Stunden im Jahr zutrifft.

Dabei geht es vor allem darum, die in bestimmten, meist kurzen Zeiten immer größer werdenden dezentralen Stromüberschüsse abtransportieren und verteilen zu können. Dies ist die unausweichliche Folge der räumlichen Distanz zwischen Stromerzeugung und Verbrauchern.

Damit die Versorgungssicherheit garantiert bleibt, müssen gleichzeitig auch noch irgendwo zuverlässig verfügbare Ersatzerzeugungsanlagen bereitgehalten werden, die jederzeit einspringen können, um die letzten Prozente zur fehlenden „Autarkie“ ausfüllen zu können. Dafür wollen aber die Anlagenbetreiber, welche die meiste Zeit ihren eigenen Strom erzeugen, nicht bezahlen. Die benötigte Infrastruktur, um Schwankungen oder fehlende Energie ausgleichen zu können oder um Überschussstrom zu verteilen, muss trotzdem zu jeder Zeit zur Verfügung stehen, was natürlich Kosten verursacht.

Und wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?

Der Netzausbau ist ein wichtiger Teil der Energiewende, aber nicht der einzige. Eine Kombination aus verschiedenen Maßnahmen ist erforderlich, um eine sichere und vor allem eine bezahlbare Energieversorgung zu gewährleisten. Wenn wir wirklich Unabhängigkeit und Eigenverantwortung auch bei der Preisentwicklung erreichen wollen, dann brauchen wir dezentrale Funktionseinheiten, sogenannte „Energiezellen“. Das erfordert natürlich Aufwand und auch langfristige Planungs- und Investitionshorizonte.

Energiegemeinschaften sind ihrerseits keine funktionalen Energiezellen, sondern vielmehr bloße Abrechnungseinheiten. Sie dienen dazu, den gemeinschaftlichen Verbrauch und die Erzeugung von Energie zu organisieren und zu verwalten. Obwohl sie ein gutes Gewissen vermitteln können, sind sie technisch gesehen nur begrenzt systemdienlich.

Das bedeutet, wir brauchen wieder Energieversorgungsunternehmen, die diese ganzheitliche, sektorübergreifende Planung und Umsetzung realisieren und betreiben können. Zusätzlich brauchen wir viele Energiesystemmanager, die das umsetzen können. Wir brauchen nicht viele Einzelakteure und Installateure, die nur ihr Ding machen und sich für den Rest und die Zusammenhänge nicht interessieren.

Die zentrale Herausforderung der Energiewende ist nicht der Ausbau von Netzen, Erzeugungsanlagen oder Speichern, sondern ein nachhaltiges Energiemanagement mit möglichst wenig fossiler und möglichst viel erneuerbarer Energie, um eine sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung zu gewährleisten. Dafür müssen wir aber dringend bestehende Denksilos aufbrechen, und das fängt bei der Regulierung und der Ausbildung an.

Noch mal zurück zu den „Energiezellen“, was hat es damit auf sich?

Solche „Energiezellen“ erhöhen in erster Linie die Robustheit des Gesamtsystems. Denn je mehr Probleme dort gelöst werden können, wo sie entstehen, desto weniger übergreifender Aufwand ist erforderlich. Dies gilt auch für den Netzausbau. Natürlich sind auch hier Investitionen notwendig, denn in der Energiezelle muss auch geregelt und gesteuert werden, was heute praktisch nicht möglich ist, weil die notwendige Sensorik fehlt.

Eine zentrale Steuerung, wie sie im Smart-Grid-Konzept vorgesehen ist, ist aber ein absolutes No-Go. Eine zentrale Steuerung ist anfällig für Ausfälle. Versagt das zentrale System, kann dies zu erheblichen Problemen führen, da die gesamte Energieversorgung davon abhängt. Es ist regelrecht leichtsinnig, zu vernachlässigen, dass ein zentrales System ein attraktives Ziel für Hackerangriffe ist.

Die Energiewende erfordert somit ein neues Denken in Richtung einer flexiblen und dezentralen Energieversorgung. Dezentrale Steuerungssysteme ermöglichen es, erneuerbare Energiequellen effizient zu nutzen und den Energiefluss in Echtzeit anzupassen.

Wichtig ist dabei ganz besonders, dass es nicht um ein „Entweder-oder“ geht, sondern um ein „Sowohl-als-auch“. Denn wir werden auf absehbare Zeit das bisher sehr erfolgreiche zentrale System noch brauchen. Aber wir können und müssen gleichzeitig Energiezellen aufbauen, ohne das Gesamtsystem zu gefährden. Ob das mit Quartierslösungen beginnt oder ganze Regionen umfasst, ist zweitrangig. Denn wie in der Natur sind Zellen keine isolierten Einheiten, sondern miteinander verbunden und im Austausch.

Damit stellt sich die Frage: Wie wird aus dem jetzigen starren System ein flexibles?

Auch hier brauchen wir ein „Sowohl-als-auch“: Wir brauchen innovative Lösungen, die diese Zellbildung unterstützen. Wir brauchen innovative Regionen, die bereit sind, in diese Richtung mitzugehen und solche ganzheitlichen Lösungen aufzubauen, und wir brauchen auch eine innovative Ausbildungsinitiative, um vernetzt denkende und handelnde Fachleute auszubilden.

Damit das alles gelingen kann, brauchen wir jedoch vor allem eine innovative Politik und Regulierung, die genau solche Maßnahmen fordert und fördert und sich auch als möglichen Ersatz für den Netzausbau versteht. Von entscheidender Bedeutung ist die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, um sicherzustellen, dass Netzbetreiber und Energieversorger im Interesse der Gesellschaft handeln können, ohne in veraltete Monopolstrukturen zurückzufallen.

Eine ausgewogene Regulierung und eine klare Vision für die Zukunft sind unerlässlich, um den Wandel zu nachhaltigeren und effizienteren Energiesystemen zu fördern. Dabei müssen wir schnell handeln, damit uns die heutigen, wenig systemdienlichen Entwicklungen nicht in naher Zukunft um die Ohren fliegen.

Die Energiewende ist eben nicht nur eine Technikwende, sondern eine Kulturwende mit noch sehr viel Luft nach oben. Wir brauchen nicht nur technologische Innovationen, sondern auch einen grundlegenden Wandel in unserer Denkweise und unserem Verhalten.

Es geht darum, alte Selbstverständlichkeiten zu überdenken und Mut zu haben, neue Wege zu beschreiten. Oder wie Albert Einstein es ausgedrückt haben soll: „Probleme kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, die sie verursacht haben.“ Für eine funktionierende und erfolgreiche Energiewende braucht es daher neue Denkräume und Lösungen und nicht nur einen Hammer.

Vielen Dank für das Gespräch.

(Das Interview führte Tim Sumpf)



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